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ОглавлениеIch laufe ohne Ziel, habe keine Ahnung, wohin mich meine Füße tragen. Erst als ich die Brücke am Fluss überquere und in der Ferne die Wellblechhütten auftauchen, wird mir klar, dass ich mich auf den nördlichen Sektor zubewege. Das Grün wird spärlicher, verschwindet zwischen Staub, Steinen und trockener Erde. Die Hütten liegen ungeschützt auf einer flachen Ebene. Nicht mal Wüstengras wächst hier. Der Anblick der mit Wellblech gedeckten, windschiefen Behausungen, die wie ausgemusterte Soldaten in einer langen Reihe stehen, entspricht meiner Stimmung: trostlos. Es ist mir ein Rätsel wie Menschen so leben können. Immer noch besser, als in die Außenwelt verbannt zu werden, sagt mein Freund Paul stets, obwohl er in letzter Zeit nicht mehr so überzeugend klingt wie noch vor ein paar Jahren.
Zielstrebig bahne ich mir einen Weg durch das Hüttengewirr. Menschen sitzen unter auf Pfähle gespannte Plastikplanen, die Schatten spenden sollen, aber unter denen es sicher unvorstellbar heiß ist. Viele hier haben keinen Job und sind auf Mildtätigkeit angewiesen. Manche schicken ihre Kinder zur Neuen Armee oder ins Seuchenzentrum außerhalb der Kolonie, wo sie irgendeiner geheimnisvollen Arbeit nachgehen. Kranke zu pflegen kann es nicht sein - seit Jahren gibt es keine Infizierten mehr. Niemand weiß, was sie dort tun und die Angestellten sprechen nicht darüber, dafür sorgt die großzügige Entlohnung. Auch wer eine reproduktionsfähige Tochter oder einen zeugungsfähigen Sohn hat, und sie dem Programm überlässt, schafft es hier raus. Fruchtbare Frauen werden umschmeichelt und hofiert, damit sie freiwillig teilnehmen und viele tun es tatsächlich gerne. Völlig unverständlich für mich. Scheinbar ist mein Gemeinschaftssinn nicht allzu ausgeprägt oder ich bin nicht arm genug.
Die Hütte, in der meine Freundin Manja wohnt, ist genauso armselig und farblos wie alle anderen und Manja sieht aus wie ein Junge. Drahtig und flachbrüstig, mit kurzen, aschblonden Haaren und kantigem Gesicht. Paul, unser Freund aus dem Westsektor, ist bei ihr. Sie stehen vor der Hütte und schrauben an einem rostigen Mofa herum. Die Füße stecken in dünnen Zehensandalen und sind staubig und geschunden. Ich kann nicht erklären, warum, aber in dem Augenblick beschließe ich, ihnen nichts von den Plänen meines Vaters zu erzählen. Von jeher steht Manja dem System kritisch gegenüber, sie würde mich dazu drängen, die Teilnahme zu verweigern.
»Hey Sommersprosse«, begrüßt Manja mich. »Mit dir habe ich gar nicht mehr gerechnet.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich wollte raus.«
Manja verdreht die Augen und deutet auf die Wellblechhütten. »Wem sagst du das.«
Wie üblich spüre ich einen Anflug von schlechtem Gewissen angesichts Manjas Lebenssituation, doch im Gegensatz zu sonst unterdrücke ich es nicht. Dass es anderen wesentlich schlechter geht als mir, lässt meine eigenen Sorgen schrumpfen. Wenigstens muss meine Freundin nicht ins Zuchtprogramm. Fünf Wochen zuvor ist sie achtzehn geworden und hat die Tests bereits hinter sich. Sie wird nicht müde, darüber zu reden, wie demütigend sie es fand, durchgecheckt zu werden wie ein Stück Vieh. Paul ist neunzehn und wurde vor einem Jahr für bedingt zeugungsfähig befunden, was bedeutet, dass ihn die Regierung im Auge behält und erwartet, dass er versucht, Nachwuchs zu zeugen. Dafür hat er eine Liste mit p,assenden Partnerinnen bekommen, damit er sein Potenzial nicht an eine Unfruchtbare verschwendet. Er gibt sich Mühe, das muss ich ihm lassen, bisher jedoch ohne Erfolg.
»Das Kind, das letzte Woche geboren worden ist, ist gestorben«, sagt Paul zu mir. »Zuerst wirkte es gesund, doch seine Organe funktionierten nicht richtig. Keine Ahnung warum. Hast du das gewusst?«
Komisch. Warum schneidet er das Thema gerade jetzt an? Als wüsste er von der Unterredung mit meinem Vater oder könnte Gedanken lesen. Ich schüttle den Kopf. »Mein Vater informiert mich nicht über Misserfolge.«
Schnaubend wischt Manja sich mit einer ölverschmierten Hand über die Wange und hinterlässt einen schwarzbraunen Streifen. »Typisch für ihn. Man kann die Natur nicht austricksen. Wenn wir aussterben sollen, dann werden wir das. Da können die gar nichts gegen machen.«
»Was habt ihr mit dem Mofa vor?«, frage ich, obwohl ich es natürlich sehe. Ich will einfach nur das Thema wechseln, bevor ich noch mit meinem Elend herausplatze.
»Zum Laufen bringen«, antwortet Paul. Er beugt sich vor und greift nach dem Schraubenschlüssel. Blonde Haarsträhnen fallen in seine Stirn.
»Bald haben wir‘s. Es startet schon«, fügt Manja hinzu und betätigt die Zündung. Das Ding knattert und hustet dunklen Rauch aus, dann springt es tatsächlich an.
»Ich bin beeindruckt«, lobe ich, werfe einen Blick in die Runde und beuge mich näher. »Habt ihr Pilze?«
Manja legt den Finger an die Lippen. Paul sieht sich hektisch um. Niemand ist in der Nähe, die meisten sitzen beim Abendessen. Ein paar Soldaten der Neuen Armee patrouillieren am Rand der Wellblechsiedlung, doch sie sind zu weit entfernt, um uns zu hören.
»Manja hat das Zeug beim Wasserturm versteckt«, flüstert er. »Wenn wir hier fertig sind, können wir einen Abstecher machen.«
Ich halte den Daumen hoch, um meine Zustimmung zu signalisieren. Der Tag ist so beschissen, dass ich einen kleinen Trip gut gebrauchen kann.
Mit einem Stottern und Husten säuft der Motor des Mofas ab. Manja stößt einen unwilligen Laut aus und wischt ihre Hände an einem Lappen ab, der nicht so aussieht, als würde er noch irgendwas reinigen, ölverschmiert, wie er ist.
»Vielleicht solltest du dir lieber die Hände waschen«, schlage ich vor.
Manja zuckt mit den Schultern. Wasser und Seife gehören definitiv nicht zu den Dingen, denen sie besondere Bedeutung beimisst.
Seit dem großen Sterben wird der Wasserturm nicht mehr genutzt. Paul behauptet, er sei mindestens zweihundertfünfzig Jahre alt. Wenn das stimmt, hat das Ding sich gut gehalten. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue nach oben. Kaum vorstellbar, dass der riesige, stählerne Behälter an der Spitze des Turmes irgendwann tatsächlich gefüllt war. Dass es eine Zeit gab, in der Wasser in Hülle und Fülle vorhanden war.
Hintereinander klettern wir die schmale Leiter hinauf. Rost bröselt auf meinen Kopf, den Manja über mir mit ihren Füßen löst. Ich drehe das Gesicht weg, vermeide aber zugleich, nach unten zu sehen. Die Höhe ist mir nicht geheuer. Auf dem Steg, der um den Wasserbehälter herumführt, hocken wir uns schließlich hin. Ich schiebe meine Beine durch die Streben am Geländer und lasse sie baumeln. Manja zieht die Tüte mit Zauberpilzen aus der Hosentasche und hält sie mir hin.
Ich fische ein Stück heraus und drehe es in meinen Fingern. Es ist schrumplig und braun und sieht nicht besonders appetitlich aus, aber es verschafft mir ein paar unbeschwerte Stunden. »Woher hast du die?«
»Woher schon? Von meinem Bruder natürlich«, sagt sie grinsend.
Manjas Bruder Lenno arbeitet in den Ställen bei den Viehherden. Nicht gerade ein Traum, aber auf der Weide, in dunkler, vom Urin der Rinder getränkter Erde, wachsen die Pilze. Ich stecke mir das Stück in den Mund und zerkaue es langsam. Es schmeckt ein wenig bitter und modrig, als hätte es in einem feuchten Keller gelegen. »Wollte er nicht wechseln?«, frage ich.
Manja zuckt mit den Schultern. »Er hat sich‘s anders überlegt. Die Pilze sind eine gute Nebeneinnahme.« Sie sagt das leichthin, als wäre es nichts Besonderes, aber wir beide wissen, dass es das sehr wohl ist. Ihr Bruder schöpft sein Potenzial nicht aus, weil er das Geld braucht, das er für die Pilze bekommt. Damit bringt er die gesamte Familie durch.
»Hat er keine Angst, erwischt zu werden?«, fragt Paul.
Ich rolle mit den Augen. Paul ist der Gesetzestreue von uns, derjenige, der sich immer an die Regeln hält. Okay, fast immer. Zauberpilze zu essen ist definitiv verboten und er tut es trotzdem - dank unseres schlechten Einflusses. Aber im Gegensatz zum Handel mit Pilzen wird der Genuss nicht mit Verbannung bestraft.
Manja lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Pilze beginnen, zu wirken. »Na wenn schon?«, seufzt sie versonnen. »Vielleicht ist die Außenwelt gar nicht so übel. Man ist frei, ohne diese Idioten von der Neuen Armee.«
»Aber auch ohne Schutz und medizinische Versorgung, ohne Essen und Trinken und Kleidung. Da draußen kämpfst du ums Überleben«, entgegnet Paul.
Ein Gedanke schält sich aus den Tiefen meines Unterbewusstseins. »Ich weiß nicht. So viele Menschen sind verbannt worden, vielleicht haben sie eine neue Zivilisation gegründet und wir wissen es nicht, weil wir hinter dieser Mauer hocken und uns nicht rausgetrauen. Irgendjemand da draußen tut sich jedenfalls zusammen, sonst könnten sie nicht unsere Vorratsspeicher überfallen.«
Paul zuckt mit den Schultern. »Das sind hauptsächlich Mutanten. Mein Vater sagt, die Verbannten überleben keine zwei Jahre. Entweder macht die Außenwelt sie fertig oder die Mutanten. Die sind wie wilde Tiere.«
»Wilde Tiere kann man zähmen«, sage ich.
»Oder töten«, fügt Manja hinzu.
Paul schnaubt. »Die sind aber schlauer und das macht sie gefährlich.«
Das Thema Mutanten nervt mich. Außerdem ist mir schwindlig. Ich lehne mich gegen das kühle Metall des Wasserbehälters und schaue zu den Sternen hinauf. Sie flimmern, dehnen sich aus, strahlen auf mich hinab wie winzige Sonnen. Das Leuchten überschwemmt meine Sinne, bis ich an nichts anderes mehr denken kann, als die unendliche Weite über mir. »Wir sollten expandieren«, sage ich.
»Hä?«, macht Manja.
Ich strecke die Arme Richtung Nachthimmel und greife nach dem Leuchten, beobachte, wie sich das Sternenlicht an meinen Fingerspitzen sammelt und über meine Hände fließt. »Wenn wir alle Kinder bekommen, dehnen wir uns aus, werden größer und größer wie ein Ballon. Ein Ballon aus menschlichen Leibern.«
»Bis wir platzen«, sagt Paul.
Manja lacht und ich falle in ihr Lachen mit ein.
Der Himmel wirkt verzerrt und wölbt sich über mir wie eine riesige Kuppel, deren Anfang und Ende ich nicht ermessen kann. »Ich muss mich vermehren«, flüstere ich. Meine Zunge ist seltsam schwer. »Bis ich allein die ganze Erde bevölkert habe.«
Paul legt sich auf den Rücken und bettet den Kopf in meinen Schoß. »Soll ich dir dabei helfen?«
Grinsend streichle ich über sein blondes Haar. Es schimmert golden im Licht des Mondes. Sein Gesicht leuchtet wie die Sterne, die blauen Augen verschwimmen zu einem dunklen Fleck auf seiner Stirn.
»Du bist so schön«, stelle ich fest, während ich mir eine Strähne seines Haares um den Finger wickle. Mit den Fingerspitzen ertastet er mein Gesicht. Es kitzelt, als würden Ameisen über meine Haut krabbeln.
Manja neben mir erhebt sich und beugt sich über das Geländer. »Ich steh auf Frauen«, schreit sie. Ich kichere, während Pauls Ameisenfinger noch immer meine Wange streicheln.
Manja dreht sich zu mir um. »Ich liebe dich Jule.«
Irgendwo in den Tiefen meines Gehirns weiß ich, dass sie mir gerade etwas Bedeutsames gesagt hat, doch mein Zauberpilz umnebelter Geist fügt es nahtlos in die leuchtenden Gedanken und Bilder in meinem Kopf.
»Ich liebe euch alle beide«, sage ich und meine es auch so. Paul, Manja und ich sind wie die göttliche Dreieinigkeit. Inkarnationen des Lichts.
Manja breitet die Arme aus und lehnt sich rückwärts, den Kopf so weit es geht in den Nacken gelegt. Es sieht aus, als würde sie jeden Moment nach hinten kippen. Ich schiebe Paul von meinem Schoß, stehe auf und stelle mich neben sie.
»Fühlst du es?«, fragt sie.
Ich nicke, breite ebenfalls die Arme aus und lege den Kopf in den Nacken. Die Höhe macht mir nicht mehr das Geringste aus. Das Geländer drückt gegen meinen Rücken, warmer Wind streichelt mein Gesicht und wirbelt meine Haare auf. Paul schiebt sich zwischen uns. Er lacht und mir fällt auf, wie ebenmäßig seine Zähne sind. Und weiß. Mit was er wohl die Zähne putzt? Zahnpaste ist ein seltenes Gut in der Kolonie.
»Ich gehe nicht ins Zuchtprogramm«, sage ich. Die Worte strömen einfach so aus mir heraus.
Manja und Paul sehen mich verwirrt an.
»Was?«, sagt Manja.
Ich richte mich auf, stoße mich vom Geländer ab und lasse mich zu Boden sinken. »Ach nichts.«
Meine Freunde folgen mir, gemeinsam bilden wir ein Knäuel aus Gliedmaßen. Manjas Gesicht ist direkt neben meinem. Es leuchtet wie ein Stern. Sie presst ihre Lippen auf meinen Mund. Sie sind warm und weich. Pauls Hände streicheln meinen Körper. Ich schließe die Augen und schwebe davon.
Ein Sonnenstrahl kitzelt mich wach. Ich öffne die Lider und blinzle in die Morgensonne. Mein Rücken schmerzt, die Zunge klebt am Gaumen und mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Die üblichen Nachwirkungen der Pilze.
Stöhnend reibe ich über meine pochende Stirn. »Scheiße, die Dinger waren heftig.«
Paul rappelt sich ächzend auf. Sein Haar ist zerzaust. »Wie viel Uhr ist es?«
Ich beschatte meine Augen und blicke zum Himmel hinauf. Eigentlich müsste ich die Uhrzeit am Stand der Sonne ablesen können, doch bei dem Thema habe ich im Unterricht nicht besonders gut aufgepasst. »Keine Ahnung. Acht vielleicht.«
Manja liegt zu meinen Füßen mit dem Kopf auf meinen Schienenbeinen. Bestimmt wird ihr Genick schmerzen, wenn sie aufwacht. Ihr Mund steht offen, ein getrockneter Speichelfaden klebt an ihrem Kinn. Grinsend beuge ich mich vor und zupfe an ihrem Haar. Im Schlaf wirkt ihr Gesicht viel weicher, fast schon mädchenhaft.
Paul reicht mir eine Flasche Wasser. »Ihr habt den Morgenappell verpasst.«
Dankbar nehme ich die Flasche entgegen und leere sie bis zur Hälfte. Den Rest hebe ich für Manja auf. »Egal. Es ist sowieso die letzte Schulwoche.«
Schlagartig kehrt die Erinnerung an das Gespräch mit meinem Vater zurück. An die Pläne, der er für mich hat. Ich soll ins Reproduktionsprogramm, weil ich jung und zeugungsfähig bin. Ich soll eine Gebärmaschine werden.
Scheiße.
Mein Magen krampft sich zusammen. Bloß nicht darüber nachdenken, sonst muss ich kotzen.
Mit den Fingern kämme ich mein zerzaustes Haar und pule die Schlafpopel aus meinen Augen. Es ist der verzweifelte Versuch, normal und unbekümmert zu wirken, als wäre alles wie immer. Derweil weckt Paul die total verkaterte Manja. Sie verträgt die Pilze wesentlich schlechter als wir.
Paul geht nachhause. Seit einem halben Jahr arbeitet er in der Biogasanlage. Diese Woche hat er Spätschicht. Manja und ich traben direkt ins Schulhaus, ungewaschen und hungrig, wie wir sind. Wir nehmen die Abkürzung über den Marktplatz, wo sich um diese Zeit haufenweise Menschen tummeln, um ihre Essensmarken einzulösen, und klettern dann über den Holzzaun ins Maisfeld. Dabei müssen wir achtgeben, nicht gesehen zu werden, damit die Aufpasser nicht denken, wir würden Essen klauen. Das ist so ziemlich das schlimmste Vergehen in der Kolonie, das in vielen Fällen mit Verbannung bestraft wird.
Das Unterrichtshaus liegt etwas außerhalb in Nähe des Steinwalls. Seit zwei Jahren geht es fast nur noch um den Erhalt der Kolonie, um Genetik und die Gefährlichkeit von Mutationen, um Fortpflanzung und Ethik. Dazu werden verschiedene Tests durchgeführt, um unsere Begabungen herauszufinden. Manja hat, welch Überraschung, technisches Geschick und bekommt wahrscheinlich einen Ausbildungsplatz in der Geotherme. Ich kann eigentlich nichts besonders gut und würde wohl nur mithilfe meines Vaters einen anständigen Ausbildungsplatz bekommen. Wenn ich ins Zuchtprogramm muss, ist das allerdings hinfällig. Vielleicht ist das ja mein Talent: Kinder gebären.
Der Unterricht hat bereits begonnen. Einundzwanzig siebzehn bis Achtzehnjährige sitzen auf Plastikstühlen und hören gelangweilt zu, wie eine verhärmte Mittvierzigerin über die Klimaerwärmung schwadroniert. Sie lässt Manja und mich gar nicht erst Platz nehmen sondern schickt uns direkt zum Schulleiter, einem dickleibigen Oberst der Neuen Armee.
Er kommt sofort zur Sache. »Sie beide haben den Morgenappell verpasst. Darf ich den Grund dafür erfahren?«
Die Fragerei nervt mich, weil mein Kopf schmerzt und mein Magen knurrt und ich ununterbrochen an das Gespräch mit meinem Vater denken muss. Ich schnaube und sage dem Schulleiter, was er mich mal kann. Entrüstet brummt er mir zwei Tage Strafdienst in den Ställen auf. Manja sieht mich stirnrunzelnd an. Mir ist klar, dass sie sich über mein Verhalten wundert. Normalerweise begehre ich nie lautstark auf. Wie sähe das aus, wenn die Tochter des Kommandanten gegen die Obrigkeit rebelliert? Aber als angehende Heldin darf ich auch mal aufmüpfig sein, finde ich. Dummerweise habe ich keine Vorteile, solange niemand von meinem aufopfernden Heldentum weiß, und muss den Strafdienst deshalb hinnehmen.
Schlecht gelaunt lasse ich den Unterricht über mich ergehen. Da wir großen Hunger haben, schnorrt Manja Maisbrot von einer pummeligen Dreizehnjährigen namens Melinda. Ihre Eltern arbeiten als Wissenschaftler im medizinischen Zentrum. Die Arbeit wird gut bezahlt und sorgt dafür, dass sie immer ausreichend Essen dabei hat. Sie kann uns nicht leiden, hat aber Angst vor Manja, deshalb gibt sie ihr das Brot. Richtig satt macht es nicht, aber wenigstens schlottern mir nicht mehr die Knie vor Hunger und ich kann mich wieder auf mein Elend konzentrieren.
Nach dem Mittagessen gehe ich direkt zu den Viehweiden, um meinen Strafdienst anzutreten. Bei dem Gestank, der mir am Eingang des langen Flachgebäudes entgegenwallt, bereue ich meinen Ausbruch vom Morgen. Berge von Scheiße und Pisse, gebunden in einem nach Schwefel riechenden Spezialgranulat verursachen ein betäubendes Aroma. Pilze hin oder her - ich verstehe nicht, wie Manjas Bruder hier arbeiten kann. Es ist einfach nur ekelhaft.
Der wortkarge Vorarbeiter drückt mir Gummistiefel und eine Schaufel in die Hand und deutet auf eine kreisrunde Öffnung im Boden. »Kipp das Zeug da hinten in das Loch.«
Missmutig streife ich die Stiefel über und lege los. Wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht noch eine Stunde mit Manja zum Fluss. Sobald ich das Granulat aufwühle, wird der Gestank unerträglich. Brechreiz schnürt mir die Kehle zu und ich versuche, nur durch den Mund zu atmen. Zudem ist das Zeug verdammt schwer, so voll gesogen mit Pisse und Scheiße. Meine Arme zittern, als ich die gefüllte Schaufel anhebe. Keuchend schleppe ich sie zu dem Loch im Boden, von wo aus das Granulat in einen unterirdischen Container fällt. Aus dem Zeug wird Biodiesel hergestellt, hat Manjas Bruder uns erklärt.
Eine halbe Stunde später bin ich schweißgebadet. Weitere zehn Minuten später lehne ich mich erschöpft auf die Schaufel. Meine Knie zittern. Ich bin am Ende. Der Vorarbeiter sieht zu mir herüber und schüttelt den Kopf. »Beeil dich. Du musst fertig werden, bevor die Kühe von der Weide kommen.«
Ich schlucke die Beschimpfung, die auf meinen Lippen liegt, und arbeite weiter. Wenigstens lenkt mich die Plackerei von meinen Sorgen ab, weil ich zu beschäftigt damit bin, nicht umzukippen oder zu kotzen. Als ich endlich Feierabend habe, kann ich kaum noch gehen. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzt und bestimmt habe ich fünf Liter Wasser ausgeschwitzt. Ich schleppe mich nachhause, dusche mich, obwohl die Geotherme wieder mal nicht ausreicht, um das Wasser auf mehr als fünfzehn Grad zu erwärmen, schlinge den kalten Eintopf vom Vortag hinunter und falle ins Bett.