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Die betagten Schwestern
von Hergiswil Silvia Götschi
Оглавление»Hast du gesehen?« Barbara saß in der Nähe des Fensters, dort, wo sie sich die meiste Zeit des Tages aufhielt, und deutete mit ihren Gichtfingern zu den Scheiben. Alfred, ihr hilfsbereiter Neffe, hatte eben die Doppelverglasung angebracht. Der Winter hatte sich vor Tagen mit einem heftigen Schneesturm angemeldet. »Die Krähen kommen immer näher. Das ist kein gutes Omen.«
»Ja, ja«, sagte Alfred. »Und mein Vater hat gestern eine Hartbox auf das Autodach montiert.«
»Was ist eine Hartbox?« Barbara verabscheute die modernen Wörter, dazu noch im Zusammenhang mit ihrem Schwager Heiri, der im Haus links nebenan wohnte und Alfreds Vater war. Sie widmete sich wieder ihrer Strickarbeit und hatte das seltsame Wort bereits vergessen.
»Die Kiste auf dem Autodach, die wie ein Sarg aussieht«, sagte Alfred. »Man kann Skier und den Krempel reintun, der im Wageninnern keinen Platz findet.«
Auch eine Leiche, dachte Barbara, die sich plötzlich an eine solche Kiste erinnerte. Bergers am Anfang der Straße besaßen auch eine. Die nahmen sie immer mit, wenn sie an den Gardasee fuhren.
Sie hatte Mühe mit dem Stricken. Die Wolle glitt ihr nicht mehr so leicht durch die Finger wie früher und die Stricknadeln waren ihr schon besser in den Händen gelegen. Sie war alt geworden und spürte es.
Alfred stemmte sich vom Küchentisch hoch und stellte den schmutzigen Teller und das Besteck in die Spüle. Er ließ Wasser einlaufen.
»Du musst nicht abwaschen.« Barbara legte das angefangene Vorderteil des Pullovers auf die Chaiselongue. Bis Weihnachten musste dieser zu Ende gestrickt und zusammengenäht sein. Ein Geschenk für Cornelia, ihre jüngere Schwester, die rechts von ihr in einem eigenen Haus wohnte. Den Pullover für Anna hatte sie bereits fertiggestellt. Es blieben noch zwanzig Tage. Barbara war in Verzug. Sie hatte Mühe, vom Stuhl bis zum Abwaschbecken zu gehen. Alles in diesem Haus hatte einen mühsamen Anstrich bekommen. Die Schlafzimmer lagen im oberen Stock. Einen Aufzug gab es nicht. Manchmal schlief sie deswegen unten in der Wohnküche. Im Winter war es hier wärmer. Alfred kam jeden Tag vorbei, um den Herd zu beheizen. Etwas, das sie auf Teufel komm raus nie selbst hatte bewerkstelligen können. Als ihr Mann noch gelebt hatte, war das seine Aufgabe gewesen. Nun machte es Alfred. Als Anerkennung für seine Hilfe kochte Barbara dem ewigen Junggesellen zu Mittag, wenn dessen Mutter Anna unpässlich war, oder wärmte die Reste des Vortages auf. Alfred hatte sie mehrmals vergeblich zu überreden versucht, sie möge sich endlich eine kleine, pflegeleichte Wohnung im Dorf suchen. Doch Barbara hing an ihren alten Sachen und vor allem an den Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann Hans, mit dem sie, wenn sie ehrlich mit sich selbst war, auch gute Zeiten erlebt hatte.
»Ich gehe jetzt«, sagte Alfred, augenscheinlich nicht unglücklich darüber, den Abwasch Barbara überlassen zu können. »Wenn du möchtest, komme ich heute Abend noch einmal vorbei.« Er ließ seinen Blick durch die Wohnküche schweifen, als müsste er damit seinem Unmut Luft machen. »Das hier ist doch viel zu groß für dich. Irgendwann wirst du nicht mehr gehen können. Du könntest das Haus verkaufen und dir damit einen Herzenswunsch erfüllen. Zum Beispiel vier Wochen auf einem Luxuskreuzer auf hoher See.«
Das war eher umgekehrt. Barbara ahnte, dass es der fünfundfünfzigjährige Alfred auf ihr Erspartes abgesehen hatte. Weil sie selbst keine Kinder hatte, hatte sie ihn in ihrem Testament bedacht, und er wusste davon. Er gehörte nicht zu den sparsamen Menschen, pflegte ausgefallene und teure Hobbys, die er allein mit seinem Lohn als Hauswart nicht zu finanzieren vermochte. Ab und zu steckte Barbara ihm einen Geldschein zu, wusste sie doch, wie knauserig ihre Schwester Anna war.
»Mir ist es hier nach wie vor sehr wohl. Und was soll ich auf einer Dreckschleuder, zusammen mit dreitausend Eingesperrten?«
Ihr Haus, oberhalb des Vierwaldstättersees, war das erste in einer Häuserzeile, die mit den Jahren immer länger geworden war. Ein altes, vom Verfall bedrohtes Schindelhaus aus den 1930er-Jahren mit zwei Veranden unter dem Dach und zwei Eingängen – einem Eingang, den sie nur am Sonntag benutzte, und dem alltäglichen, der zur Scheunenseite lag. Früher hatte Barbara zusammen mit ihrem Mann Hühner und Hasen gehabt. Und einen Zwetschgenbaum.
»Im Winter frierst du dir die Füße ab«, sagte Alfred. »Holz und Briketts sind teuer, und die Arbeit erst … Du könntest deinen Lebensabend genießen.« Er griff nach dem Autoschlüssel und trat in den frostig kalten Nachmittag hinaus. »Bis bald dann.«
Barbara stellte sich vor das Fenster und sah ihm nach, wie er sich in seinen Sportboliden setzte, den Motor startete und so schnell davonpreschte, dass er Schnee aufwirbelte. Barbaras Blick blieb am Haus gegenüber hängen. Der Vorhang am Wohnzimmerfenster sah aus, als bewegte er sich. Anna hatte nichts anderes zu tun, als ihre Maulaffen feilzuhalten. Manchmal hörte Barbara sie streiten, wenn Schwager Heiri von der Arbeit zurückkehrte. Dass sich hinter den Mauern etwas anderes abspielte, als es gegen außen schien, ahnte Barbara schon lange. Sie brauchte Anna nur anzusehen, wenn sie ihr begegnete. Ihre Augen waren stets verquollen und nicht selten mit den trügerischen Farben umrandet, welche kaum vom Make-up stammten. Ihr Mann schlug sie, da war sich Barbara sicher. In letzter Zeit war Anna nicht mehr vor das Haus getreten. Möglicherweise schämte sie sich. Unter den zwei älteren Schwestern herrschte ein ambivalentes Verhältnis. Keine traute der anderen, wenn es jedoch ums Kochen ging, waren sie wie Pech und Schwefel.
Vor Heiris Haus parkte der Wagen, ein silbergrauer Subaru, ein vorsintflutliches Modell. Von einer Hartbox fehlte jede Spur. Ob sich Alfred getäuscht hatte? Barbara nahm sich vor, wieder eine Weile beim Fenster zu sitzen. Sie griff nach der Strickware und setzte ihre Arbeit fort.
Sie war eingenickt und schrak hoch, als jemand an die Tür des Werktageingangs klopfte.
»Lass niemanden rein, wenn du allein bist«, hatte Alfred sie gewarnt. »Es gibt genug Gesindel, das in den Wintermonaten um die Häuser streicht. Eine betagte Frau ist ein gefundenes Fressen für solche Widerlinge.«
Barbara empfand keine Angst und wusste sich stets zu wehren.
Ja, da war noch Cornelia von rechts gegenüber, die einsame Witwe, die, da war sich Barbara sicher, ihren Berni ins Nirwana katapultiert hatte. Trotzdem oder gerade deshalb mochte sie ihre jüngere Schwester. So sehr, dass sie ihr auch dieses Weihnachten einen Pullover strickte und sie ebenfalls in ihre Weihnachtstradition einschloss.
Das Poltern war nun heftiger.
Barbara bemühte sich aus dem Sessel, nachdem sie einen Blick auf die Straße geworfen hatte. Der Tag hatte sich verabschiedet. Die letzten hellen Flecke verschwanden und machten einer undurchdringlichen Schwärze Platz. Auf dem Land waren die Nächte dunkel und unheimlich. Und wenn, wie jetzt, der Wind aufkam, verkroch man sich vorzugsweise in den Häusern und Wohnungen, machte ein Feuer im Cheminée oder einen Orangen-Punsch und vergaß, dass es ein Morgen gab. Barbara verabscheute diese Jahreszeit. Sie bedrückte sie und holte schreckliche Bilder aus dem Fundus ihrer Erinnerungen. Hans, wie er röchelnd vor ihr zusammensackte, an Silvester vor zwei Jahren, nachdem er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Jedoch auch die Freude darüber, wie ruhig und selbstbestimmt ihr Leben danach geworden war.
Anfang Dezember. Der Herbst war vorbei und der Winter noch nicht da. In der Ebene kroch der Nebel und verschwand auch am Nachmittag nicht. Eigentlich wurde es nie hell. Von Süden drückte der Lopper. Die Sonne, wenn sie denn schien, zog ihre Bahn nicht höher als die Kirche, die siebenhundert Meter nördlicher lag. Der erste Schnee haftete auf dem Boden bis zur Grenze, wo der schattige Dorfteil endete. Hier hinten war es immer um zwei Grad kälter als vorn. Der kalte Hauch des Todes wehte durch diesen Landstrich.
Barbara blieb vor der Tür stehen. Sie hatte den Vorhang vor die Glasscheibe gezogen. Sie vermochte nicht zu sehen, wer draußen stand.
Wieder polterte es. »Babsi, mach endlich auf. Ich weiß, dass du da bist. Willst du mich in der Kälte verrecken lassen?«
Cornelia! Nur Cornelia hatte einen so groben Wortschatz, und nur sie nannte sie Babsi. Barbara drehte den Schlüssel um, drückte den Türgriff nach unten. Schon schob sich Cornelia in die Küche. »Bist du taub?«
»Auch dir einen guten Abend.« Barbara bat ihre jüngere Schwester, sich an den Küchentisch zu setzen. »Etwas zu trinken? Ich kann dir Punsch anbieten.«
»Ich bin nicht zum Vergnügen hier.«
»Nicht?« Barbara wunderte sich etwas. In der Regel kam Cornelia zu einem Schwatz und zum Kaffeetrinken vorbei. Manchmal brachte sie Kekse mit. Dann konnte es länger dauern, bis sie wieder verschwand. Cornelia hatte vor einem halben Jahr ihren Mann verloren, nachdem er sich an Salat vergiftet hatte. An Salat. Barbara versuchte, es sich gerade bildlich vorzustellen.
»Mir müssen etwas unternehmen. Anna geht sonst vor die Hunde.«
»Das ist nicht unser Problem.« Barbara knetete ihre Fingerknöchel, bis sie weiß wurden.
»Wir können nicht wegschauen. Sie ist unsere Schwester. Oder hast du vergessen, wie sie uns zusammenhielt, als unsere Eltern starben? Letzthin hat sich Anna bei mir beklagt und ausgeweint. Ihr Mann ist ein brutales Ungeheuer. Seit er pensioniert ist, schikaniert und misshandelt er sie aufs Übelste.« Cornelia legte eine Sprechpause ein, in der sie ihren Blick durch die Küche schweifen ließ. »Alfred sagte mir, dass du das Haus bald verkaufen willst?«
Natürlich war dies eine Frage und keine Feststellung. Wie kam Alfred dazu, sich mit Cornelia über das Haus zu unterhalten? »Er war also auch bei dir?«
»Du kennst ihn doch.« Cornelia griff in ihre kurzen weißen Haare. »Er wartet darauf, dass er ernten kann. Nicht umsonst hegt und pflegt er seine zwei Tanten.«
»Solange ich noch einigermaßen gehen kann, muss er sich das abschminken.«
»Ja, ja, die Männer … Ohne sie wäre alles viel einfacher.« Barbara entfuhr ein tiefer Seufzer. »Du kannst froh sein, dass dein Hans vor Jahren das Zeitliche gesegnet hat.«
»Auf Hans lasse ich nichts kommen. Er war ein anständiger Mann.« Und ein hinterhältiger, aber das sagte Barbara nicht laut. Noch ließ sie ihre jüngere Schwester im Glauben, dass er eines natürlichen Todes von ihnen gegangen war.
»Er hat es mit seiner jungen Therapeutin getrieben.« Cornelia plusterte sich auf. »Jetzt kann ich es dir ja sagen: Der Kerl hat dich nach Strich und Faden betrogen.«
»Mich nimmt wunder, wie.« Barbara verdrängte die Bilder, die sich in ihren Kopf einnisteten. Hans und die Frau, die seine Tochter hätte sein können. Immer mittwochs hatten sie sich im Sportzentrum getroffen, zur Massage, wie Hans ihr versichert hatte. Barbara hatte großzügig über diese Schwärmerei hinweggesehen. Sie hatte ihren Mann und seine Gebrechen gekannt. Er war ein bellender Hund gewesen, der nicht biss.
»Wir sollten Annas Mann beseitigen. Selbst wird sie es nicht bewerkstelligen können. Sie kann sich kaum bewegen.« Cornelia sagte es so beiläufig, als würde sie über das Wetter sprechen oder ihr sagen, dass es am nächsten Sonntag Braten mit Kartoffelstampfer gab.
»Du meinst, mit Salat?«
»Wie kommst du da drauf?« Cornelias Augen weiteten sich. Dann griff sie mit beiden Händen an die Schläfen. »Ach, das …« Sie lachte verschmitzt. »Berni sagte immer, man könne alles essen, was auf den Teller kommt. Schließlich war er ein begnadeter Koch … nur eben blind auf dem linken Auge. Ich habe ihn bloß beim Wort genommen. Er liebte Enziane. Ich kann nichts dafür, dass ich die Blüte mit dem Blauen Eisenhut verwechselt habe.«
»Da besteht aber ein frappanter Unterschied.«
»Du kennst meine Sehschwäche. Ich kann Hans nicht von Heiri unterscheiden. Wie sollte ich da den Unterschied zwischen Enzian von Blauem Eisenhut kennen?«
Heiri, Annas Mann, besaß einen Schrebergarten außerhalb des Dorfes. Obwohl es genügend Umschwung um ihr Haus gab, hatte er darauf bestanden, einen Garten zu bewirtschaften. Anna war darüber nicht begeistert gewesen. Sie selbst hatte keinen grünen Daumen, saß lieber auf dem Balkon, löste Kreuzworträtsel und aß Maiskuchen und Schokoladenpudding.
»Sag nicht, dass Heiri dir mal den Hof gemacht hat.« Barbara verwunderte nichts mehr. Cornelia war bekannt dafür gewesen, den Männern den Kopf zu verdrehen. Als sie jung gewesen war, hatte sich die gesamte männliche Nachbarschaft in sie verguckt. Von der einstigen Schönheit war nicht viel übrig geblieben. Dafür hatte sie an Boshaftigkeit zugelegt. Und etwas abgründig Mörderisches erhalten. Barbara traute ihr nicht. Sie war hier, weil sie etwas Schreckliches ausheckte. Aber sie würde es nicht allein durchziehen können. Cornelia brauchte Barbara. Wahrscheinlich für ihr Alibi.
»Wann hast du Anna zum letzten Mal gesehen?« Cornelia rutschte auf dem Stuhl hin und her, was ein seltsames Geräusch verursachte.
»Ich sehe sie jeden Tag. Sie steht meistens am Fenster und schaut durch die fadenscheinigen Vorhänge. Eigentlich steht sie dort ununterbrochen. Mich nimmt wunder, wann die kocht.«
»Hast du dich zeitnah mit ihr unterhalten?«
»Du stellst Fragen. Natürlich nicht. Ich müsste mich sonst zusammenreißen, um ihr nicht ins Gesicht zu sagen, wie schrecklich ich unseren Schwager finde. Und stell dir vor, er hat jetzt eine …« Barbara suchte nach dem seltsamen Wort, »Hartbox gekauft.«
»Genau um die geht es.« Cornelia erhob sich, schritt zum Fenster, auf dessen Doppelscheiben sich ein Fragment der Wohnküche spiegelte. »Die Box sieht aus wie ein Sarg. Dieser Vergleich hat mich erst auf die Idee gebracht.«
»Das hat schon Alfred gesagt … das mit dem Sarg. Was meinte er damit?«
»Denk doch mal nach. Wir legen Heiri um und transportieren ihn in der Hartbox aus dem Dorf. Niemand käme auf die Idee, darin eine Leiche zu vermuten. Wenn du mich fragst, hat sich Heiri mit dem Kauf der Box sein eigenes Grab geschaufelt.«
»Und wo, bitte schön, willst du ihn hinbringen?« Barbara graute vor dem Gedanken. Cornelia würde den Leib kaum aus eigener Kraft in diese Schale hieven können. Dazu brauchte es vier starke Arme. Ihre nicht mit eingerechnet.
»Zum See. Erinnerst du dich, als vor fünfzig Jahren an dem Reisebus die Bremsen versagten und er mit achtzig Kilometer pro Stunde über die Uferböschung krachte? Der See ist an dieser Stelle sehr tief. Dort könnten wir die Hartbox bedenkenlos versenken.«
»Und der Auftrieb?«
»Papperlapapp. Heiri ist über hundert Kilogramm schwer. Der taucht unter wie ein Stein. Mitsamt der Box.«
Barbara war es nicht geheuer. Ihre Beziehung zu Cornelia war nicht innig genug, um ihretwegen einen Mord zu begehen. Sie traute ihr nicht hundertprozentig. Aber hatte sie nicht auch bei Hans nachgeholfen? Mit ihren fiesen kleinen Briefchen, die sie ihm ins Krankenhaus geschickt hatte? Sie hatten einen Herzinfarkt ausgelöst. Und dann war da noch das Rattengift, welches sie in kleinen Dosen der Suppe beigemischt hatte. Sie hatte Hunderte von Menschen sterben sehen, auf der Krankenstation, wo sie bis zu ihrer Pensionierung gearbeitet hatte. Da kam es auf einen Toten mehr in ihrem Leben nicht an. Irgendwann musste jeder sterben. Wenn sie, zusammen mit Cornelia, ihrer ältesten Schwester das restliche Leben lebenswerter machte, war doch nichts Verwerfliches dabei. Sie half bloß dem Karma nach.
Barbara stöhnte auf. Das Problem waren ihre Beine. Diese würden sie kaum zum Nachbarhaus tragen. Ob sie Alfred einweihen sollte? Sie wusste, wie wenig ihr Neffe von seinem Vater hielt.
»Was ist?« Cornelia kam an den Tisch zurück. »Hast du es dir überlegt?«
»Ich weiß nicht.«
»Ha, tu doch nicht so. Bei deinem Hans hast du doch auch nachgeholfen. Keine von uns ist besser als die andere.«
»Dann ist das mit dem Blauen Eisenhut also nicht aus der Luft gegriffen?«
»Das habe ich nie dementiert. Und bevor es dir einfallen sollte, mich zu verzeigen, erinnere ich dich an den Karton mit dem Rattengift. Ich war oft in eurem Keller, als Hans noch lebte.«
»Was habt ihr in unserem Keller gemacht?« Bei Barbara schellten die Alarmglocken.
»Er hat mir seine Briefmarkensammlung gezeigt.«
»Die Briefmarken … ach so. Diese könnte ich verkaufen.«
»Das tun wir, wenn die andere Sache erledigt ist.« Barbara schritt entschlossen zur Tür. »Heute Nacht um halb zwölf. Dann müsste Heiri von seinem Schrebergarten-Vereinshock zurückkommen, wenn ich mich nicht täusche.«
»Meine Beine …« Barbara deutete auf ihre Oberschenkel. »Ich weiß nicht, ob ich es nach draußen schaffe.«
»Dann reiß dich zusammen.« Cornelia nahm den Türgriff in die Hand. »Nicht vergessen! Ich werde mir etwas einfallen lassen, wie wir Heiri in die Garage lotsen.«
»Und von dort auf das Autodach.« Barbara blieben weitere Worte im Hals stecken. Die ganze Angelegenheit war bereits jetzt zum Scheitern verurteilt.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Es kam aus der Richtung des Fensters. Draußen herrschte tiefste Nacht. Annas und Heiris Haus lag komplett im Dunkeln. Ob Heiri bereits daheim war und im Bett lag? Hatte Cornelia sich verrechnet? Die Fensterscheibe klirrte. Und plötzlich sah sie den Schatten eines Vogels, wie er mit schlagenden Flügeln davonflog. Die Vorscheibe wies ein Loch auf, durch das es unangenehm zog.
Kein gutes Zeichen. Irgendetwas geschah gerade, auf das Barbara keinen Einfluss hatte.
Sie wartete. Der große Zeiger auf dem zerkratzten Zifferblatt des Regulators ruckelte auf die Sechs zu. Es war Zeit, sich in den Mantel zu werfen und die Winterstiefel zu schnüren, wollte sie pünktlich sein. Kurz darauf verließ sie das Haus über den Sonntagseingang. Das, was heute geschehen würde, hatte etwas mit einem feierlichen Akt zu tun.
Cornelia stand bereits unten. »Wir sollten uns verstecken. Heiri wird bald eintreffen.« Sie schwang einen Hammer in ihrer rechten Hand.
Barbara zeigte auf das Mordwerkzeug. »Du wirst ihn doch nicht damit umbringen?«
»Nein, nur bewusstlos schlagen. Dann legen wir ihn in die Hartbox, schließen den Deckel und ab an den See. Bis der zu sich kommt, ist er schon tauchen. Auf dem Grund wird er nicht der Einzige sein. Dort soll es bereits einen Friedhof haben.«
Das Ganze hatte nach Barbaras Ermessen einen gewaltigen Haken: Wie würden sie den schweren Heiri auf das Autodach laden können?
Keine Zeit für Überlegungen.
Am Anfang der Straße tauchte ein Auto auf. Die grellen Scheinwerfer stachen durch den Nebel wie fluoreszierende Raubtieraugen.
»Auf die Minute genau.« Cornelia versteckte sich neben der Garage. »Können wir nur hoffen, dass er den Wagen hineinfährt.«
Barbara drängte sich in die Ecke, wo die Grüntonne stand. Das Auto kam näher, hielt an. Niemand stieg aus. Doch das Garagentor ging auf. Heiri hatte ein automatisches Tor einbauen lassen, zu Alfreds Leidwesen. Er meinte, es sei hinausgeworfenes Geld.
Das kalte Neon drang auf den Vorplatz, ließ den Restschnee aufleuchten.
Barbara und Cornelia standen im Schatten. Es war nicht möglich, von Heiri gesehen zu werden. Warum stieg er nicht aus?
Barbara entdeckte die Hartbox auf einer Galerie, was sie seltsam fand.
Cornelia war ihrem Blick gefolgt. »Siehst du«, flüsterte sie. »Das nennt man Glück. Wir brauchen die Box bloß auf das Dach zu schieben und sie darauf zu befestigen … sofern der Kerl endlich in die Garage fährt.«
»Wir sollten vorsichtig sein.« Barbara hatte ein ungutes Gefühl. »Was, wenn Anna aufwacht und in die Garage kommt?«
Der Motor heulte auf. Heiri legte den Rückwärtsgang ein, fuhr zurück.
»Glaubst du, er hat etwas vergessen?« Cornelia kauerte sich hinter der Grüntonne. »Hühnerkacke! Was tun wir jetzt?«
Der Subaru wendete. Alsbald sah man bloß die Rücklichter aufleuchten, bis sie in der Ferne verschwanden.
Barbara zitterte am ganzen Leib. Sie wusste nicht, ob der Kälte oder der Angst wegen. »Vielleicht ahnt er unser Vorhaben.«
Cornelia stieg über die Treppe auf die Galerie, von wo aus sie den Wohnungseingang erreichte. Barbara hatte ihren Schwager oft darum beneidet. Seine Haustür lag im Trockenen.
»Okay, wir können schon mal die Hartbox öffnen. Ich bin sicher, Heiri wird nach ein paar Minuten zurückkommen. Ich weiß von Anna, wie löchrig sein Gedächtnis ist. Er hat in seinem Schrebergarten bestimmt etwas vergessen und will es nun holen.«
Barbara ging über die Treppe nach oben und kauerte neben der Box. Diese war kaum einen Meter vierzig lang. »Wie sollen wir ihn dort hineinlegen?«, rätselte sie und hantierte an der Vorrichtung, die an einen alten Flaschenverschluss erinnerte. Sie zog den Bügel nach hinten und … »Oh mein Gott!« Der Stich in ihrer Brust war so brutal wie eine glühende Speerspitze und sie selbst wie von Sinnen. In der Hartbox lag etwas.
Barbara knallte den Deckel zu.
»Was ist?« Cornelia sandte ihr einen fragenden Blick zu.
»Schau selbst.« Barbara kämpfte gegen aufkommenden Brechreiz.
Cornelia schien beherzter. Sie näherte sich der Hartbox und vergewisserte sich über den makabren Fund. Sie schrie so laut, dass Anna bestimmt erwachte. »Das ist Heiri … zerstückelt …«
»Mit abgetrenntem Kopf. Logisch, oder? Der Platz hätte sonst nicht ausgereicht.«
»Jemand muss uns zuvorgekommen sein.«
»Aber wer war die Person im Subaru?« Barbara hatte sich etwas beruhigt. »Anna stand heute am Fenster wie jeden Tag. Was machen wir jetzt?«
»Wir rufen die Polizei.« Cornelia zeigte sich von der pragmatischen Seite.
»Was willst du zu deiner Verteidigung sagen?«
»Das lass mal meine Sorge sein.« Sie sah Barbara stirnrunzelnd an. »Geh du nach oben. Die haben bestimmt ein Telefon.«
»Ich gehe da auf keinen Fall hoch.«
»Tu nicht so geziert.« Cornelia prüfte den Verschluss an der Hartbox. »Okay, der kann nicht raus.«
Im Treppenhaus hinter der Tür roch es nach Moder. Barbara suchte nach einem Schalter, kippte ihn nach unten. Mattes Licht warf Schatten an die Wände, zeichnete unheimliche Figuren darauf. Cornelia ging weiter ins nächste Geschoss. Barbara folgte ihr angewidert. Der Geruch erinnerte sie an Verwesung, an tote Vögel auf dem Fenstersims, die sie regelmäßig von dort beseitigen musste. Sie prallten gegen die Scheiben, blieben liegen, bis sie sich zersetzten. Bereits der Herbst hatte viele Tote angekündigt. Oben stieß Cornelia die Tür auf, die ins Wohnzimmer führte. Hier musste das Fenster sein, an dem Anna täglich stand.
Barbara schrak zurück. Auch Cornelia blieb wie angewurzelt stehen. Der Lichtkegel reichte gerade so weit, um die Gestalt am Fenster zu entdecken.
»Anna!«
»A… aber …« Barbara vermochte bloß zu stottern. »W… Wer war der Chauffeur im Auto?«
»Alfred?«
»Der fährt keinen Subaru. Zudem hat er geschworen, sich niemals ins Auto seines Vaters zu setzen.«
Anna wandte sich nicht um. Sie war beim Fenster erstarrt, eingekleidet in ein schwarzes schickes Kostüm, welches sie an Hans’ Beerdigung getragen hatte. Sie stand dort wie eine dunkle Figur auf dem Rechteck des Fensters. Einen Moment lang glaubte Barbara, eine Statue zu betrachten.
Cornelia ging näher. Sie, die zeitlebens die Mutigste unter den Schwestern gewesen war. »Anna?«
Die Frau antwortete nicht.
Cornelia stieß sie in die Seite. »Hey … Schwesterherz. Was ist los mit dir? Hast du Heiri gekillt? Er liegt in der Hartbox. Musste mal so kommen. Aber keine Angst, wir stehen auf deiner Seite.«
Anna kippte um. Starr wie eine Säule. Es entstand ein schepperndes Geräusch.
Cornelia fuhr heftig herum. »Das ist eine Schaufensterpuppe, vermaledeit.«
»Ob sie schon lange hier gestanden hat?«, fragte sich Barbara und suchte nach einem Telefon. »Dann hat Anna Heiri umgebracht, wer weiß, wann.«
»Hat er deshalb die Hartbox gekauft?«
Barbara griff nach dem Telefonhörer auf der Festnetzstation und wählte die Nummer der Polizei. Ihre Stimme zitterte, während sie von den Ereignissen am hinteren Dorfende erzählte. »Ich wohne im letzten Haus, im ältesten, das mit den beiden Veranden, neben den zwei Tunnels, die durch den Lopper führen. Und der Tote liegt im Sarg, ehm … in der Hartbox im Haus gleich links gegenüber.« Als sie aufgelegt hatte, sagte sie: »Sie schicken jemanden vorbei.«
»Und, wie fühlst du dich?« Cornelia streifte ihren Arm.
»Ehrlich gesagt bin ich froh, so hat sich das Problem von selbst gelöst. Ich habe mir andauernd die Frage gestellt, wie wir Heiri in die Kiste bringen.«
»Alfred wird bald schon in dieses Haus einziehen und uns in unserem Alltag behilflich sein.«
»Anna, die Nervensäge, sind wir jetzt auch los. Immer hat sie uns wie ein Kleinkind behandelt. Sie wird im Knast schmoren.«
»Ja, ja, und Alfred …« Barbara fühlte sich gut. »Im Keller hat es genügend Rattengift für den schlimmsten Fall.«
Cornelia verzog ihren Mund zu einer Schnute. »Und Salat mit blauen Blumen mag er, glaube ich, auch sehr.« Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht. »Irgendwann werden wir zwei alle drei Häuser besitzen.«
»Freut euch nicht zu früh.« Die Stimme kam von der Tür her.
Barbara und Cornelia wandten sich beide gleichzeitig um. »Anna!«
»Warst du das im Auto?« Barbara wünschte, der Boden unter ihren Füßen würde sich öffnen und sie verschlingen. Und wie sie dastand, ihre älteste Schwester, der sie zu jeder Weihnacht einen Pullover strickte. Wie sie sie ansah, wie bösartig sie war, durchtriebener als Cornelia, hinterhältiger als sie selbst.
»Wer denn sonst?«
»Alfred sagte uns, sein Vater habe die Hartbox gekauft.«
»Nein, das war ich.«
»Hast du Heiri umgebracht?«
»Ich mache mir doch die Hände nicht schmutzig.« Annas Augen funkelten.
»Wer war es dann?« Cornelias Stimme tönte wie ein heiseres Krächzen, als ahnte sie, ihr Neffe könnte der Täter gewesen sein.
»Die Polizei ist auf dem Weg.« Seelenruhig war Anna. »Sie wird auf der Hartbox eure Fingerabdrücke finden. Ihr werdet verurteilt und ins Gefängnis kommen. Dort kommt ihr nicht mehr raus, so lange werdet ihr nicht mehr leben. Pech gehabt.« Anna lächelte vor sich hin. »Aber wir können darüber diskutieren. Kommt, folgt mir.« Sie ging voraus in die Küche, die ein Stockwerk tiefer lag.
Auf dem Küchentisch stand ein aufgeschnittener Kuchen, hübsch dekoriert mit blauen Blüten.
»Ich weiß um eure kriminelle Ader. Ihr könnt wählen zwischen Knast oder einer Henkersmahlzeit. Die Zutaten sind nicht unbekannt. Ich kenne meine Schwestern, war ihnen jahrelang eine Ersatzmutter.«
Cornelia griff nach einem Kuchendreieck. Die blauen Blüten ließ sie auf dem Stück liegen. Sie schob es sich in den Mund, mutig, wie sie war. Die Furchtloseste unter allen. Es vergingen keine drei Minuten, bis sie das Bewusstsein verlor.
In Barbaras Kopf brauste es. Nein, kampflos würde sie nicht aufgeben. Sie langte nach Cornelias Hammer, erhob sich und schwang diesen über Annas Kopf. Sie zählte auf drei und ließ ihn niedersausen. Es gab ein schmatzendes Geräusch. Draußen klang das Martinshorn durch die Nacht. Und im toten Winkel unter der Treppe stand Alfred und lachte sich ins Fäustchen.