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Heute werde ich untersucht.

Das dafür zuständige Labor liegt im Westsektor nahe der Mauer, auf dem Gelände des medizinischen Zentrums, das meiner Schätzung nach ein Zehntel der gesamten Koloniefläche einnimmt. Der graue Betonklotz wirkt düster und bedrohlich auf mich, was meine Anspannung noch verstärkt. In der Eingangshalle hätten bestimmt fünf Wellblechhütten Platz. Bis auf ein paar grasgrüne Sessel und eine Empfangstheke aus hellem Holz ist sie jedoch leer. Welch Verschwendung von Lebensraum.

Eine kleine, blasse Frau mit unglaublich dunklen Augenringen sitzt hinter der Theke und addiert Zahlen auf einem Block.

»Hallo«, sage ich und schiebe ihr meine Vorladung hin. »Mein Name ist Jule Hoffmann. Ich habe einen Termin.«

Sie blickt auf und strahlt mich an. »Du bist eine Freiwillige. Gratuliere.« Sie zieht das Schreiben zu sich heran und studiert es eingehend. Ich frage mich, ob sie dergleichen nicht bereits hundertfach zu Gesicht bekommen hat oder ob sich meine Vorladung in irgendeiner Weise von den anderen unterscheidet.

Schließlich erhebt sie sich. »Folge mir.«

Aufgeregt wuselt sie vor mir her, grinst mich dabei immer wieder über die Schulter hinweg an. Meine Reaktion ist ein halbherziges Zucken meiner Mundwinkel, was sie mit viel Wohlwollen als Lächeln deuten darf. Im zweiten Stock öffnet sie eine Schwingtür und tritt auf einen pickligen, jungen Mann zu, der hinter einem Tisch sitzt und gelangweilt mit seinem Stuhl kippelt. Ich kenne ihn. Ein Jahr zuvor ist er noch ein Schüler gewesen. Ich glaube er heißt Theo.

Die Empfangsdame legt ihm mein Schreiben hin. »Jule Hoffmann. Sie wird getestet. Fürs Programm.«

Theo wirft einen Blick auf das Papier und hebt dann überrascht die Augenbrauen. »Du hast dich freiwillig gemeldet? Ich dachte dein Vater ist Kommandant?«

Seine Worte jagen mir einen Schreck durch den Bauch. Ja, eigentlich müsste mir ein Dasein als Gebärmaschine erspart bleiben, aber er kennt meinen Vater nicht. Für das Wohl der Kolonie und seine Karriere geht er über Leichen. Ich versuche, cool zu bleiben. »Was tut man nicht alles fürs Gemeinwohl.« Hoffentlich wirkt mein Lächeln nicht allzu gekünstelt. Er soll nicht merken, wie sehr ich es hasse, hier zu sein.

Theo betätigt einen Schalter an der Sprechanlage und meldet mich an, woraufhin ein Soldat aus einer der Türen tritt und mich herbei winkt. Die Empfangsdame schenkt mir ein letztes, aufmunterndes Lächeln.

»Hallo. Ich bin Oberst Weiß«, stellt sich der Soldat vor. Jetzt erst sehe ich das Abzeichen auf seiner Brust. Er ist tatsächlich ein Offizier. Ich wusste gar nicht, dass die auch im medizinischen Zentrum arbeiten.

»Jule Hoffmann«, murmle ich und folge ihm in den ersten Raum. Wände und Boden sind gefliest. Überall stehen Chromregale, die mit allerlei Gerätschaften bestückt sind. Skalpelle, Pinzetten, Spritzen, Phiolen, Nierenschalen, ein Blutdruckmessgerät und vieles, was ich nicht kenne.

Oberst Weiß deutet auf eine schmale Liege. »Setz dich dahin. Ich nehme dir erstmal Blut ab.«

Ich schlucke. Meine Kehle ist staubtrocken. »Wofür?«

»Für den Gentest. Keine Angst, ich habe Übung darin.«

Zögerlich nehme ich Platz und halte ihm meinen Arm hin. Geschickt wickelt er eine Art Gürtel um meinen Oberarm und zieht ihn fest.

»Mach bitte eine Faust«, sagt er.

Mit dem Zeigefinger tastet er an der Innenseite meines Armes herum und sucht eine passende Ader. Als er eine gefunden hat, desinfiziert er die Stelle, nimmt eine Nadel und führt sie in meine Vene ein. Es klappt auf Anhieb. Fasziniert beobachte ich, wie mein Blut in das Röhrchen rinnt. Dunkles, dickflüssiges Blut, das mich verrät und zu einem Leben als Gebärmaschine verbannt.

Als Oberste Weiß genug beisammenhat, immerhin drei Röhrchen voll, bittet er mich, ihm zu folgen. Ich gehorche, obwohl alles in mir abhauen will. Wir betreten einen kleinen, düsteren Raum, in dem eine Liege aus einer zweimanngroßen Röhre ragt. In der Wand neben der Tür ist ein Fenster eingelassen, hinter dem ich einen Monitor und eine Schalttafel erkennen kann.

Ich deute auf das runde Ungetüm vor mir. »Was ist das?«

»Ein Magnetresonanztomograph oder kurz MRT. Der Einzige in den fünf Kolonien.«

Na toll. Soll mich das etwa beeindrucken? »Was tut er?«

Oberst Weiß lächelt stolz. »Damit können wir sehen, ob sich dein Gehirn oder andere Organe in deinem Körper verändern, und prüfen, ob du die restriktive Form des Virus in dir trägst. Das Gerät zeigt zudem die Stabilität deiner Körpertemperatur, die Blutflussgeschwindigkeit und die Gewebeelastizität.«

Mir wird schlecht. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele Menschen wohl schon darin gelegen und anschließend erfahren haben, dass sie die chronische, langsam fortschreitende Form des MM-Virus tragen, dessen erste Symptome sich für gewöhnlich frühstens ab dem zwanzigsten Lebensjahr zeigen. In der Schule kursieren die wildesten Gerüchte darüber, wie man vor dem Test feststellen kann, ob man den MM-Virus trägt. Haarausfall, Müdigkeit, häufig auftretender Durchfall oder Sehschwäche würden auf MM hindeuten. Alles quatsch hat mein Vater gesagt. Vor dem Ausbruch der Krankheit kann man eine Infektion nur durch bildgebende Verfahren und eine Blutuntersuchung feststellen. Das Gute an dieser Form des Virus ist, dass er nicht mehr ansteckend ist, doch da die Mediziner befürchten, dass er jederzeit wieder in seine aktive, hochansteckende Form mutieren könnte, empfehlen sie die Verbannung Infizierter bereits vor Ausbruch der Krankheit.

Kurz vor Mutters Tod habe ich meinen Vater gefragt, warum es kein Heilmittel gibt, wo doch die Wissenschaftler seit einer halben Ewigkeit daran forschen. Er erklärte mir, dass es erste Erfolge gegeben habe, was einen Impfstoff betrifft, es aber zu Fehlschlägen gekommen sei. Dabei hat er ganz komisch gekuckt, irgendwie bedrückt, als würde ihn etwas quälen. Damals habe ich es darauf geschoben, dass meine Mutter und mein Bruder im Sterben lagen, doch nun bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Wer kann sagen, was wirklich in ihm vorging oder was er angestellt hat?

Oberst Weiß unterbricht meine Grübeleien. »Verhalte dich ruhig und konzentrier dich auf einen Punkt.« Er drückt mir einen roten Schalter in die Hand. »Solltest du Panik bekommen, drück’ den Knopf, doch versuche bitte, keine zu bekommen, sonst dauert es umso länger.«

Ich nicke stumm.

»Setz die Kopfhörer auf, das dämpft die Lautstärke«, fügt er hinzu.

Ich nehme die Hörer und stülpe sie über meine Ohren. Langsam fährt die Liege in das Innere der Trommel. Oberst Weiß löscht das Licht und verlässt den Raum. Es ist eng und unheimlich in dem Ding, wie in einem runden Sarg. Ich atme tief durch und kneife die Augen zu, um wenigstens gedanklich der Enge zu entfliehen.

Während ich dem lauten Tocktocktock lausche, denke ich darüber nach, wie viele Menschen schon verbannt worden sind, und frage mich, ob sie noch leben. Die Verbannung geschieht üblicherweise in aller Stille. Die Machthaber wollen Aufsehen oder Menschenaufläufe vermeiden. Schwer bewaffnete Soldaten und zwei oder drei Angehörige sind die Einzigen, die den Verbannten zum Tor begleiten. Alle anderen verschließen die Augen, wollen nicht sehen, was ihnen bevorstehen könnte, sollten sie aus irgendwelchen Gründen eine Belastung für die Kolonie werden.

Das Klopfen wechselt plötzlich zu einem nervtötenden Rattern. Erschrocken hebe ich den Kopf und versuche, zu lokalisieren, woher der Laut kommt.

»Bitte nicht bewegen, sonst muss ich die Sequenz wiederholen«, dringt Oberst Weiß’ Stimme in mein Ohr.

Ich atme tief durch und versuche, mich zu entspannen. Eine halbe Ewigkeit liege ich in der Trommel, lausche den wechselnden Lauten und stellte mir vor, welche Abartigkeiten Oberst Weiß auf seinem Monitor erkennen mag. Der Gedanke schenkt mir Hoffnung, denn sollte er eine Anomalie entdecken, bliebe mir wenigstens das Reproduktionsprogramm erspart.

Schweiß bricht mir aus allen Poren. Wann ist diese elende Prozedur endlich vorüber? Ich unterdrücke den Impuls, mir die Kopfhörer herunterzureißen, den Notknopf zu drücken und zu brüllen, sie sollen mich doch lieber verbannen, als mich mit ihren gruseligen Geräten zu quälen.

Wie auf Kommando verstummt das Rattern abrupt. Ein leises Summen erklingt und die Liege fährt nach draußen. Theo erwartet mich. Er nickt Richtung Tür. »Oberst Weiß wertet die Ergebnisse aus und gibt dir dann bescheid. Du sollst im Flur warten.«

Ich versuche, etwas aus seinem Gesicht zu lesen. Wirkt er nervös? Betroffen? Mitleidig? Doch seine Miene bleibt undurchdringlich. Bestimmt hat er das geübt, damit die Leute nicht schon vor der Diagnose in Panik verfallen.

»Wie sieht es aus? Weißt du schon was?«, frage ich hoffnungsvoll.

Er schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

Im Flur erwartet mich eine Frau in einem weißen Kittel. »Bist du Jule?«

Ich nicke. Sie mustert mich streng, während sie mir zu meiner Entscheidung gratuliert und sich als Dr. Schneider vorstellt. Dann führt sie mich in einen Raum, in dem ein gynäkologischer Untersuchungsstuhl steht. Ich stocke.

»Keine Angst, wir machen nur einen Ultraschall und nehmen einen Abstrich. Zur Sicherheit.«

Ihre Worte beruhigen mich nicht. Im Gegenteil. Ihre emotionslose Stimme und die Tatsache, dass sie mich beim Sprechen nicht ansieht, verunsichert mich. Sie nimmt auf einem Rollhocker platz und deutet auf den Stuhl. Widerwillig schiebe ich mich auf die Sitzfläche, bleibe aber am Rand, damit ich abspringen kann, sollte die Sache unangenehm werden.

»Leg dich bitte zurück. Mach die Hose auf und schieb dein Shirt hoch«, bittet sie mich. »Keine Sorge. Das tut nicht weh.«

Ich gehorche und hasse sie dafür. Die Ultraschalluntersuchung ist nicht schlimm, das weiß ich, aber ich fühle mich dabei wie eine Laborratte. Insgeheim hoffe ich, dass sie etwas entdeckt. Einen fetten Tumor oder verkümmerte Eileiter. Irgendwas, das dafür sorgt, dass ich keine Kinder bekommen kann. Könnten die Blutergebnisse vor fünf Jahren nicht ein Irrtum gewesen sein?

»Sieht alles sehr gut aus«, sagt Dr. Schneider. Ein Hauch Euphorie schwingt in ihrer Stimme mit. »Jetzt mach dich unten frei. Für den Abstrich,« fügt sie hinzu, als sie mein Zögern bemerkt. Ich bekomme kein Wort heraus. Nichts ist mehr übrig von der aufsässigen Jule.

»Bist du sexuell aktiv?«, fragt sie, während ich die Hose abstreife. Ich spüre, wie ich erröte, und schüttle den Kopf. Sie notiert etwas auf ihrem Klemmbrett.

»Hattest du bereits Geschlechtsverkehr?«

Ich nicke. Ab und zu mit Paul, im Lauf unserer Zauberpilz umnebelten Nächte. Aber das erzähle ich Dr. Schneider natürlich nicht. Selbst Paul und ich sprechen nie darüber, weil wir unsere Freundschaft nicht gefährden wollen, denn wer Sex hat, ist meistens auch verliebt, oder? Ich warte auf Dr. Schneiders vorwurfsvollen Blick, auf die Bestätigung, dass sie lieber ein jungfräuliches Versuchsobjekt hätte. Doch ihre Miene bleibt undurchdringlich.

Als die Untersuchung zu Ende ist, hocke ich mich auf einen grünen Plastikklappstuhl in den Flur und warte. Und warte. Die Minuten tröpfeln dahin. Ab und zu läuft ein weiß gekleideter Mitarbeiter vorbei und nickt mir freundlich lächelnd zu. Meine letzte Hoffnung ruht auf dem MRT. Lieber möchte ich mit einem entarteten Organ leben als eine Gebärmaschine werden. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass es so lange dauert? Langsam kehrt im Gebäude Ruhe ein. Bis auf Theo, der offensichtlich gelangweilt mit seinem Stuhl kippelt, und zwei Soldaten, die sich neben der Eingangstür postiert haben, ist niemand mehr zu sehen. Die Soldaten sind bei meinem Eintreffen noch nicht da gewesen und in mir wächst der Verdacht, dass sie wegen mir gerufen worden sind. Damit ich nicht abhaue.

Meine Fersen pochen nervös auf das Linoleum. Tacktacktack, wie der MRT, nur leiser.

Die Soldaten an der Tür starren an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Ein Faden, der aus dem Saum meines Shirts ragt, dient meinen Fingern als Beschäftigung. Ich drehe und rollte ihn, ziehe ihn immer weiter heraus. Wenn ich so weitermache, kann ich das T-Shirt wegschmeißen.

»Jule?« Oberst Weiß Stimme schreckt mich auf.

Ich zucke hoch. »Ja?«

»Du kannst jetzt kommen.«

Ich schieße vom Stuhl und stürme ihm nach. Nur einen winzigen genetischen Defekt, mehr brauche ich nicht. Hauptsache genug, um mich für das Reproduktionsprogramm zu disqualifizieren.

»Bitte setz dich.« Er deutet auf einen Klappstuhl neben dem Tisch mit dem Monitor. Darauf ist in mehreren Aufnahmen ein plastischer Mensch zu sehen in Schwarz-Weiß. Eine Aufnahme zeigt die Organe, eine andere die Adern und das Dritte die Knochen. Dann gibt es noch ein Bild vom Schädel samt Gehirn.

»Bin ich das?«, frage ich.

Er nickt. So wie er strahlt, scheint alles in Ordnung zu sein. Egal, ich will es endlich wissen. »Und? Wie sieht’s aus?«

»Du bist kerngesund. Keine Anzeichen für das Vorhandensein des MM-Virus und auch keine anderen Erkrankungen. Deinem Einsatz für die Kolonie steht nichts mehr im Weg.«

Wie er das sagt. Als würde er etwas Tolles verkünden. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern könnte. Nicht mal ein falsches Lächeln bekomme ich hin. Er ignoriert meine mangelnde Begeisterung, kramt ein paar Zettel aus einer Schublade unter dem Tisch und reicht sie mir. »Normalerweise geben wir den Vertrag erst bei der Aufnahme heraus, doch ich denke, es kann nicht schaden, wenn du ihn vorab sorgfältig durchliest.«

Sprachlos nehme ich die Zettel entgegen, wie betäubt von seinen Worten. Das Reproduktionsprogramm. Niemals hätte ich gedacht, dass ich daran teilnehmen werde. Ich gehöre nicht zu den Aufopfernden, den Mutigen, den Helden und für Kinder fühle ich mich sowieso viel zu jung. Plötzlich will ich nur noch raus hier. »Kann ich jetzt gehen?«

»Ja. Für heute sind wir fertig. Wir sehen uns in einer Woche.«

Eine Woche. Meine Galgenfrist. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf mein transparentes Selbst auf dem Monitor und verlasse den Raum. Theo hält beim Kippeln inne, schaut kurz auf und hält grinsend den Daumen hoch.

»Wir sehn uns«, sagt er.

Die Soldaten stehen noch da, doch wie zuvor beachten sie mich nicht. Beim Vorbeigehen fällt mir auf, wie riesig sie sind, bestimmt anderthalb Köpfe größer als ich. Unheimlich.

Vor dem Haupteingang des medizinischen Zentrums halte ich einen Moment inne. Die Sonne steht hoch am Himmel, heißer Wind bläst mir ins Gesicht. Der Vertrag klebt an meinen schweißfeuchten Fingern. Am liebsten würde ich ihn wegwerfen. Ich blicke zur Mauer und überlege, wie es wäre, diesen Ort zu verlassen. Einfach fortzugehen und eine bessere Welt zu suchen. Kann es das überhaupt geben? Eine bessere Welt? Oder ist die Kolonie das Beste, zu was die letzten Menschen fähig sind? Gibt es dort draußen wirklich nichts als Mutanten und Verbannte, die ihr armseliges und kurzes Leben fristen, dazu verdammt, zu hungern und zu dursten, bis Krankheit oder ein gewaltsamer Tod ihr Dasein beenden?

Träge setze ich mich in Bewegung, verlasse das Gelände und laufe zum Marktplatz, der heute glücklicherweise geschlossen ist. Einen Menschenauflauf kann ich nicht gebrauchen. Eigentlich will ich mich mit Manja treffen, doch der Wunsch, alleine zu sein um meine Gedanken zu ordnen führt mich in die entgegengesetzte Richtung zum Fluss. Auf der alten Schnellstraße spaziert nur selten jemand herum, weil der Asphalt an vielen Stellen aufgeworfen und mit trockenen Wüstengrasbüscheln bewachsen ist, und so habe ich das Ufer dahinter ganz für mich alleine. Ziellos arbeite ich mich durch Sand, Steine und Gestrüpp. Am alten Bootssteg halte ich inne. Vorsichtig balanciere ich über die morschen Bretter, setze mich an den Rand und ziehe die Sandalen aus. Das kühle Wasser umschmeichelt meine Füße. Die Mittagssonne brennt auf meinen Nacken und treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich stoße einen Seufzer aus, nehme den Vertrag hoch und beginne zu lesen.

Auf dem Deckblatt ist eine Rede des Ratsvorsitzenden abgedruckt, in der er mir zu meiner Entscheidung gratuliert und betont, wie heldenhaft und wichtig mein Einsatz für den Erhalt der Kolonie ist. Die zweite Seite befasst sich mit den Vorteilen und Privilegien, die eine Teilnahme am Programm mit sich bringen. Lebenslanges Bleiberecht, medizinische Versorgung und extra Essensrationen für die Angehörigen. Beruflicher Aufstieg. Ansehen. Geld. Erst auf der dritten Seite beginnen die Regeln.

Den Teilnehmern des Reproduktionsprogramms ist der Kontakt zu Familie und Freunden untersagt, bis das Programm beendet ist.

Das ist allgemein bekannt, es schwarz auf weiß zu lesen versetzt mir dennoch einen Stich. In meinen Augen ist das eine bescheuerte Regel. Was hat es für einen Sinn, die Probanden von ihren Liebsten zu trennen? Verstärkt das nicht das Gefühl der Einsamkeit?

Ich lese weiter.

Es ist verboten, über die Untersuchungen und Eingriffe mit Außenstehenden und anderen Probanden zu sprechen. Der Proband darf sich keinen schädigenden Einflüssen aussetzen, das beinhaltet Drogen, Alkohol und den Verzehr von giftigen Substanzen.

Adieu Zauberpilze.

Mit erfolgreicher Implantation eines Embryos verpflichtet sich der Proband zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, inklusive Bluttests und den vom medizinischen Personal für nötig befundenen Eingriffen. Bei Misserfolg verpflichtet sich der Proband zu mindestens vier Implantationen im Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren.

Ich lasse den Vertrag sinken. Die Regeln überraschen mich nicht, aber sie geben mir auch nicht gerade das Gefühl zu einer Heldin zu werden. Eher zu einer Zuchtstute. Ich habe mir immer vorgestellt, eine gut bezahlte Anstellung und einen Freund zu finden und mit ihm in ein eigenes Zuhause zu ziehen, in eine Wohnung mit fließendem Wasser und einem Ofen. Weg von meinem Vater. Kinder kommen in dieser Planung gar nicht vor.

Auf der vierten Seite wird der Ablauf erklärt. Mir schwirrt der Kopf von Worten wie Zyklusbestimmung, hormonelle Stimulation der Eierstöcke, Eizellenentnahme, Kryokonservierung und Insemination. Zum Schluss kommt ein kurzer Abschnitt über genetische Aufarbeitung embryonaler Stammzellen, den ich nicht kapiere. Für mich klingt es, als würden sie an den Embryonen herumpfuschen. Sie verändern. Aber warum sollten sie das tun? Wegen des MM-Virus? Um die Gefahr von Mutationen zu verringern? Vergeblich suche ich Informationen über die Risiken.

Auf der Rückseite des letzten Blattes entdecke ich eine Erklärung, die ich gesondert unterzeichnen soll. Mit meiner Unterschrift trete ich alle Ansprüche auf die Kinder ab, die ich durch die künstliche Befruchtung gebäre. Niemals werde ich ihnen eine Mutter sein, weder erfahre ich, wo sie sind, noch was mit ihnen passiert. Wer zieht sie groß? Wo wohnen sie?

Ich lasse das Blatt sinken. Meine Hände zittern. Tausend Fragen purzeln in meinem Kopf herum. Allen voran die Frage, ob ich nicht lieber abhauen soll. Kann ich zehn Jahre oder länger in einem Gefängnis leben? Abgeschottet von der Welt? Andauernd auf irgendeinem Untersuchungstisch liegend, wo Mediziner versuchen, mir einen lebensfähigen Embryo einzupflanzen? Wie kann mein Vater das nur von mir verlangen? Gibt es nicht genug Freiwillige, die nach Ruhm und Ehre und materiellen Gütern lechzen?

Den gesamten Nachmittag sitze ich da und starre auf das Wasser, beobachte, wie die Wellen über das Ufer schwappen. Das leise Platschen beruhigt mich und macht mich zugleich traurig. Den Fluss werde ich ebenso wenig zu Gesicht bekommen wie meine Freunde. Ich sollte stolz sein und mich freuen über den Beitrag, den ich leisten kann, doch viel lieber würde ich heulen und mich irgendwo verkriechen.

Als ich in der Ferne ein Boot erblicke, das aus einer der anderen Kolonien kommt, erhebe ich mich und gehe nach Hause. Vater wartet bereits auf mich. Sobald ich die Tür öffne, springt er auf und eilt mir entgegen.

»Jule, endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Wie ist es gelaufen?«

»Gut«, lautet meine einsilbige Antwort. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schiebe ich mich an ihm vorbei. Ich glaube ihm nicht, dass er nicht weiß, wie es gelaufen ist. Sicher hat er seine Spitzel. Oberst Weiß oder die Soldaten vor der Tür.

»Jule.« Er fasst nach meinem Arm und hält mich fest. »Nun lauf doch nicht weg.«

Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Den ganzen Nachmittag habe ich darauf gewartet und jetzt, wo ich die Heulerei gar nicht gebrauchen kann, fängt es an. Verdammt.

Energisch reiße ich mich los. »Bestimmt bekommst du einen Bonus für jede erfolgreiche Schwangerschaft oder eine Beförderung.« Meine Worte sollen sarkastisch klingen, doch der weinerliche Unterton ist deutlich herauszuhören. Das ärgert mich.

»Jule, bitte. Hör auf damit!«

Ich fahre herum und blitze ihn zornig an. Eine Träne stiehlt sich aus meinem Auge, vielleicht auch zwei. »Womit denn?«

»Mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich tue, was getan werden muss. Für uns. Für die Kolonie. Warum siehst du nicht, welche Ehre es ist, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen?«

Ich habe keine Lust, über das verdammte Wohl der Kolonie zu diskutieren, das ist mir nämlich völlig egal. Ich will ihm auch nicht erklären, wie sehr es schmerzt, dass er mich verhökert wie einen Sack Kartoffeln. Zum Wohle der Kolonie, das ich nicht lache. Ihm geht es doch nur um seine Karriere. Wenn seine Tochter eine Handvoll gesunder, kräftiger Säuglinge zur Welt bringt, kommt das bei der Führungsspitze bestimmt gut an.

»Ich will keine Scheiß Gebärmaschine sein«, brülle ich, »und die Kolonie ist mir schon lange scheißegal.«

Ich schüttle seine Hand ab, stürme in mein Zimmer und knalle die Tür zu. Schluchzend werfe ich mich aufs Bett und schluchze ich in mein Kissen, bis es überall nasse Flecken hat.

Eine Stunde später, ich habe noch immer nicht aufgehört zu weinen, klopft es an der Tür. »Jule?«

Manja. Ich ziehe die Nase hoch und trockne meine Wangen mit dem Handrücken. Meine Augen fühlen sich geschwollen an und brennen. Bestimmt sehe ich total verheult aus. »Was willst du hier?«

Sie öffnet die Tür und mustert mich kurz, verliert aber kein Wort über meinen Zustand. »Komm. Wir gehen zum Wasserturm.«


Paul hat Schmalzbrote mitgebracht und Manja eine Handvoll Zauberpilze. Wir sitzen auf dem Wasserturm und lassen die nackten Füße baumeln.

»Scheiße Jule«, sagt Manja zum gefühlt hundertsten Mal. Sie kann es nicht fassen, dass ich am Programm teilnehmen werde. Mehr als scheiße fällt ihr allerdings nicht dazu ein.

Paul ergreift meine Hand. »Sieh es als Pflicht und als Ehre. Du wirst eine Heldin sein.«

Ich schnaube. »Du klingst wie mein Vater.«

Paul seufzt. »Tut mir leid, aber was hast du für eine Wahl? Die Entscheidung ist getroffen.«

»Sie hat eine Wahl«, faucht Manja.

»Hör auf, sie aufzustacheln«, entgegnet Paul. »Was sind denn schon zehn Jahre? Die vergehen wie im Flug und dann hast du ausgesorgt und bist frei und hast zudem noch etwas Gutes getan.«

»Sie machen sie zu einer Gebärmaschine, du Idiot«, schimpft Manja. »Und verkaufen es als große Ehre. Die anderen mögen darauf reinfallen, doch mir können die nichts vormachen. Das Programm ist Sklaverei.«

Nach meiner Meinung fragt keiner. Glücklicherweise beginnen die Pilze, zu wirken und die Welt wird leichter. Manja steht auf und verschwindet in der Dunkelheit. Sie wirkt unglaublich wütend. Viel wütender als ich. Mir bleibt keine Zeit, ihren Gemütszustand zu ergründen, denn plötzlich zieht Paul mich an sich und presst seine Lippen auf meine. Zuerst erschrecke ich und versteife mich, doch dann lasse ich es zu, weil es sich gut anfühlt. Weil es mich vergessen lässt, was mich erwartet. Seine Zunge stiehlt sich in meinen Mund und ich schlinge die Arme um seinen Hals und presse mich an ihn. Die Pilze enthemmen mich. Erst als er unter mein T-Shirt tastet, schiebe ich ihn zurück.

»Nicht vor Manja«, wispere ich und nicke in die Dunkelheit hinter mir.

Zärtlich streicht er über meine Wange und schiebt eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Er sieht traurig aus. »Wir hätten es miteinander versuchen sollen.«

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Jetzt bloß nicht sentimental werden, sonst fange ich trotz der Pilze an zu heulen. »Dafür ist es zu spät.« Ich wende mich ab und lasse meinen Blick über das Land schweifen. Jede Einzelheit nehme ich in mir auf. Das Glitzern des Flusses in der Ferne, den staubigen Boden, die farblosen Häuser. Vor wenigen Tagen erschien mir die Kolonie noch wie ein Gefängnis, doch bald werde ich für sehr lange Zeit nur noch die Mauern des medizinischen Zentrums sehen und wirklich eine Gefangene sein. Eine Laborratte in einem Käfig.

Irgendwann kommt Manja zurück, hockt sich neben mich und starrt in den sternenübersäten Himmel. Sie wirkt hart und entschlossen. »Wenn du in das Programm gehst, dann verlasse ich dieses Drecksloch.«

»Du spinnst doch«, stoße ich hervor.

Sie zuckt mit den Schultern. »Die Außenwelt kann kaum beschissener sein als das hier. Ich habe es so satt. Die Unsicherheit, die Angst davor, krank zu werden oder keine Arbeit zu kriegen. Die tausend Regeln.«

Ich will etwas sagen, irgendetwas, um sie von dieser fixen Idee abzubringen, aber mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist gefüllt mit dem Sternenhimmel und Pauls Kuss, der anders war als die Küsse, die wir zuvor ausgetauscht hatten.

Wir sprechen nicht viel in dieser Nacht. Die Pilze bringen Erleichterung und lassen das Leben weniger düster erscheinen, doch durch die leuchtenden Farben meines drogenumnebelten Gehirns schimmern dunkle Wolken hindurch, die einfach nicht verschwinden wollen.

Landsby

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