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Kapitel 4

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Charlottes wurde fast wahnsinnig. ‚Leiche. Schon wieder‘, schoss es ihr durch den Kopf. Während sie sich mit der U-Bahn gefühlt im Schneckentempo fortbewegte, nutzte sie die Zeit, um ihren Chef Richling anzurufen. „Ja hi, äh... ich ruf‘ nur an... also ich komm‘ etwas später heute.“ Charlotte schloss die Augen und drückte sich den Handteller an die Stirn. Sie hätte sich das besser überlegen sollen. „Ich muss zum Arzt“, schob sie lahm hinterher. Natürlich kaufte ihr Chef Charlotte das nicht ab. „Wieso klingst du dann so panisch? Ist was passiert?“, kam es prompt aus der Leitung. Charlotte seufzte. „Oh mann, Andreas, bitte, ich... kann dir noch nicht sagen, warum, aber ich muss jetzt leider was dazwischenschieben. Ich komm‘ danach ganz bestimmt in die Redaktion und erklär‘ dir alles“, sagte sie, während sie ihre Finger kreuzte. „Wehe, wenn das aber kein guter Grund ist, Fräulein“, erwiderte Richling frostig. Er titulierte Charlotte gerne mit solchen Verniedlichungen, vor allem wenn er wütend war. „Du weißt genau dass du die Artikel für die nächste Ausgabe layouten sollst.“ Ohne Richling weiter zuzuhören, legte Charlotte auf. Sie hatte jetzt keinen Nerv für die Launen ihres Chefs. Die U-Bahn hatte endlich die letzten Meter bis zum Rosensteinpark erreicht. Hier war eine der Haltestellen des Zoos. Charlotte stand bereits ungeduldig an der Tür und drückte hektisch auf den Türöffner. Sobald die U-Bahn anhielt und sich die Türen mit dem hydraulischen Geräusch öffneten, stürmte Charlotte los. Nach wenigen Minuten erreichte sie den unscheinbaren Nebeneingang der Wilhelma, und im Kassenhäuschen saß eine Frau. Sie war kurz vor dem Rentenalter. Charlotte erkannte sie und rief schnell: „Frau Breuer, schnell, machen Sie mir bitte auf, ich muss sofort zu Sanne. Da ist irgendwas passiert!“ Die alte Frau erhob sich schwerfällig und tauchte wenig später neben Charlotte an der Tür auf. „Was ist denn los, Charlotte?“ „Schnell, machen Sie auf, ich kann es jetzt leider nicht erklären!“ Die Frau runzelte die Stirn, folgte dann aber Charlotte Drängen und schloss die Tür auf. „Verrücktes Kind“, murmelte sie dabei. „Danke“, stieß Charlotte noch hervor, dann rannte sie direkt weiter, in Richtung Affenhaus, wo sie Sanne vermutete.

Sie wusste, dass ihre Schwester morgens mit dem Zubereiten des Frühstücks für ihre Gorillas beschäftigt war. Charlotte lief am Haupteingang des Affenhauses vorbei und steuerte direkt auf den hinteren Bereich des Gebäudes zu. Dort befand sich die nicht-öffentlichen Futterküche. Und tatsächlich: Vor der Tür zur Küche stand Sanne. Neben ihr standen zwei weitere Kollegen, die merkwürdig blass um die Nase waren und nervös rauchten. Alle trugen grün-braune Tierpfleger- Shorts und T-Shirts der Wilhelma. Sannes wilde Locken standen in allen Richtungen von ihrem Kopf ab und sie reckte erleichtert ihre Arme zum Himmel, als sie Charlotte erblickte. Charlotte blieb stehen und rang keuchend nach Luft. Wild gestikulierend sagte Sanne: „Oh mein Gott, Charlotte, ich werd‘ irre! Und das an meinem ersten Tag nach dem Urlaub!“ Schwer atmend fragte Charlotte: „Was ist denn überhaupt passiert? Und ist die Polizei schon verständigt?“ Ungeduldig erwiderte Sanne: „Jaaa, Herrgott, die kommen jede Minute. Der Notarzt mit seinem Hiwi ist schon da.“ Dabei ruderte Sanne wild mit einem Arm in Richtung der Türe, die sich hinter ihr befand. „Also, ich sag’s dir, ich komm‘ ohne was zu ahnen in die Futterküche. Und dann seh‘ ich als erstes nur Füße, dann Beine und dann schau‘ ich hoch, und da seh‘ ich den Konstantin! Erhängt! Der hat sich erhängt!“ Jetzt, wo Sanne das endlich gesagt hatte, stieß sie befreit Luft aus und machte anschließend einem unterdrückten Wutschrei Luft. „Ehrlich, warum muss mir das passieren?“ Jetzt starrte Charlotte ihre Schwester entgeistert an. „Das...äh naja... für Konstantin ist das bestimmt schlimmer, oder? Also natürlich ist das schlimm, dass du ihn entdeckt hast“, fügte Charlotte kleinlaut bei, als Sanne sie mit vorwurfsvollem Blick ansah. „Ähm, wann... wann hast du denn den Konstantin entdeckt?“ Charlotte kannte den Tierpfleger nur flüchtig. Er war für die nachtaktiven Eulen und Fledermäuse zuständig, das wusste sie. Und dass er daher kaum Überschneidungen mit Sannes Zuständigkeitsbereich hatte, den Primaten. Sanne schüttelte den Kopf, dann antwortete sie auf Charlottes Frage. „Ja, keine Ahnung, so gegen viertel nach sieben, schätze ich. Dann hab’ ich erst mal geschrien wie am Spieß und Leo und Tanja kamen angerannt, die waren hier in der Nähe.“ Sie deutete mit ihrem Kopf in Richtung ihrer beiden Kollegen, die immer noch rauchend und schweigend dastanden. Leo, ein dicklicher Kollege mit dünner werdendem Haar, nickte jetzt und sagte: „Die Sanne hat so laut g‘schrie, ich ‘dacht, die Viecher san aus‘broche.“ Charlotte wandte sich kurz an ihn: „Haben Sie... also, sind Sie da rein?“, dabei deutete sie mit dem Zeigefinger in Richtung der Türe, hinter der der Tote war. Schnell schüttelte der Angesprochene den Kopf. „Im Lebe net, net freiwillig.“ Auch die andere Kollegin, Tanja, reagierte bestürzt. „Keine zehn Pferde kriegen mich da rein. Aber wir wollten Sanne jetzt nicht alleine lassen“, mit diesen Worten blies sie Rauch aus und ließ den glimmenden Zigarettenstummel zu Boden fallen, den sie mit einer resoluten Fußbewegung austrat. Charlotte wandte sich wieder an Sanne. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Schwester jetzt von ihr erwartete. Schließlich entschied sich Charlotte für die logischste Konsequenz. „Ok, Sanne, das Beste ist... wir warten hier bis die Polizei kommt...“, weiter kam sie nicht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte Sanne sie an und zog sie ungeduldig aus der Hörweite der beiden Kollegen. Dann raunte sie ihrer Schwester ins Ohr: „Ne, Charlotte, ich hab’ dich nicht angerufen damit wir hier rumstehen. Geh‘ mal kurz da rein und schau‘ dir die Leiche an! Da stimmt was nicht, das kann ich dir aber sagen!“ Charlotte dachte, sich verhört zu haben: „Äh... wie bitte? Ich soll mir die Leiche ansehen?“ „Jaaa, wenn ich es dir doch sage! Du hast doch schon mal ‘nen Mord aufgeklärt.“ „Was?! Nein! Hab’ ich nicht! Außerdem wär‘ ich dabei fast draufgegangen, falls du dich erinnerst!“, fuhr Charlotte Sanne an. „Ja, das weiß ich doch, und es passt mir ganz und gar nicht, dass ich dich jetzt da mit reinziehe, aber dieses Mal steck‘ ich in der Klemme! Ich brauch‘ deine Hilfe“, erwiderte Sanne, nun deutlich drängender. „Der Konstantin hat ‘nen Abschiedsbrief hinterlassen. Der war an mich adressiert! Aber ich hab’ mit dem doch absolut gar nichts zu tun. Da stimmt was nicht! Los, beeil‘ dich, gleich ist die Polizei da!“ In Charlotte rumorte es. „Was? An dich adressiert? Aber wieso...?“ Dann erst zog Charlottes Gehirn Sannes Bitte in Betracht. „Aber... wie soll das denn gehen, der Notarzt schmeißt mich doch hochkant wieder raus! Der muss doch bestimmt aufpassen, dass sich keiner der Leiche nähert.“ „Ach, den bequatsch‘ ich schon irgendwie! Los, jetzt mach‘ endlich! Ich will hier nicht als Mordverdächtige enden!“ Kurzerhand schob Sanne ihre Schwester zu der Tür und ging gemeinsam mit ihr hindurch.

Im Vorraum zur Futterküche stand ein junger, pickeliger Zivi in roter Hose und weißem Polo-Shirt. Er sah ähnlich blass aus wie die beiden Tierwärter draußen vor der Tür. Der junge Mann hatte die Hände in den Hosentaschen verstaut und schien darauf zu warten, dass ihn endlich ein neuer Notruf von hier wegbrachte. Er sah erschrocken zu den beiden Frauen, die sich ihm näherten, doch Sanne ignorierte ihn. Sie schritt zielstrebig auf die metallene Tür der Futterküche zu, hinter der der Tote und der Notarzt sich aufhielten. Charlotte zog sie einfach mit sich. Schwach wandte der Zivi ein: „Ähm, hallo, Sie können da nicht rein“, doch schon hatte Sanne die Tür aufgestoßen. Mit einem Mal standen die zwei Schwestern in dem kühlen, gekachelten Raum, in dem eine Neonröhre an der Decke flackerte. Unter anderen Umständen wäre die Kühle im Zimmer angenehm gewesen. Doch die Anwesenheit einer Leiche machte jedes positive Gefühl zunichte. Charlotte registrierte, dass der Notarzt mit dem Rücken zur Tür stand und über ein Klemmbrett gebeugt war. Darauf machte er sich wahrscheinlich Notizen zum Leichenfund. Noch hatte der Mann die beiden Frauen nicht entdeckt, und Charlotte beeilte sich mit rasendem Puls, so viel wie möglich vom Raum aufzunehmen, bevor der Arzt sich umdrehte. Ein schwacher Geruch nach Obst und Gemüse, gemischt mit Heu und einem leichten Chlorgeruch hing in der Luft. An den Wänden nahe der Tür waren verschiedengroße Kartons und Kisten gestapelt, die entweder leer oder mit Lebensmitteln gefüllt waren. Auch eine leere Schubkarre stand in der Ecke. Am gegenüberliegenden Raumende befand sich eine riesige Küchenspüle aus Edelstahl neben einer hölzernen Arbeitsplatte. Oberhalb der Spüle war ein Desinfektionsbehälter mit Pump-Hebel angebracht. Neben der Arbeitsplatte stand ein Kühlschrank und surrte laut, doch er fiel Charlotte schon nicht mehr auf. Sie starrte unausweichlich auf den jungen Mann, der von der Decke hing. Charlotte konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden: Sie fühlte sich von dem Anblick gleichzeitig erschüttert und magisch angezogen. Das Gesicht des Toten sah rot und geschwollen aus, die Augen waren geschlossen, der Mund dagegen geöffnet. Die Zunge war angeschwollen und ragte aus dem Mund. Der Tote hing mit einem Strick um den Hals von der Decke. Dort war das Seil durch einen Haken gezogen und verknotet worden. Um endlich nicht mehr das Gesicht des Toten sehen zu müssen, schloss Charlotte kurz die Augen. Nach wenigen Sekundenbruchteilen riss sie die Augen aber wieder auf und zwang sich dazu, den Rest der Leiche genauer zu begutachten. Der junge Mann trug Arbeitskleidung. Auf der linken Brustseite des Pullovers prangte der obligate Wilhelma-Elefant. Nur an seinen Füßen trug er lediglich Socken, aber keine Schuhe. Die Arme hingen schlaff am leblosen Körper herunter. Unter der Leiche lag ein Schemel, der umgestoßen worden war. Wortlos stieß Sanne jetzt Charlotte an und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Schemel, der umgekippt unter der Leiche auf dem Boden lag. Charlotte blickte ihre Schwester entgeistert an und zog die Schultern hoch, wie um zu fragen: ‚Was soll mir denn auffallen?‘ Sanne deutete unbeirrt auf den Schemel und flüsterte: „Das Teil ist maximal 30 Zentimeter hoch. Schau‘ mal, wie hoch Konstantin hängt.“ In diesem Moment bemerkte sie der Notarzt. Er drehte sich abrupt um und fuhr die beiden an: „Was haben Sie denn hier zu suchen? Raus hier, aber sofort!“ Charlotte nickte und tat so, als würde sie sich abwenden, doch eine Sekunde nahm sie sich noch Zeit, um den Abstand zwischen den Fußspitzen des Toten und dem Fußboden abzuschätzen. Dann begriff sie. Und ihr stellten sich die Härchen auf den Armen auf: Die Leiche hing viel zu hoch für den Schemel. „Raus hier!“, bellte der Notarzt jetzt noch wütender, und Charlotte und Sanne setzten sich in Bewegung. Aber bevor sie nach der Türklinke greifen konnte, wurde die Tür von der anderen Seite aufgestoßen und Charlotte konnte grade noch ausweichen, um nicht die Türkante ins Gesicht zu bekommen. „Frau Bienert! Ich glaube es nicht, was machen Sie denn hier!“ Laut und wütend fuhr Kriminalhauptkommissar Paul Jankovich Charlotte an. Er stieß die Tür noch weiter auf und funkelte Charlotte feindselig an. Im ersten Moment war Charlotte vollkommen überrumpelt. Sie hatte zwar damit gerechnet, dass die Polizei sehr bald nach dem Notarzt am Tatort ankommen würde. Aber mit Paul Jankovich hatte sie nicht gerechnet.

Jankovich und Charlotte hatten sich seit ihrer Begegnung im Krankenhaus letzten Mai nicht wiedergesehen. Dort hatte sie gelegen, nachdem Jankovich sie davor bewahrt hatte, ebenfalls zum Mordopfer zu werden. Er war derjenige gewesen, der sie in letzter Sekunde gerettet hatte. Charlotte hatte sich, zunächst gegen seinen Willen, in die damaligen Ermittlungen eingemischt. Und gemeinsam waren sie so dem Mörder auf die Schliche gekommen. Der Kommissar sah immer noch genauso aus, wie Charlotte ihn in Erinnerung hatte: Er war etwa 35 Jahre alt, groß, schlank, trug eine Lederjacke, die das Waffenholster an der Hüfte verdeckte, und hatte blonde Haare. Seine Augen waren blau, und, wie Charlotte wusste, von langen Wimpern gesäumt. Doch im Moment waren seine Augen im dunklen Flur nicht so deutlich zu erkennen. Außerdem funkelten sie gerade wenig freundlich in Charlottes Richtung. Jetzt, bei ihrem ersten Wiedersehen seit Wochen, überwand Charlotte ihren Schock und versuchte ein zaghaftes Lächeln. Doch der Kommissar ging nicht darauf ein. Er stellte sich seitlich in die Tür und hielt sie mit seinem Rücken offen. Gleichzeitig machte er eine eilige Bewegung mit dem linken Arm und bedeutete den beiden Schwestern damit energisch, die Futterküche zu verlassen. Als Charlotte wie ein begossener Pudel an ihm vorbeiging, nahm sie wieder seinen vertrauten Aftershave-Geruch wahr, gemeinsam mit dem schwachen Duft seiner Lederjacke. ‚Dass er damit bei den Temperaturen nicht eingeht‘, schoss es Charlotte durch den Kopf. Während sie beklommen und stumm neben Sanne im Vorraum ausharrte, konnte sie hören, wie Jankovich sich in der Küche kurz mit dem Notarzt austauschte. Dann zog der Kommissar die Tür wieder hinter sich zu und baute sich vor den beiden Frauen auf. Der pickelige Zivi hatte sich unterdessen in die hinterste Ecke des Vorraums verzogen. Der Kommissar verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen hoch. „Also?“, fragte er forsch. Charlotte sah ihn aus unschuldig aufgerissenen Augen an. „Ehrlich, ich kann nichts dafür, meine Schwester hat mich angerufen!“ Jankovich fixierte daraufhin Sanne. Diese begann zu stottern. „Ja... also... naja... ich brauch‘ halt seelische Unterstützung, schließlich hab’ ich grad ‘ne Leiche gefunden!“ Trotzig verschränkte Sanne nun ebenfalls die Arme vor der Brust und hob das Kinn. Der Kommissar sah wieder Charlotte an und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie, während er sprach. „Sie gehen jetzt bitte mit Ihrer Schwester zu meinem Kollegen nach draußen und verschmutzen nicht weiter den Tatort.“ Drohend fügte er hinzu: „Wir sprechen uns gleich noch.“

Mord im Zoo

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