Читать книгу Landsby - Christine Millman - Страница 6
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ОглавлениеAn manchen Tagen fühle ich mich wie in einem Gefängnis. Einem finsteren Verlies aus dicken, unüberwindlichen Mauern. Vielleicht liegt es daran, dass ich vom Fenster meines Zimmers aus die Westmauer sehen kann, und mich immer frage, wie das Leben hinter den braungelben Steinquadern wohl sein mag. Vor allem jetzt, wo ich bald volljährig werde und der bescheuerte Gesundheitstest bevorsteht. Was ist, wenn ich eine Virusträgerin bin? Dann kann mich selbst mein Vater nicht retten, auch wenn er hundertmal der Kommandant der Neuen Armee ist.
Dann werde ich verbannt in die Welt hinter der Mauer.
Die Vorstellung macht mir eine Scheißangst. Glaubt man meinem Vater, warten da draußen zahllose Schrecken. Ich kann das nicht beurteilen, denn ich bin in der Kolonie geboren und habe diesen Ort nie verlassen, so wie alle, die nach der großen Epidemie zur Welt gekommen sind.
Seufzend blicke ich auf den Gehweg hinab. Da kommt mein Vater. Ich erkenne ihn an seinem zackigen Schritt und der aufrechten Haltung. Groß und einschüchternd wirkt er, selbst aus der Ferne. Ich eile in die Küche und sehe nach dem Essen. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ihre Pflichten übernommen. Nicht, dass ich das gewollt habe oder überhaupt gefragt worden bin, mein Vater ist einfach davon ausgegangen, dass ich fortan das tue, was meine Mutter getan hat. In seinen Augen war das sowieso nicht viel.
»Deine Mutter kann nichts«, sagte er immer, wenn sie etwas vergessen oder falsch gemacht hat. »Aber sie ist eine Augenweide. Die schönste Frau in der Kolonie.« Üblicherweise kniff er ihr anschließend in den Po oder tätschelte sie, wie einen folgsamen Hund.
Ich sehe aus wie mein Vater: sehnig und zäh, mit roten Haaren, blasser Haut und jeder Menge Sommersprossen. Mit einem lieblichen Gesicht kann ich nicht punkten. Pech für mich, denn Schönheit erleichtert vieles.
Eilig decke ich den Tisch. Ich weiß genau, wie lange mein Vater bis in den vierten Stock braucht. Als ich die Löffel auf die Stoffservietten neben die Suppenteller lege, höre ich auch schon die schweren Schritte im Flur, dann den Schlüssel im Schloss. Mein Magen krampft sich zusammen. In Gegenwart meines Vaters fühle ich mich immer, als hätte ich etwas ausgefressen. In letzter Zeit hat sich dieses Gefühl sogar verstärkt.
»Hallo Jule«, höre ich ihn sagen, bevor er in sein Schlafzimmer stapft, um sich umzuziehen. Viel mehr wird er nicht reden. Wir sprechen nur das Nötigste. Das war schon immer so, selbst als meine Mutter und mein Bruder noch lebten. Meist lief die Unterhaltung über meine Mutter. Sie war es, die die Familie zusammenhielt.
Ich nehme den Topf vom Herd und stelle ihn auf den gestreiften Häkeltopflappen, den mein Vater von einer Mission in die Außenwelt mitgebracht hat. Seltsamerweise mag ich ihn, obwohl er bunt ist - ganz im Gegensatz zu meiner Kleidung, die über die Jahre verwaschene Blau- und Grautöne angenommen hat. In der Kleiderkammer könnte ich mir Neue holen, doch ich mag nicht aussehen wie ein Pfau und bin zudem ein Gewohnheitstier und hänge an meinen Sachen. Nur dieser kreischbunte Häkeltopflappen, der hat es mir angetan.
Mein Vater kommt zum Tisch und setzt sich. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn und durch sein millimeterkurz geschorenes Haar kann ich die Kopfhaut sehen.
»Soll ich das Fenster öffnen?«, frage ich, während ich seinen Teller mit Linsensuppe fülle.
Er sieht kurz auf und nickt, meidet jedoch meinen Blick. Das miese Gefühl in meiner Magengrube verstärkt sich. »Ist was?« Die Frage soll beiläufig klingen, doch mein Inneres bebt vor Anspannung. Mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er keine Zukunftspläne für mich hätte und genau das macht mir Sorgen. Ganz bestimmt stellt er sich meine Zukunft anders vor als ich.
Vorausgesetzt ich bin gesund.
Er zuckt mit den Schultern. »Wir reden nach dem Essen, in Ordnung?«
Das ist der Beweis. Er führt etwas im Schilde und hat endlich vor damit herauszurücken. Mein Appetit hält sich entsprechend in Grenzen, deshalb würge ich den Eintopf nur widerwillig runter, aber ich esse auf, denn Nahrungsmittel sind knapp. Es wäre eine Schande, Essen zu verschwenden. Ich kratze sogar den Teller aus, auch wenn jeder Bissen nach Pappe schmeckt und mir im Hals steckenzubleiben scheint.
Nach dem Essen räume ich das schmutzige Geschirr in die Spüle, hantiere dann hektisch am Wasserhahn herum, aus dem es eher tropft als fließt. Naja. Ich sollte mich nicht beschweren. Für die meisten Koloniebewohner ist fließendes Wasser purer Luxus.
»Ich muss dir etwas mitteilen«, sagt mein Vater hinter meinem Rücken.
»Was denn?« Ich werfe einen flüchtigen Blick über die Schulter und versuche, locker zu klingen, dabei rast mein Puls, als wäre ich die Treppen hinaufgerannt.
Er deutet auf meinen Stuhl. »Setz dich. Den Spülkram machst du später.«
Beklommen nehme ich Platz. «Was ist los? Musst du auf eine Mission in die Außenwelt?« Das ist nicht abwegig und wäre definitiv das kleinere Übel. Die Mutanten versuchen immer wieder, den Vorratsspeicher zu plündern. Vielleicht hat die Neue Armee endlich Informationen über ihren Unterschlupf bekommen und will ihnen ein für alle Mal den Garaus machen.
»In zwei Wochen wirst du volljährig«, beginnt er.
Mist. Keine Mission. Es geht um mich. Sichtlich nervös fährt er sich über den Bürstenhaarschnitt. Die Falten in seinem Gesicht erscheinen mir schärfer, als hätten sie sich von einem Augenblick zum anderen tiefer in seine Haut gegraben. Die Lippen wirken noch schmaler als sonst.
Ich sage nichts. Warum auch? Dass ich achtzehn werde, weiß ich selbst und auch, dass ich dann auf den Virus und meine Zeugungsfähigkeit getestet werde. Seit Wochen denke ich an kaum etwas anderes.
»Als Kommandant der Neuen Armee trage ich große Verantwortung«, fährt mein Vater fort. Dabei sieht er mich an, als warte er auf meine Zustimmung. Natürlich gebe ich ihm recht, auch wenn ich die Sache nicht annähernd so ernst nehme wie er.
»Manchmal muss ich unangenehme Entscheidungen treffen und das Wohl der Gemeinschaft über meine persönlichen Interessen und Wünsche stellen.«
Was soll das Geschwafel? Worauf will er hinaus? »Schon klar. Aber inwiefern betrifft das mich?«
Sein Blick gefriert und richtet sich nun direkt auf mein Gesicht. Ich erschauere. So betrachtet er seine Soldaten, wenn er sich ihres absoluten Gehorsams versichern will. Der Knoten in meinem Bauch verdichtet sich zu einem harten Klumpen.
»Nachdem deine Mutter starb, habe ich dich heimlich testen lassen«, sagt er.
Ich merke, wie ich erbleiche. »Wie denn?«
»Erinnerst du dich daran, als sie dir Blut abgenommen haben, um herauszufinden, ob du dich bei ihr angesteckt hast?«
»Ja und?«
»Nach dem negativen Befund habe ich meine Beziehungen spielen lassen und ein komplettes Blutbild angeordnet.« Ein kleines Lächeln kräuselt seine Lippen. »Du bist nicht nur kerngesund, sondern gehörst scheinbar auch zu den Wenigen, die in der Lage sind, Kinder zu gebären.«
Selbstzufrieden sieht er mich an. Eine dunkle Ahnung steigt in mir empor, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln könnte. Plötzlich ist mein Mund staubtrocken und meine Hände fühlen sich an wie Eisklumpen.
»Natürlich müssen weitere Untersuchungen folgen, um sicherzugehen«, fährt er fort, »aber wenn sich die Hoffnung bestätigt, sehe ich es als deine und meine Pflicht an, dass du dich nach Beendigung deiner Schulausbildung dem Reproduktionsprogramm anschließt.«
Entsetzt starre ich ihn an. Wie lange hatte ich mich davor gefürchtet und gehofft, dass die Pläne meines Vaters nur halb so schlimm sein würden. Dass er mir eine langweilige Stelle in der Verwaltung besorgt hätte oder im Labor. Stattdessen stellt sein Plan alles in den Schatten, was ich mir ausgemalt habe.
Es fällt ihm schwer, das kann ich sehen, doch er behält seinen strengen Blick. Darin hat er Übung. »Das ist eine große Ehre, Jule. Du und ich, wir müssen ein Vorbild sein, um andere dazu zu animieren, es uns gleichzutun.«
Natürlich fährt er dieses Argument auf. Wer am Reproduktionsprogramm teilnimmt, wird geachtet und geehrt, die Familie bekommt Essensmarken und eine Wohnung in den Blocks, wo es fließendes Wasser gibt und Elektrizität. Dennoch tut es niemand gerne. Ich meine - wer hat schon Lust, sein Leben hinter den Mauern des medizinischen Zentrums zu verbringen und sich zehn Jahre lang Embryonen in die Gebärmutter pflanzen zu lassen? Ehre oder nicht - wie kann ein Vater das für seine Tochter wollen?
»Vergiss es«, wehre ich ab. »Ich mache das nicht.«
Er schiebt seinen Arm über den Tisch und nimmt meine Hand. Eine beschwichtigende, liebevolle Geste, doch sie wirkt aufgesetzt, wie eine einstudierte Choreografie. Als Nächstes kommt der verständnisvolle Blick, das Seufzen.
»Du bist in der Lage, Großes für die Kolonie zu leisten, Jule. Diese Möglichkeit darfst und wirst du nicht verschwenden.«
Er klingt freundlich aber bestimmt. Ich zucke zurück, ertrage es nicht, von ihm berührt zu werden. »Warum nicht? Niemand kann mich zwingen. Außerdem haben wir das nicht nötig. Wir haben alles, was wir brauchen.«
»Das ist richtig«, gibt er zu, »doch die Zahl der Unfruchtbaren steigt. Wir brauchen Frauen wie dich. Das weißt du.« Ein Anflug von Sorge huscht über sein Gesicht. »Da ich Mitbegründer des Reproduktionsprogramms bin, erwartet man Ergebnisse von mir. Wie könnte ich meinen Einsatz besser demonstrieren als durch deine Anmeldung?«
Aha. Daher also weht der Wind. Er steht unter Erfolgsdruck. Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust. »Ich will keine Freiwillige sein.«
»Es ist keine Frage des Wollens, sondern der Notwendigkeit. Die natürliche Geburtenrate liegt bei einem Prozent. Ohne Nachwuchs stirbt die Menschheit aus.«
Die Information ist mir nicht neu. Nicht nur mein Vater jammert über fehlenden Nachwuchs, auch in der Schule ist das Thema ausgiebig behandelt worden. Der mutierte Masernvirus, die Hitze und die verseuchten Landstriche haben die Menschheit an den Rand des Aussterbens gebracht. Aber warum sollte es meine Aufgabe sein, die Erde zu bevölkern?
»Das ist mir egal«, beharre ich. »Ich will nicht in euer blödes Zuchtprogramm.«
»Nenn es nicht so!« Seine Miene wird wieder streng. »Du musst lernen, das Wohl der Kolonie über dein Eigenes zu stellen. Wir alle müssen das. Sie werden sich gut um dich kümmern, dafür sorgen, dass du gesund bleibst und die zehn Jahre unbeschadet überstehst. Bei deiner Rückkehr wärest du eine Heldin.«
Seine Tochter die Heldin. Das hätte er gerne. Ich denke an die Frauen, die am Zuchtprogramm teilgenommen haben. Sie sind verhärmt und wirken alt und verbraucht, wie ein Gaul, den man auf den Feldern geschunden hat. Helden stelle ich mir anders vor. Wahrscheinlich hat mein Vater das bereits geplant, als er meine Blutergebnisse bekommen hat und es nicht mal für nötig befunden, mich darüber zu informieren. Warum auch? Ich bin ja nur seine Tochter, wertlos, wie meine Mutter und dazu nicht halb so gutaussehend. Meine verlorene Zukunft zieht an mir vorbei wie ein Wunschtraum, der nie in Erfüllung gehen wird. Eigentlich sollte ich einen netten Ehemann finden mit einem guten Job. Eine Wohnung, groß genug, damit meine Freundin Manja bei mir einziehen kann. Sie wohnt nämlich in der Wellblechsiedlung und dort ist es verdammt ungemütlich.
Ich fixiere meinen Vater. »Sei ehrlich, Papa, habe ich überhaupt eine Wahl?«
Er zögert, verlagert unbehaglich sein Gewicht. Das Knarzen des Stuhls dröhnt in meinen Ohren. Ich sitze und warte. Schweigend. Meine Finger verkrampfen sich ineinander.
»Nein«, gibt er schließlich zu. »Die Sache ist beschlossen.«
In meinem Kopf ist alles leer. Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf. Mein Körper fühlt sich steif an, unbeweglich, als hätte ich mich seit Ewigkeiten nicht gerührt. Die Tür zieht mich magisch an.
Raus. Ich muss hier raus.
»Wo gehst du hin?«, höre ich meinen Vater fragen.
Ich drücke die Klinke nach unten, sehe nicht zurück. »Weg.«