Читать книгу Kopflos am Aasee - Christoph Güsken - Страница 11

5. Kapitel

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Die Nacht zum Donnerstag war vergleichsweise mild, die Temperaturen fielen nicht unter Null. De Jong, der alle Klamotten anbehalten hatte und sich zusätzlich in seinen neuen Mumienschlafsack gepackt hatte, träumte von Camillas mollig warmer Kajüte und fand im Übrigen, dass man auch auf dem Alten Mädchen nicht frieren müsse. Es war kühl, wie auch nicht, die Heizung war ja auch defekt. Angesichts dieser Tatsache war es an Bord sogar vergleichsweise mild.

Der Morgen startete diesig, mit Nebelschleiern, die noch vor Sonnenaufgang aus dem Dortmund-Ems-Kanal aufgestiegen waren und die blasse Sonne einhüllten, als hätten sie einen blickdichten Duschvorhang zugezogen. De Jong schälte sich aus seinem Schlafsack und beschloss, draußen auf dem Achterdeck sein Frühstück einzunehmen.

Als er gerade von seiner Brötchenhälfte abgebissen hatte, klingelte sein Handy, das neben dem Teller lag.

»Ja?«, meldete er sich.

»Hast du den Vertrag inzwischen zurückgeschickt?« Es war Bühlow.

»Welchen Vertrag?«

»Der Chef macht dich zum beratenden Profiler auf Honorar-Basis. Ich hab dir doch alles zugeschickt.« Und als de Jong nicht reagierte: »Hast du das noch gar nicht durchgelesen?«

De Jong hörte gerade zum ersten Mal von der Existenz eines solchen Vertrags. »Doch, natürlich. Von A bis Z.«

»Und? Ist er für dich okay so?«

»Denke schon«, sagte de Jong vage.

»Gut, dann schick ihn doch unterschrieben an den Chef, damit wir starten können.«

»Und was muss ich dann machen?«

»Aber das steht doch alles drin. Du bist mir zugeteilt. Ich bin der Leiter der Ermittlung. Ich brauche von dir ein Profil des Täters.«

»Ein Profil? Wofür hältst du mich? Für einen Psychologen?«

Man konnte geradezu hören, wie Hauptkommissar Bühlow stutzte. »Hast du nicht gerade gesagt, du hast dir alles durchgelesen?«

»Ja, schon, aber … die eine oder andere kleine Frage hätte ich eben doch noch. Wie zum Beispiel die.«

»Du bist kein Psychologe. Aber Krimischreiber. Darum geht’s hier. Wir vermuten, dass die Tat mit Nöcks Thrillern zusammenhängt. Dass der Täter darauf Bezug nimmt. Und du weißt, wie der Mann tickt. Bist wie er.«

»Moment.« De Jong wurde ärgerlich. »Genau da ist doch der Hase begraben.«

»Welcher Hase?«

»Du erwartest von mir, dass ich einen Wisch unterschreibe, auf dem ich bestätige, dass ich so bin wie einer, der einem Menschen ohne mit der Wimper zu zucken den Kopf abschlägt. Dass ich wie er ticke. Dass wir es vielleicht nur zufälligen Umständen verdanken, dass ich bis jetzt noch nicht selbst mit dem Schwert losgezogen bin.«

»Also, jetzt übertreibst du aber ziemlich …«

»Ich soll keinen Vertrag unterschreiben, sondern ein Geständnis. Wenn auch für eine Tat, die noch nicht begangen wurde.«

Eine Weile blieb es still in der Leitung. So lange, bis de Jong schon fragen wollte: Bist du noch dran?

»Okay, dann verzichtest du auch auf die zweitausendfünfhundert Euro.«

»Zweitausendfünfhundert?« De Jong wurde für einen Moment schwindlig von der Summe, auf die er verzichtete.

»Hast du den Wisch jetzt gelesen oder nicht?«

»Sicher, sag ich doch, aber …« Zweitausendfünfhundert Mäuse! »Achim, was hältst du davon, wenn wir uns zusammensetzen und alles auf den Tisch legen? Dann können wir klären, ob ich euch überhaupt eine Hilfe sein kann.«

Wieder dauerte es geraume Weile, in der Bühlow der Enttäuschung darüber Raum gab, dass de Jong, von dem er sich Hilfe versprochen hatte, jetzt alles so kompliziert machte. »Also gut. Ich könnte um Mittag zwischen eins und halb zwei. In der Friesen-Schmiede

»Gern. Wo ist denn das?«

»Das ist die Polizei-Kantine. Friesenring. Deshalb Friesen-Schmiede

»Geht das nicht woanders?«, nörgelte de Jong. »Ich habe eine Kantinen-Allergie.«

»Wir können uns auch in einem Park treffen oder an einer Bushaltestelle. Du bist doch derjenige, der alles auf den Tisch legen wollte.«

»Na gut. Dann bis gleich. – Warte, noch eine letzte Frage: Diesen Vertrag – hast du den per Mail geschickt oder per SMS?«

Bühlow hörte sich jetzt wirklich sauer an: »Du hast ihn also doch noch nicht gelesen!«

»Nein, nicht so richtig. Tut mir leid. Aber das ist das erste, was ich jetzt gleich mache.«


De Jong fand den Honorarvertrag als PDF-Dokument in seinem E-Mail-Postfach. Er war recht allgemein gehalten, nichts Besonderes, und davon, dass der Unterzeichnende bestätigte, wie irgendjemand zu ticken, konnte keine Rede sein. Angesichts der Höhe des Honorars sah es eher so aus, als hätte Hauptkommissar Bühlow für seinen Beinahe-Kollegen ganz schön was herausgeholt. De Jong beschlich ein schlechtes Gewissen, weil er Bühlow eigentlich hätte danken müssen; stattdessen hatte er ihm diese schräge Szene am Telefon gemacht. Also druckte er das Dokument aus, unterschrieb es und scannte es ein, um es an die Kripo Münster zu schicken. Anschließend simste er an Bühlow: Vertrag ratifiziert und abgeschickt.

Dann an die Arbeit, kam es knapp zurück.

… Arbeit?

Vielleicht liest du dich schon mal in die Materie ein.

Das reicht aber nicht. Wenn schon, kommt alles auf den Tisch.

Na schön. Also dann bis gleich am Friesenring.

De Jong räumte die Frühstückssachen unter Deck. Der Duschvorhang war inzwischen aufgegangen, so dass es geradezu eine Freude war, sich in die Stadt zu begeben, wo die Sonne alle herbstlichen Farben zum Leuchten brachte.

Eine gute Viertelstunde später erreichte der ehemalige Kommissar und angehende Honorar-Profiler das Polizeipräsidium am Friesenring, und obwohl er unterwegs in einer Buchhandlung Halt gemacht hatte, um sich den Köpfesammler von Charles Nöck zu besorgen, war er viel zu früh, bis zur Verabredung mit Bühlow in der Schmiede war es noch mehr als eine Stunde. Aber de Jong wusste die Zeit zu nutzen. Er zog sein Handy, wählte Camillas Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. Also entfaltete er den bunten Flyer, den sie ihm gestern zu später Stunde zugesteckt hatte. Laut Anfahrt-Skizze lag die Praxis für Paartherapie Gulik & Fromm ganz in der Nähe.

Die Räumlichkeiten befanden sich im obersten Stockwerk eines der Gründerzeithäuser im Kreuzviertel – mit blendend weißer Fassade, an der das ganze Jahrhundert spurlos vorübergegangen zu sein schien, was das Gebäude hundertmal neuer aussehen ließ als die nagelneuen Bürohäuser, die gleich um die Ecke auf einem ehemaligen Schulhof wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Innen war das Haus so intensiv kernsaniert, dass man den Geruch der frisch ausgepackten Einrichtung einzuatmen glaubte und sich selbst bei jedem Schritt die Treppe hinauf älter und renovierungsbedürftiger vorkam. Ideal für ein Objekt, das mit therapeutischen Praxen regelrecht gesegnet war, mit einer Praxis für Gruppentherapie im Erdgeschoss, für Naturheilverfahren darüber und Physiotherapie im zweiten.

De Jong rechnete nicht damit, die Praxis offen vorzufinden, nahm aber auf gut Glück den Türknauf in die Hand. Die Tür war nicht verschlossen, also trat er ein. Ihn erwartete ein schlicht, aber ansprechend gehaltener Empfangstresen – helles Holz mit Glas- und Aluminiumelementen. Hohe Sprossenfenster sorgten für hereinflutendes Sonnenlicht, linker Hand befand sich der Wartebereich, geradeaus ein kleiner, in frischen Farben gehaltener Flur, der zu den beiden Therapieräumen führte – Raum zwei für Hauke Fromm, Raum drei für Dr. Gulik. Dahinter kamen nur noch eine Küche und die Toiletten.

De Jong ließ sich auf einem weichen Drehstuhl hinter dem Empfangstresen nieder. Gegenüber an der Wand hing ein abstraktes Kunstwerk, das denen glich, die er auf der Medea gesehen hatte. Hinter dem Computermonitor befand sich eine Art schwarzes Brett, auf dem mit Heftzwecken allerhand Zettel befestigt waren. Post-its und Urlaubspostkarten. Eine zeigte die Skyline einer mittelalterlichen Stadt – Greetings from Aberdeen stand darunter in einer fetten, roten Schrift. De Jong schaute sich die Rückseite an. Sie war aus dem vorletzten Sommer und stammte laut krakeliger Unterschrift von Hauke. Camilla hatte, wie eine andere Postkarte erwies, etwa vier Wochen später in Sidney geweilt. Er in den kalten Norden, sie in den heißen Süden. Vielleicht sollte ich meine Suche also nicht hier, sondern in Schottland beginnen, überlegte de Jong.

Er zog das Foto aus der Tasche. Das Porträt eines Mannes Anfang oder Mitte vierzig mit glattem Gesicht, das leicht glänzte, und einer modischen Igelfrisur. Aus dem Mundwinkel baumelte lässig eine E-Zigarette. Irgendwie nicht der Typ Therapeut, fand de Jong, er sah eher nach einem Hipster aus, der gerade irgendein Start-up anschob. Fromm hatte ein breites, leicht herablassendes Lächeln auf den Lippen und sein Blick war auf etwas gerichtet, das sich seitlich von ihm, außerhalb des Bildes, befand; jetzt erst erklärte sich das seltsame Format des Fotos: Auf der linken Seite wies es eine unregelmäßige Schnittkante auf. Jemand hatte dasjenige, auf das Hauke blickte, kurzerhand abgeschnitten. Wer? Camilla? Hatte sie geschnitten oder war sie diejenige auf dem Bild? Oder beides? De Jong konnte selbst nicht fassen, was für ein lausiger Detektiv er war, und schwang sich aus dem Stuhl.

Im Wartezimmer stieß er auf ein weiteres schwarzes Brett – hier wurden die Klienten auf Workshops, Kurse und Veranstaltungen zum Thema Paartherapie hingewiesen. Zum Beispiel auf das Freundlichkeits-Training nach C. Gulik, jeden zweiten Mittwoch im Monat, oder ein Super-Sparangebot: Pärchen-Therapie. Die Paartherapie-light zum Kennenlernen. Fünfzig Prozent Ermäßigung, jetzt anmelden! Ein bunter Flyer warb für einen Wochenendworkshop, der in der Uniklinik stattfand:

Ars belli – die Kunst des Streitens nach U. von Hengebrügge. An diesem Wochenende werden wir in die grundlegenden Streittechniken einer Zweierbeziehung eingeführt. Wir lernen, dass es gar nicht so leicht ist, einen Streit einfach so »vom Zaun zu brechen«, und werden das höchst komplexe Geschehen in seine unterschiedlichen Phasen aufgliedern und aufmerksam anschauen. In Kleingruppen werden wir anschließend unter anderem folgende Fragestellungen in Angriff nehmen: Wie gewinne ich den Konflikt, und wenn nicht, wie sieht ein Waffenstillstandsabkommen aus? Die TeilnehmerInnen erwartet ein spannendes Wochenende, aus dem sie viel für ihre eigene Lebens- und Beziehungssituation ziehen werden. (Begrenzte Teilnehmerzahl, nur Paare, rechtzeitig anmelden!)

De Jong fuhr herum, als sich plötzlich jemand hinter ihm räusperte.

Da stand eine Frau. »Wie? Ist jetzt doch offen?«, fragte sie verwundert. Die Frau war klein, dunkelhaarig und schätzungsweise Mitte vierzig. Sie trug eine dickrandige Brille, die die Augen größer aussehen ließen, als sie waren. Über die Jeans hatte sie eine Schürze mit einem Blumenmuster geschnürt.

»Wer sind Sie, bitte?«, erkundigte sich de Jong.

»Dasselbe kann ich Sie ja wohl fragen.«

»Und? Tun Sie’s?«, fragte de Jong zurück.

Sie musterte ihn, indem sie den Kopf zur Seite neigte. »Schymanski, Ludmila«, sie reichte ihm die Hand. »Ich mache hier sauber.«

»De Jong, Niklas«, sagte de Jong. »Ich bin auf der Suche nach Hauke Fromm. Haben Sie ihn zufällig gesehen?«

»Der Chef ist doch in Sachen Forschung unterwegs, oder nicht? Am besten, Sie rufen an und lassen sich von der Frau Doktor einen Termin geben.«

»Ich bin kein Patient«, sagte de Jong. »Was für eine Forschung?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Irgendwas Philosophisches.«

»Sie meinen Psychologisches?«

»Oder so. Wollen Sie einen Kaffee?«

Der Exkommissar sagte nicht nein und folgte Ludmila den Flur entlang in eine winzige Küche. Sie nahm eine Glaskanne von der Heizplatte, füllte die Kaffeemaschine mit Wasser und schaltete sie ein.

»Kennen Sie Dr. Fromm näher?«, fragte de Jong, nachdem sie eine Weile ihrem Schnarchen und Röcheln gelauscht hatten.

Sie nickte. »Bin selbst lange Patientin gewesen. Na ja, damals waren wir noch zu zweit.«

»Verstehe«, sagte de Jong. »Es nennt sich schließlich Paartherapie.«

»Genau. Aber dann hat sich mein guter Sergej von mir getrennt, wegen einer Schlampe, die eigentlich noch ein Kind war. Eine Schande. Unterhalt zahlt er auch keinen.«

»Tja, da hat das mit der Paartherapie wohl nicht so ganz geklappt.«

»Wer weiß das schon?« Sie zuckte mit den Schultern. »Immerhin haben sie mir ja die Stelle hier gegeben. So hab ich wenigstens mein Auskommen. Insofern …«

Die Kaffeemaschine hörte auf zu schnarchen. Frau Schymanski nahm zwei Tassen aus einem Hängeschrank, füllte sie mit Kaffee und reichte eine de Jong.

»Ich vermute, die Praxis läuft nicht schlecht«, sagte der Exkommissar. »Bestimmt können die beiden sich vor Klienten nicht retten.«

Ludmila pustete in ihr Heißgetränk, so dass ihre Brille beschlug. Sie beugte sich zu de Jong herüber. »Da ist es auch immer ziemlich abgegangen. Aber ich glaube, das hat die Leute angezogen. Sie fanden das spannend.«

»Abgegangen? Was meinen Sie damit?«

»Herr Doktor und Frau Doktor. Die haben es knallen lassen. Das ganze brutale Spektrum. Manchmal haben sie tagelang so getan, als würden sie sich überhaupt nicht kennen. Eisiges Schweigen zwischen ihnen. Lange Gesichter, von morgens bis abends. Und dann wieder haben sie sich auf der Toilette so laut gezofft, dass man es im ganzen Haus gehört hat. Sogar noch unten an der Bushaltestelle.«

Das hörte sich fast so an, als wären die beiden Psychologen nicht nur Kollegen, sondern auch ein Paar gewesen. »Die beiden hatten Differenzen? Welcher Art?«

Schulterzucken. »Streitereien eben. Er sagt was, dann sie, das ärgert ihn und er sagt was zurück. Immer so weiter. Immer lauter.«

»Und die Klienten haben das mitgekriegt? Wohl nicht gerade die beste Werbung.«

»Die Leute fanden es spannend. Ich sag Ihnen was: Wenn die beiden laut wurden, war es im Wartezimmer mucksmäuschenstill. Manche haben sich sogar einen Termin geholt, nur um mitzukriegen, wie es weitergeht, verstehen Sie? Wie in einer dieser Fernsehserien.«

»Dabei waren die beiden doch nur Kollegen«, vergewisserte sich de Jong. »Oder waren sie ein Paar?«

»Wollen Sie noch einen Kaffee?« Ludmila nahm ihm die Tasse aus der Hand und stellte ihn auf die Anrichte. Dann begann sie im Schrank herumzukramen. »Warten Sie, hier gab es auch irgendwo Kekse …«

De Jong sah auf die Uhr. »Tut mir leid. Ich muss in drei Minuten im Polizeipräsidium sein. Eigentlich schon in zwei.« Er winkte Ludmila zu. »Vielen Dank für den Kaffee.«

Er schritt durch den Flur in Richtung Ausgang, blieb aber noch einmal stehen, weil ihm im Vorbeigehen der Name Hauke ins Auge fiel. Auf einem computerausgedruckten Zettel, der mit Tesafilm von innen an der Glastür klebte:

Dieses Mal AUSNAHMSWEISE samstags: Die Unfreiwilligen Singles treffen sich wie üblich im Sprachtherapieraum der Waldorfschule unter der Leitung von Hauke Fromm. Beginn wie immer um 20.00.

De Jong fand, dass sich das gut traf. Schließlich war er selbst unfreiwilliger Single. Außerdem konnte er dort vielleicht etwas mehr über den verschwundenen Therapeuten erfahren.


Die Friesen-Schmiede präsentierte sich von ihrer besten Seite. Goldenes Sonnenlicht flutete den ansonsten bescheiden ausgestatteten Speisesaal, schwappte über furnierte Tische und rote Plastikstühle, veredelte halb geleerte Kaffeetassen und verstopfte Salzstreuer, ließ die Senf-Reste auf den Plastiktischdecken geheimnisvoll glitzern. Es bemühte sich sichtlich, das Mittagsmahl zu einer fröhlichen Angelegenheit zu machen. Das schien auch auf die anwesenden Mitarbeiter auszustrahlen, die es mit heiterer Miene verzehrten. Einzig Bühlow schien immun dagegen zu sein, wie er auf seinem Fensterplatz vor sich hinstarrte und mit dem Finger auf einem Plastiktablett sinnlose Kreise malte. Er wirkte verbissen und schien unter Strom zu stehen. »Da bist du ja endlich«, sagte er und hörte abrupt mit der Malerei auf.

De Jong tat der Junge ein bisschen leid. Er wusste nur zu gut, dass der Chef einem ziemlich auf den Geist gehen konnte. Besonders wenn er fast stündlich verlangte, endlich Ergebnisse zu sehen, zu einem Zeitpunkt, an dem man unmöglich mit Ergebnissen aufwarten konnte. Wie ein Trainer, der bereits in der ersten Spielminute aufgeregt an der Seitenlinie herumhüpft und seine Mannschaft damit nervt, dass er endlich Tore sehen will. Es ging nicht anders, als dass man mit der Zeit eine Technik entwickelte, den Druck an sich abprallen zu lassen. Bühlows Technik steckte offenbar noch in den Kinderschuhen. Wie man aus den Essensresten auf dem Tablett schließen konnte, hatte er sich für ein vegetarisches Nackensteak mit Rotkohl entschieden und zum Nachtisch Karamellpudding – was sicher auch seinen Anteil an der gedämpften Laune des Hauptkommissars hatte.

»Also gut, dann lass doch mal hören, was ihr bis jetzt so habt«, ermutigte ihn de Jong.

Bühlow richtete sich auf und zwang seine Hände, von einem Salzstreuer abzulassen und ihn ordentlich in der Mitte des Tisches abzustellen. »Zurzeit sind wir noch dabei, Nöcks nahes Umfeld zu checken.«

»Okay«, sagte de Jong. »Die meisten Täter stammen bekanntlich aus der Familie oder dem nahen Bekanntenkreis.«

»Obwohl wir in dem Fall eigentlich nicht davon ausgehen«, widersprach der junge Kommissar. »Die Umstände des Mordes legen eine andere Täterschaft nahe.« Er griff in seine Hosentasche, zückte sein Smartphone und öffnete einen elektronischen Notizblock. »Genau: Nöck hat keine Geschwister, sein Vater lebt nicht mehr. Die Mutter ist schon vor zehn Jahren nach Österreich gezogen.«

»Freunde und Bekannte?«

»Das ist schon etwas interessanter. Da ist zuerst Ingolf Bolte, sein Agent. Er wohnt hier in der Stadt und hat die ganze Büchershow, die jetzt wohl doch nicht stattfindet, organisiert. Die beiden, also Nöck und Bolte, waren angeblich unzertrennlich. Bisher konnte ich aber noch nicht mit ihm sprechen.« Bühlow entfuhr ein Rülpser. »Verzeihung. – Nöcks Tod hat ihn ziemlich mitgenommen. Er hat sich daraufhin die Kante gegeben und war nicht ansprechbar. Aber das könnte auch ein Trick sein.«

De Jong runzelte die Stirn. »Sich zu besaufen? Toller Trick.«

»Wenn ich Angst hätte, dass man mir meine geheuchelte Trauermine nicht abkauft, dann besaufe ich mich einfach. Und alle sagen verständnisvoll: Der arme Kerl, den hat’s echt umgehauen.«

»Wen habt ihr noch?«

»Seine Verlegerin: Frieda von Bechritz. Laut Bolte, dem Agenten, hat zwischen den beiden was nicht gestimmt.«

»Also hat er doch geredet.«

»Das schon, aber nicht besonders viel. Eher genuschelt.«

»Immerhin. Was hat denn nicht gestimmt?«

»Da war irgendwas Persönliches. Obwohl Bechritz ihn in allen Interviews immer über den Klee gelobt hat. Er war schließlich ihr umsatzstärkster Autor.«

»Ach, die meisten, mit denen ich nicht so gut konnte, habe ich auch einen Kopf kürzer gemacht«, witzelte de Jong.

»Das war’s auch schon. Mehr haben wir bis jetzt nicht.«

»War der Ermordete solo oder liiert?«

Der Hauptkommissar riss seine Milchportion auf, kippte sie in seine Tasse und kleckerte auf den Tisch. »Nadja vom Hofe. Sie wohnt während des Besuchs in Münster bei Bolte.« Mit der Serviette tupfte er die Spritzer auf.

»Also gut, dann lass uns mit den Leuten reden.«

»Das hab ich ja schon getan.«

»Aber ich noch nicht.«

»Du bist ja auch nicht der Bulle, sondern ich.«

»Ach, und was bin ich?«

»Du bist der Mann im Hintergrund.«

De Jong schüttelte den Kopf. »Offenbar verstehst du nicht gerade viel vom Profiling.«

»Deshalb haben wir dich ja engagiert.«

»Denn wenn du auch nur ein bisschen davon verstehen würdest, dann wäre dir klar, dass ein Profiler nur arbeiten kann, wenn er alles …«

Bühlow hob die Hand, als sein Handy klingelte, was de Jong verstummen ließ. Der Hauptkommissar stellte die Verbindung her. »Ja? – Was? Also gut, na endlich. Wir sind gleich da.«

»Neuigkeiten?«, erkundigte sich de Jong, als das Handy wieder auf dem Tisch lag.

»Allerdings.« Bühlow, auf einmal tatendurstig, schlürfte einen letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, während er sich schon erhob. »Es hat sich eine Augenzeugin gemeldet.«


Die Dame hieß Irmgard Lohengrin, eine 65-jährige Frau mit sehr dunkel gefärbtem, aufgeföhntem Haar, die mit beiden Händen eine Handtasche aus falschem Krokodilleder umklammert hielt. Hauptkommissar Bühlow, der es leid war, Kompetenzdebatten zu führen, hatte schließlich zähneknirschend akzeptiert, dass de Jong als vertraglich bestellte Honorarkraft an der Ermittlung teilnahm.

Bühlow führte die Zeugin in einen Vernehmungsraum, in dem ein blanker Tisch von mehreren Stühlen umstanden wurde, bot ihr einen davon an und nahm gegenüber Platz. De Jong setzte sich neben ihn.

»Sie haben den Mord an Herrn Nöck beobachtet?«

»Na ja, ich konnte wohl nicht anders. Der Mann stand ja praktisch direkt vor mir.«

»Es war also ein Mann?«

Energisches Nicken. »Ich vermute es.«

Bühlow stutzte. »Sie vermuten es nur?«

»Ganz genau. Weil ich mir nämlich sicher bin, dass es keine Frau war.«

»Aber wenn es keine Frau war, muss es dann nicht ein Mann gewesen sein?«

Frau Lohengrin spitzte die Lippen. »Das sagen Sie.«

»Also gut«, sagte der Hauptkommissar. »Schildern Sie erst mal, was sich zugetragen hat.«

»Ich bin da jeden Abend um dieselbe Zeit. Mitternacht. Weil McCartney dann immer eine Runde drehen muss.«

»McCartney? Paul McCartney?«

»Ach, Quatsch.« Die Dame schnaufte verächtlich. »Mein Hund heißt so.«

»Verstehe.«

»Ein Jack Russel.«

»Also, was jetzt?« Bühlow schüttelte verwirrt und genervt den Kopf. »Sagten Sie nicht gerade eben, der Hund heißt McCartney?«

»Jack Russel«, raunte de Jong seinem Nebenmann zu. »Das ist zwar ein Name, aber auch eine Hunderasse.«

Bühlow holte geräuschvoll Luft und schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht leiden, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte, was ja gar nicht der Fall war. Offenbar war heute nicht sein Tag. De Jong wollte ihm schon die Hand auf den Arm legen, um ihn zu erden, ließ es aber sein.

Frau Lohengrin legte noch einen drauf. »Ich sage Ihnen gleich, dass das kein Mann war. Im eigentlichen Sinne.«

Bühlow seufzte noch lauter. »Was denn sonst?«

»Ein Teufel, würde ich sagen.«

»Ein Teufel.«

»Ja. Ganz genau.«

Ein angespannter Moment verging, den Bühlow brauchte, um sich im Griff zu haben. »Also gut, was hat denn der Teufel getan?«

»Er kam mit dem Fahrrad. Das hat er an einen Baum gelehnt.« Die Frau schüttelte den Kopf, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf die Erinnerung, die sie erneut gruseln ließ. »Er hat es sogar abgeschlossen. Mit einem Zahlenschloss, glaube ich. Aber die Kombination konnte ich natürlich nicht sehen, dazu war ich zu weit …«

»Also gut. Was hat er dann gemacht?«

»Er hat sich versteckt. Unter dieser Brücke. Da ist es ja stockfinster. Ich hab ihn dann gar nicht mehr gesehen. Hab mir gedacht, wo ist er wohl hin?«

»Sie haben ihn also aus den Augen verloren?«

»Ja, für eine Weile. Wie gesagt, ich hab mir so in etwa gedacht: ein seltsamer Kerl, aber jetzt ist er weg. Also was soll’s? Hier draußen am See sieht man oft seltsame Typen.« Sie beugte sich vor. »Im Sommer, wissen Sie, als es in der Nacht noch richtig warm war, da hab ich ein Pärchen gesehen, ein Mann und eine Frau, die waren noch nicht mal zwanzig, kamen aus dem See, splitternackt. Und dann …«

»Sehr schön, aber bleiben wir doch bitte bei dem Mann unter der Brücke.« Bühlows genervte Stimme hatte jetzt einen maßregelnden Unterton. »Er stand also unter der Brücke?«

»Hören Sie«, sagte die Frau pikiert, die es offenbar nicht schätzte, wegen ihrer abschweifenden Erzählweise getadelt zu werden. »Ich muss das nicht sagen, oder? Ich habe schließlich nichts verbrochen. Also können Sie mich nicht zwingen. Und wenn Sie sich nicht für das interessieren, was ich zu sagen habe …«

»Trotzdem sind Sie verpflichtet zu antworten«, beharrte Bühlow scharf. »Wenn Sie sich weigern, behindern Sie eine Mordermittlung, und das ist sehr wohl strafbar.«

Er wartete. Aber der juristische Hinweis zur Sache hatte nicht den erhofften Erfolg, im Gegenteil. Frau Lohengrin presste trotzig ihre rot bemalten Lippen zusammen und schwieg.

»Frau Lohengrin …«

De Jong übernahm: »Wissen Sie, was ich mal am Aasee erlebt habe: Da ist direkt vor mir ein U-Boot aufgetaucht. Mitten in der Nacht. Ich habe gedacht, ich sehe nicht richtig. Aber das ist jetzt schon länger her. Ich glaube, das war gerade zur Zeit der Kubakrise. Da konnte man so was wirklich nicht komisch finden.« Er lächelte.

Und sie lächelte zurück. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Kommissar.«

»Exkommissar«, sagte er. »Ein bisschen vielleicht. Aber wenn Sie uns von dem Kerl erzählen, der vielleicht ein Mann war, wären wir Ihnen sehr dankbar.«

»Er kam unter der Brücke hervor und ist zu einem anderen Mann gegangen. Dass er ein berühmter Autor ist, habe ich nicht gewusst.«

»Herr Nöck. Und weiter?«

»Der andere …«

»Der Teufel.«

»Er zog ein Schwert und hielt es hoch – so.« Frau Lohengrins rechte Hand ließ die Handtasche los. Sie reckte den Arm empor.

»Und was machte Herr Nöck?«

»Er stand einfach da. Ich hab mich gefragt, was läuft denn da ab? Wissen Sie, ich glaube, Herr Nöck hatte keine Ahnung, was der Kerl vorhatte. Oder er hatte Tomaten auf den Augen. Er hätte ja wegrennen können. Stattdessen blieb er seelenruhig stehen und hat irgendwas zu diesem Monster gesagt. Und dann hat ihm das Monster den Kopf abgeschlagen. Einfach so.«

»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte Bühlow. »Den mit dem Schwert.«

»Das Monster«, präzisierte de Jong.

»Ja. Er hatte keinen Kopf.«

»Das ist unmöglich«, korrigierte Bühlow, definitiv am Ende seiner Geduld. »Jeder Mensch hat einen Kopf.«

Was war heute nur mit ihm los?

»Was geschah dann?«, fragte de Jong.

»Also, Sie werden das nicht glauben«, sagte Frau Lohengrin. »Ich hab nachgedacht und dann fiel mir ein, dass bald Halloween ist. Ich konnte das Fest noch nie leiden.«

»Ja, und?«

»Halloween, verstehen Sie? Geister, Totenköpfe, kopflose Leute. Alles Verkleidung. Also falscher Alarm. Aber dann …« Ihr Blick verfinsterte sich erneut.

»Was dann?«

»Dann habe ich von der Brücke aus gesehen, wie der Kopflose zurück zu seinem Fahrrad ging. Und wie er etwas, das in ein Tuch gewickelt war, in seine Fahrradtasche gesteckt hat. Einen Kopf!«

»Ach, jetzt hatte er auf einmal doch einen?«, ärgerte sich Bühlow.

»Ja, aber in der Hand!« Frau Lohengrin nickte eifrig. »Und es war nicht seiner.«

Kopflos am Aasee

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