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Eine schreckliche Familie
(Bern) Christine Brand
ОглавлениеRudolf Wohlgemuth, Richter
Mein Wecker blökt. Er klingt nicht nur wie ein Schaf, er sieht auch aus wie eines. Ein Geschenk meiner Tochter, was will man machen, sie wäre beleidigt, wenn ich ihn nicht benutzen würde. Ich muss gar nicht erst auf die Leuchtziffern blicken, ich weiß auch so, dass es sechs Uhr früh ist, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Heute hätte er getrost schweigen können, ich bin schon seit Stunden wach.
Der Fall, den ich heute zu beurteilen habe, raubte mir den Schlaf. Eigenartig, dass mir das noch immer passiert, nach all den Jahren am Gericht. Nach all den Morden und Verbrechen. Nach all den Abgründen, in die ich geblickt habe. Es kommt nicht mehr oft vor, aber dieser Fall … der kostet mich den letzten Nerv, schon bevor die Hauptverhandlung begonnen hat. Dabei geht es nicht einmal um einen Toten.
Es gibt eine Angeklagte, die zugleich als Opfer auftritt. Und ein Opfer, das zugleich angeklagt ist. Es geht um Vergewaltigung und Mordversuch, respektive um zwei Mordversuche, denn als der erste nicht gelang, kam es zu einem zweiten, der ebenfalls missglückte.
Klingt kompliziert, ich weiß. Ist es auch. Zwei Verfahren in einem, und natürlich erzählt jede und jeder eine andere Geschichte. Und ich bin mal wieder derjenige, der entscheiden muss, welche davon die wahre ist. Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass Opfer und Beschuldigte und Beschuldigter und Opfer miteinander verheiratet sind, seit vielen Jahren schon, das macht das Ganze nicht einfacher, im Gegenteil. Was wieder einmal zeigt: Wo die Liebe endet, steht oft jemand wie ich, ein Richter. Die Kinder sind die Zeugen und wahrscheinlich die Lebensretter. Wie gesagt, ein komplexer Fall. Eine schreckliche Familie. Würde ich an einen Gott glauben, würde ich dafür beten, dass ich dieses Verfahren ohne Probleme hinter mich bringe und mir ein gerechtes Urteil gelingt. Aber seien wir ehrlich: Welches Urteil ist schon gerecht?
*
Vor Gericht.
Befragung von Robert Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie zunächst als Geschädigten. Darum weise ich Sie darauf hin, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie falsche Anschuldigungen aussprechen, die Rechtspflege irreführen oder jemanden begünstigen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, das habe ich verstanden.«
»Am 1. März sind Sie zu Hause ausgezogen, ist das richtig?«
»Ja.«
»Was war der Grund dafür?«
»Meine Frau und ich haben uns oft gestritten, ich wollte schon früher ausziehen. Aber ich wartete, bis unsere jüngste Tochter achtzehn wurde. Ich dachte, bis dahin gedulde ich mich, die meiste Zeit hielt ich mich sowieso bloß in meinem Zimmer auf.«
»Sind Sie zu diesem Zeitpunkt wirklich ausgezogen oder schliefen Sie noch immer hin und wieder im alten Zuhause?«
»Ich war bereits ausgezogen, bevor ich die neue Wohnung am 1. März bezog, ich lebte eine Zeit lang im Hotel. Zu Hause schlief ich schon lange nicht mehr.«
»Ihre Frau gab aber zu Protokoll, Sie hätten weiterhin jede Nacht bei ihr in der Wohnung verbracht.«
»Nein, das ist nicht so. Fragen Sie im Hotel nach, es liegt in der Wankdorfstrasse in Bern.«
»Wenn Sie schon ausgezogen waren – warum haben Sie sich dann in der Nacht auf den 11. April in der Wohnung Ihrer Frau aufgehalten?«
»Ich arbeite wie sie als Pflegeassistent und hatte Spätdienst. Nach der Schicht rief mich meine Frau an, sie habe eine Tasche mit den letzten Dingen gefüllt, die mir gehören. Sie drohte mir, wenn ich die Sachen nicht sofort abhole, würde sie sie wegschmeißen.«
»Was passierte, als Sie bei Ihrer Frau eintrafen?«
»Sie sagte, ich sähe müde und abgekämpft aus, sie habe mir mein Lieblingsgetränk zubereitet.«
»Und das haben Sie getrunken?«
»Ja, ex, in einem Zug.«
»Wollten Sie danach wieder nach Hause?«
»Ja.«
»Aber Sie blieben.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich nach etwa zehn Minuten die Orientierung verloren. Meine Frau hat mich am Arm gepackt und nach oben gebracht, ich sollte mich in meinem Zimmer hinlegen. Sie sagte, ich sähe nicht gut aus.«
»Sie hatten also doch noch ein Bett in der alten Wohnung.«
»Nur die alte Matratze. Ich hatte mir eine neue gekauft.«
»Und dann?«
»Danach erinnere ich mich an nichts mehr.«
»Können Sie sich erinnern, was passierte, als Sie am Morgen aufgewacht sind?«
»Ich spürte einen Druck am Hals, aber ich kann nicht sagen, warum und woher dieser rührte. Mir wurde schwarz vor Augen, ich kriegte keine Luft mehr. Ich dachte, ich müsste sterben. Da hörte ich Stimmen, Schreie, ich weiß nicht, von wem sie stammten.«
»Ihre Frau war aber mit im Zimmer?«
»Ich habe keine Ahnung, wer sich alles im Raum befand und ob es meine Töchter waren, die geschrien haben.«
»Aber da konnten Sie wieder atmen.«
»Ja, der Druck ließ nach, ich musste sehr stark husten.«
»Geht es Ihnen heute wieder gut?«
»Nein, es geht mir nicht gut. Ich verschlucke mich noch immer dauernd, zudem habe ich Schlafstörungen und heftige Albträume. Ich habe zwar überlebt – aber mein Leben ist nicht mehr dasselbe.«
*
Befragung von Miranda Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie zunächst als Beschuldigte. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern – wenn Sie Aussagen machen, können die als Beweismittel gegen Sie verwendet werden. Sie sind des versuchten Mordes angeklagt. Konkret werden Sie beschuldigt, Ihrem Mann seinen Lieblingsdrink mit Traubensaft und Honig angerührt und mit einer nicht bekannten Anzahl Tabletten Risperidal und Temesta versehen zu haben, in der Absicht, ihn zu töten. Haben Sie verstanden, was Ihnen vorgeworfen wird?«
»Ich habe verstanden, was Sie sagen. Aber so war es nicht! Gut, ich gebe zu, dass ich ihm die Medikamente in den Drink getan habe, das habe ich, das kann ich nicht leugnen, aber es war trotzdem ganz anders, als Sie sagen. Ich wollte ihn nicht töten – ich wollte nur meine Ruhe vor ihm haben! Damit ich in der Nacht ruhig schlafen konnte.«
»Wie viele Tabletten haben Sie ihm verabreicht?«
»Ich kann mich nicht erinnern, wie viele es waren. Aber es waren einige. Sie müssen wissen, ich war in panischer Angst und wusste nicht, was ich tat. Ich wollte doch nur meine Ruhe haben.«
»Warum hatten Sie Angst?«
»Weil er mich immer wieder belästigt hat. Weil er mich über Jahre vergewaltigt hat. Brutal vergewaltigt hat. Immer wieder hat er Pornofilme mit nach Hause gebracht und mich gezwungen, alles nachzuspielen. Er benutzte dafür eine Schlagrute und Zangen. Jahrelang musste ich unter ihm leiden. Er hat mich drangsaliert.«
»Darum haben Sie versucht, ihn umzubringen? Aus Rache?«
»Nein, ich wollte ihn nicht töten! Ich wollte doch bloß, dass er einschläft und mich in Ruhe lässt.«
»Sie sagen, Ihr Mann habe Sie jahrelang vergewaltigt. Wann begann das?«
»Schon früh, wenige Jahre nach unserer Hochzeit. Ich war 24, als ich ihn heiratete, das war 1993. Ich erinnere mich nicht, wann es genau begann. Aber die letzten zwanzig Jahre waren die Hölle.«
»Trotzdem sind Sie geblieben. Sie haben gemeinsam vier Kinder gezeugt.«
»Was hätte ich tun sollen? Er hat mir mit dem Tod gedroht, wenn ich mich weigerte. Er würde mich umbringen, wenn ich ihn verlasse.«
»Jetzt aber wollten Sie sich doch endlich trennen.«
»Ja. Er hat eine neue Freundin. Auf einmal wollte er von selbst gehen.«
»Ist es richtig, dass Ihr Mann bereits einen Monat vor der Tat eine eigene Wohnung gemietet hat?«
»Ja, aber er war immer noch ständig bei uns.«
»Ihr Mann sagt etwas anderes, er erzählte uns, er sei in jener Nacht nur zu Ihnen gekommen, weil Sie ihn aufforderten, die letzten Sachen abzuholen.«
»Nein, er kam, um zu Hause zu schlafen.«
»Wo hatte er seine Kleidung?«
»In der neuen Wohnung.«
»Also trug er immer dasselbe?«
»Unterhosen brachte er jeweils mit.«
»Warum haben Sie ihn nicht einfach nach Hause geschickt, statt zu versuchen, ihn umzubringen, wenn Sie Ihre Ruhe haben wollten?«
»Er hätte nicht auf mich gehört. Er sagte, er werde mir den Schlüssel nie zurückgeben.«
»Sie hätten das Schloss auswechseln können.«
»Das hätte 500 Franken gekostet! Herr Gerichtsvorsitzender, was ich sage, ist die Wahrheit, er hat jeden Tag bei uns geschlafen und gegessen, und er wollte mich weiter belästigen und vergewaltigen. Er ließ sein Messer und seine Schlagrute in unserer Wohnung, und eine Matratze in seinem Zimmer.«
»Auf dieser Matratze ist er nach dem Medikamenten-Cocktail eingeschlafen.«
»Ja.«
»Am Morgen danach haben Sie nachgesehen, ob er wirklich tot ist.«
»Nein! Ich habe nachgesehen, ob er noch schläft.«
»Unter Punkt zwei wirft Ihnen die Staatsanwaltschaft Folgendes vor: Als Sie festgestellt haben, dass Ihr Mann noch lebte, haben Sie versucht, ihn mit einem Stromkabel zu erdrosseln. Was sagen Sie dazu?«
»Es war nie meine Absicht, ihm etwas anzutun.«
»Wenn Ihre Töchter, aufgeschreckt durch den Lärm, nicht ins Zimmer gestürzt wären, wäre Ihr Mann jetzt tot. Warum wollten Sie ihn erdrosseln?«
»Ich wollte mich vor ihm schützen. Er hat mich angegriffen und gewürgt. Ich tastete nach etwas, fand das Kabel auf dem Boden und habe danach gegriffen.«
»Sie wollen also Notwehr geltend machen.«
»Ich war in Todesangst und musste mich wehren.«
»Obwohl er noch halb im Delirium gewesen sein muss nach dem Medikamenten-Cocktail, behaupten Sie, er sei gleich auf Sie losgegangen?«
»Er war wach. Wahrscheinlich wollte er sich rächen, weil ich ihn betäubt hatte.«
»Ihr Sohn sagte, das Kabel – ein Ladekabel – habe immer im Wohnzimmer gelegen, wo sich auch das Gerät befindet, das damit geladen wird. Haben Sie das Kabel mit ins Zimmer raufgenommen, als Sie nachschauen gingen, ob Ihr Mann noch lebte?«
»Nein, das Kabel war schon da.«
»Laut dem medizinischen Bericht wies Ihr Mann eine Strangulationsmarke am Hals und Punktblutungen im Kopfbereich auf. Frau Büttikofer, er wurde von hinten gewürgt. Das ist schwer mit Ihrer Schilderung in Einklang zu bringen, dass er Sie angegriffen hatte. Sie wollten ihn erwürgen.«
»Nein! Nein, so war das nicht. Ich wollte ihn nicht töten, ich musste mich verteidigen. Ich hatte Angst, dass er mich umbringen würde. Das war Notwehr.«
*
Befragung von Robert Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie nun als Beschuldigter in diesem Verfahren. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern – wenn Sie Aussagen machen, können die als Beweismittel gegen Sie verwendet werden. Sie sind der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung angeklagt. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, das habe ich verstanden.«
»Was sagen Sie zu den Vorwürfen?«
»Die Anschuldigungen stimmen nicht. Ich wollte nichts mehr von meiner Frau. Sie wusste, dass ich mich scheiden lassen würde, dass ich eine neue Freundin habe, ich habe ihr das offen gesagt. Sie war es, die es immer wieder bei mir versuchte, die mir schmeichelte und mir sagte, ich sei ihr Herz und ihre Seele. Ich habe nur mit ihr geschlafen, wenn sie es wollte.«
»Ihre Frau erzählt etwas ganz anderes. Sie sagt, Sie hätten sie jahrelang vergewaltigt. Sie hätten sie gezwungen, Gewalt-Pornofilme nachzuspielen. Sie hätten sie gewürgt, mit der Rute geschlagen, obwohl Sie gewusst hätten, dass sie keinen Sex mit Ihnen haben wollte.«
»Das ist gelogen. Warum hat sie mich denn nie angezeigt? Warum ist sie bei mir geblieben? Warum ist sie nie ins Frauenhaus gezogen?«
»Ihre Frau sagt, Sie hätten ihr gedroht, sie umzubringen, wenn sie Sie verlasse.«
»Das stimmt nicht. Es war gerade umgekehrt. Sie war diejenige, die Gewalt ausgeübt hat. Einmal hat sie mir mehrfach mit der Fernbedienung des TVs auf meinen Kopf geschlagen und die gesamte Einrichtung des Wohnzimmers zerstört. Ich musste die Polizei rufen und habe sie angezeigt. Meine Frau wurde daraufhin für zehn Tage mit einem Kontaktverbot belegt und durfte nicht nach Hause kommen. Das finden Sie in den Akten.«
»Wenn ich Sie ansehe, muss ich sagen, dass ich das kaum glauben kann. Sie sind Ihrer Frau körperlich überlegen. Wie soll sie Sie misshandelt haben?«
»Sie kennen sie nicht. Ich bin nicht stärker als sie. Sie hat mit Gegenständen auf mich eingeschlagen, und ich habe mich nicht gewehrt, weil ich Gewalt ablehne, ich könnte nie eine Frau schlagen.«
»Ihre Frau kann die Vergewaltigungen sehr genau beschreiben, die Gewalt, die Sie ihr angetan haben sollen.«
»Ich habe nie etwas getan, was sie nicht wollte.«
»Wir haben auch mit Ihren Kindern gesprochen. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das hat sich verloren.«
»Ihre Kinder haben sich hinter Ihre Frau und gegen Sie gestellt. Ihre jüngste Tochter hat sogar bestätigt, dass Sie Ihre Frau vergewaltigt haben sollen.«
»Hören Sie, ich liebe meine Kinder, die drei älteren sind gute Kinder. Aber meiner jüngsten Tochter dürfen Sie nicht glauben. Sie ist kriminell. Man hat sie mehrmals beim Stehlen erwischt, und sie lügt, wenn sie solche Dinge erzählt.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Meine Frau hat sie dazu angestiftet. Ich hatte schon früher Angst, dass sie mich töten wollten. Zweimal fühlte ich mich seltsam, nachdem ich bei meiner Frau Tee getrunken hatte. Und dann war da noch die Sache mit dem Honig.«
»Mit dem Honig?«
»Meine jüngste Tochter brachte mir zehn Gläser Honig, teurer Honig, sie wollte ihn mir schenken, es war klar, dass sie ihn gestohlen hatte. Mir fiel auf, dass drei Gläser schon mal geöffnet worden waren, darum habe ich sie alle gewogen. Die drei Gläser hatten ein anderes Gewicht. Ich glaube, dass sie mich bereits da vergiften wollten.«
»Das höre ich zum ersten Mal. Warum haben Sie das bei der Polizei nicht ausgesagt?«
»Es ist mir gerade jetzt erst wieder in den Sinn gekommen.«
»Falls Sie, wie Sie behaupten, Ihre Frau nicht vergewaltigt haben – warum sollte Ihre Frau Sie umbringen wollen? Was wäre ihr Motiv?«
»Das Geld. Sie hat herausgefunden, dass ich zwei Liegenschaften besitze, von denen sie zuvor nichts wusste. Sie fürchtete, dass ich mein Geld und meinen Besitz mit meiner neuen Freundin teilen werde und sie durch die Scheidung alles verliert.«
*
Befragung Miranda Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Frau Büttikofer, wussten Sie, dass Ihr Mann über zwei größere Liegenschaften und demnach über ein ziemliches Vermögen verfügt?«
»Ja, das ist mir bekannt.«
»Seit wann?«
»Seit sechs Monaten.«
»Ihr Mann hat Ihnen das verheimlicht?«
»Ja, er hat mir nichts davon gesagt.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich habe seine Unterlagen durchstöbert, bevor er ausgezogen ist.«
»Der Staatsanwalt geht davon aus, dass Sie Ihren Mann noch vor der Scheidung umbringen wollten, um sich das Vermögen zu sichern.«
»Hören Sie: Ich bin hierhergekommen, um die Wahrheit zu sagen. Mein Mann hat all die Jahre mit mir gespielt, er hat mich angelogen, er hat mich vergewaltigt, er hat mich fälschlicherweise bei der Polizei angezeigt. Das, was Sie hier behaupten, stimmt nicht. Es ging nicht ums Vermögen, die Liegenschaften würden sowieso an unsere Kinder gehen. Auch bezweifle ich, dass sie viel wert sind, sie sind in keinem guten Zustand. Doch das hat alles nichts mit diesem Fall zu tun. Ich habe meinen Mann angegriffen, weil ich mich verteidigen musste.«
»Nachdem Sie ihn zuvor beinahe mit einer Überdosis Tabletten umgebracht hatten.«
»Ruhiggestellt, damit er mich in Frieden ließ, damit ich endlich einmal schlafen konnte, damit er mich nicht wieder vergewaltigte.«
»Sie sagten, Sie erinnerten sich nicht, wie viele Tabletten Sie ihm verabreicht haben.«
»Nein.«
»Sie haben zwei Tage zuvor 20 Tabletten Risperidal und 14 Temesta gekauft. Gefunden hat die Polizei noch drei Temesta-Tabletten. 31 Tabletten sind verschwunden.«
»Ich weiß wirklich nicht mehr, wie viele es waren. Ich habe das ganz schnell gemacht, und ich bereue, dass ich es getan habe.«
»Wer wusste alles von den Medikamenten?«
»Nur ich!«
»Auf einer leeren Tabletten-Verpackung haben wir nicht nur Ihre, sondern auch die DNA Ihrer Tochter Samira gefunden. Können Sie uns das erklären?«
»Meine Töchter haben aufgeräumt, ich hatte die leeren Packungen im Kühlschrank gelassen.«
»Wann war das?«
»Am nächsten Morgen.«
»Nachdem die Töchter ihren Vater gerettet hatten? Was haben Sie getan, als die Töchter hereingestürzt sind?«
»Das war ein ganz schrecklicher Moment, es war, als wäre ich aus einem üblen Traum erwacht. Ich sagte ihnen, sie müssten sofort den Notruf wählen.«
»Ihre Tochter Samira sagte aus, sie hätten Sie regelrecht von Ihrem Mann wegzerren müssen.«
»Ich war nicht ich selbst. Sie musste mich ohrfeigen, damit ich zur Besinnung kam. Erst da realisierte ich, was geschehen war.«
»Was wäre passiert, wenn Ihre Töchter nicht hereingestürmt wären?«
»Ich hoffe, dass nichts Schlimmes passiert wäre. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich sehe ein, dass das nicht gut war. Aber ich stand unter einer enormen seelischen Belastung. Ich wollte ihn nicht töten. Ich bin unschuldig. Das hier ist ein einziger, riesiger Irrtum.«
*
Rudolf Wohlgemuth, Richter
Ich habe es ja geahnt. Zwei Parteien, zwei verschiedene Wahrheiten, und ich musste es wieder einmal richten. Jeder hat ein Urteil zu seinen Gunsten erwartet, und keiner wird am Schluss zufrieden sein.
Miranda Büttikofer ist eine kleine, energische Frau. Rundes Gesicht, schwarze zähe Locken, ihr Pferdeschwanz gleicht einem Reisigbesen. Ihre Augen sind lauernd und anklagend, kleine, dunkle Stecknadeln. Sie ist etwas stämmig, untersetzt, sie wirkt vorlaut, spricht so, als würde sie der ganzen Welt einen Vorwurf machen für alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist. Nur sie selbst trägt keine Schuld. Mehrmals ist sie mir ins Wort gefallen, es half kein Zurechtweisen.
Robert Büttikofer ist einen Kopf größer als sie, gräuliches Haar, der Hals zu kurz geraten, als würde er pausenlos die Schultern hochziehen. Seine Mimik ist grimmig, die Augen wirken leblos, als wäre ihm alle Freude verloren gegangen, falls sie überhaupt jemals in seinem Leben existiert hat. Er sieht aus, als könnte er jede gute Laune im Bruchteil einer Sekunde vertreiben.
Nicht, dass ich damit sagen will, dass ich mich von dem Äußeren und der Art der beiden habe beeinflussen lassen, bewahre. Ich will damit nur deutlich machen: Sie wirkt nicht wie eine hilflose, zerbrechliche Person, die sich nicht wehren kann. Er wirkt nicht wie ein naiver, verschupfter Ehemann, der vor seiner Frau kuscht.
Um es kurz zu machen: Ich glaube ihr nicht. Das mag jetzt hart klingen, es ist aber so. Ich nehme ihr nicht ab, dass sie ihren Mann nicht töten wollte. Nur zwei Tage vor der Tat hat sie sich von ihrer Ärztin die Tabletten verschreiben lassen. Ich bin gegen Zufälle. Die Dosis war massiv, damit will man niemanden zum Schlafen bringen, damit will man jemanden um die Ecke bringen. Ihr Mann muss am nächsten Morgen völlig belämmert gewesen sein. Undenkbar, dass er sie in diesem Zustand angegriffen hat. Und selbst wenn: Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand in Notwehr von hinten erwürgt worden ist. Darum glaube ich ihr nicht.
Nun, auch ihm glaube ich nicht. Zumindest nicht alles. Aber die Vergewaltigungen können ihm nicht nachgewiesen werden. In diesem Anklagepunkt gibt es einzig die Anschuldigungen seiner Frau und die etwas krude Aussage der gemeinsamen Tochter. Andere Indizien sprechen dagegen. Für einen Schuldspruch genügt das nicht. Zu dünn.
Also habe ich Miranda Büttikofer zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Sie hat versucht, ihren untreuen Mann erst zu vergiften und dann zu erdrosseln, weil sie eifersüchtig auf ihre Nebenbuhlerin war und das Vermögen der Familie sichern wollte. Ihren Mann Robert Büttikofer habe ich im Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« vom Vorwurf der Vergewaltigung und sexueller Nötigung freigesprochen. Was aber nicht heißt, dass ich ausschließe, dass er es getan hat.
Miranda Büttikofer ist nach dem Verdikt zusammengebrochen, wir mussten die Ambulanz aufbieten. Die jüngste Tochter Samira, die mit ihren Geschwistern den Prozess mitverfolgt hatte, hat laut aufgeschrien und wollte auf mich losgehen. Wir mussten den Sicherheitsdienst alarmieren. Das hat mich alles nicht beeindruckt. So habe ich geurteilt und begründet. Dies ist im Sinne des Gesetzes das beste und gerechteste Urteil, zu dem ich in diesem Fall kommen konnte. Ich ziehe den Schlussstrich und gehe mit einem guten Gewissen ins Bett.
Mein Wecker blökt. Es ist sechs Uhr früh, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Auch heute hätte er getrost schweigen können, denn ich liege schon seit Stunden wach. Dieser Fall … Erneut hat er mir den Schlaf geraubt. Das mit dem Schlussstrich hat nicht funktioniert. Die Sache rumort noch immer in meinem Kopf herum, etwas stört mich, aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist.
Ich muss das zur Seite legen, muss mich auf den neuen Fall konzentrieren, der heute auf mich wartet; ein Mann wird von seiner Exfrau beschuldigt, sich an ihrer Deutschen Dogge sexuell vergangen zu haben. Das wird wieder ein Theater geben.
Aufstehen, frühstücken, rasieren, noch einmal die Anklageschrift durchgehen, schon bin ich wieder unterwegs zum Gericht. Ich gehe immer zu Fuß. Mein Arbeitsweg ist ein Spaziergang durch Berns Lauben, während die Altstadt erwacht. Dieser Moment der Ruhe tut mir gut, bevor sich neue menschliche Abgründe vor mir auftun.
Beim großen Brunnen in der Gerechtigkeitsgasse wechsle ich die Straßenseite, über mir auf dem Sockel steht die Statue der Justitia, die Augen verbunden, die Waage in der einen Hand. »Guten Morgen«, sage ich laut zu ihr, auch das ein Ritual. Sie antwortet mir nie.
So war das zumindest bis heute.
»Sie Arschloch!«, brüllt mir in dem Moment eine Frauenstimme entgegen.
Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fahre zusammen und blicke erschrocken zu Justitia hoch.
»Sie haben die falsche Person verurteilt!«
Erst jetzt realisiere ich, dass nicht Justitia schreit, sondern eine junge Frau, die hinter dem Brunnentrog hervorspringt. Sie kommt mir bekannt vor.
»Mein Vater war ein Scheusal, er hat uns jahrelang gequält. Nicht meine Mutter, mein Vater sollte hinter Gittern sitzen.«
Samira. Die jüngste Tochter. Die gestern im Gerichtssaal auf mich losgehen wollte. Ich schaue mich um, ob ich jemanden zu Hilfe rufen kann. Doch da ist niemand, und auf Justitia kann ich nicht zählen.
»Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Sie steht jetzt direkt vor mir und kommt mir zu nah, ich weiche zurück, stolpere um ein Haar.
»Und wenn, dann nicht meine Mutter, sondern ich! Ich habe ihm die Tabletten in den Drink getan, ich wollte ihn erwürgen! Und ich hätte es zu Ende gebracht, wenn meine Schwester und meine Mutter mich nicht zurückgehalten hätten.«
Sie will mich schubsen. Ich weiche aus. Mein Instinkt befiehlt mir, wegzurennen, doch etwas hält mich zurück. Was, wenn sie die Wahrheit spricht?
»Warum sagen Sie das erst jetzt, erst hier, wieso haben Sie das nicht früher gestanden?«
»Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Sie will die Strafe für mich tragen, damit mein Leben nicht zerstört ist. Das hier ist kein Geständnis, das werden Sie nie kriegen. Ich will nur, dass Sie eins wissen: Sie haben falsch geurteilt. Sie sind ein schlechter Richter.«
Sie speit mir die Worte ins Gesicht, stößt mich mit beiden Händen gegen die Brust, ich rudere mit den Armen, verliere das Gleichgewicht, stürze, bin am Boden, reiße die Hände vors Gesicht, doch der Schlag folgt nicht, sie dreht sich um und rennt davon, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.
Verblüfft bleibe ich zurück. Ich stehe auf und klopfe meinen Anzug ab, blicke zu Justitia hoch und kann mir ein Ächzen nicht verkneifen. Die Glocken der Nydeggkirche schlagen die Viertelstunde. Ich muss weiter. Die nächste Verhandlung beginnt gleich. Wieder muss ich ein Urteil finden.
Doch welches Urteil ist schon gerecht?