Читать книгу Kopflos am Aasee - Christoph Güsken - Страница 7

1. Kapitel

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Es ist fast Mitternacht. Nur ein paar späte Vögel zwitschern, in der Ferne rauscht beinahe lautlos ein Auto vorbei, ansonsten herrscht andächtige Stille.

Am Nachmittag würde er nie herkommen. Dann ist der See fest in der Hand der Fitness-Junkies. Du kannst nicht verweilen und die Enten beim Schnattern beobachten, weil du ständig jemandem im Weg stehst. Jogger, Biker, Scooter und Walker schieben sich als schier endlose Karawane aneinander vorbei, während alte Leute schwatzend auf Bänken hocken und den Fitten und Aktiven bei ihren Dehnübungen zusehen. Junge, hyperaktive Eltern schaukeln ihre hyperaktiven Babys in den Schlaf, und Hunde zerren ihre Halter an langen, aufrollbaren Leinen hinter sich her.

Er weiß schon, warum er die Nacht abgewartet hat; der See wird dann zum stillen, idyllischen Ort, an dem nachdenkliches Verweilen kein Problem mehr darstellt. An dem das Wort Nachtruhe noch kein Widerspruch in sich ist. Man kann innehalten und sich in aller Ruhe ein nettes Schlückchen gönnen, ohne dass man angestarrt oder um ein Autogramm angequatscht wird.

Und er liebt es, hier am Seeufer herumzustehen und die kalte Nachtluft zu atmen. Einfach so, ohne auf die Uhr zu sehen. Wie früher, während seiner Studienzeit, da hat er gar nicht weit weg von hier gewohnt. Damals, als er noch ein Niemand war, ein kleiner, unwichtiger Schreiberling, den jeder glaubte, herumstoßen zu dürfen.

Jetzt glaubt das keiner mehr.

Mach dir nichts draus, bekanntlich gilt der Prophet nichts in der eigenen Stadt – das hat Selma, eine Kommilitonin, ihm damals mitgegeben. Oder hat sie anders geheißen? Serena? Kann sein, aber Selma ist wahrscheinlicher. Egal, jedenfalls hat sie das mit dem Propheten und der eigenen Stadt erzählt. Selma oder wie auch immer hat später einen kleinen Verlag für Indi-Literatur und Slam-Poetry aufgezogen und damit sogar fast zwei Jahre durchgehalten.

Und sie hatte recht. Den Nagel sozusagen auf den Kopf getroffen. Der Prophet gilt nichts in seiner Stadt. Denn die Stadt strotzt vor Neidern und Besserwissern. Und die gönnen dir nicht den kleinsten Erfolg, legen dir alle Steine, derer sie habhaft werden können, in den Weg. Und niemand glaubt an dich, selbst wenn sie deine Begabung mit den Händen greifen können. Weil sie es nicht glauben wollen. Nicht wahrhaben. Niemand erträgt den Gedanken, dass man ihn selbst übertrumpfen könnte.

Schließlich will jeder gern Prophet sein.

Trotzdem – manchmal denkt er: gerade deshalb – hat er es geschafft. Gegen alle Missgunst und Widerstände. Heute ist er wieder zurück in der Stadt, in der er sich als kleiner, ungeliebter Prophet abgemüht hat, und steht hier, an exakt derselben Stelle, an der er vor zehn oder zwölf Jahren gestanden hat. Na ja, vielleicht nicht exakt derselben. Jedenfalls hat er sich damals nicht ansatzweise träumen lassen, dass er es eines Tages so weit nach oben schaffen würde. An die Spitze.

Charles Nöck. Das ist ein anderer Name für atemlose Spannung. Mittlerweile ein Synonym. Nöck ist eine Marke. Er ist der Garant für Gänsehaut. Niemand beherrscht die Kunst des Cliffhängers wie er, niemand wagt es kompromissloser, die spießigen Grenzen des sogenannten guten Geschmacks zu überschreiten, wenn es darum geht, Gewalt und Schrecken die Masken vom Gesicht zu reißen und sie so zu zeigen, wie sie sind, in aller Ausführlichkeit. Nichts wegzulassen. Nöck ergeht sich in hemmungslosen Blutorgien, suhlt sich in unnötigen Gewaltexzessen – so schimpft Adrian Speck, der bis in die Haarwurzeln eitle TV-Oberkritiker, ohnmächtig und wütend darüber, dass er Nöcks unvergleichlichen Siegeszug an die Spitze der Bestsellerlisten nicht verhindern konnte. Und wenn schon – selbst wenn er damit gar nicht falsch läge! Spannende Geschichten sind grausam, die Welt ist nicht gut. Wir sind erwachsen und wissen: Die Wirklichkeit ist nicht rosig. Sie ist schmutzig und hässlich. Gemein und gnadenlos. Nöck ist fast gerührt von Specks hilflosen Versuchen, auf seinem Erfolg herumzutrampeln, indem er seine Thriller als banalen Schund verunglimpft und damit nur das Gegenteil bewirkt. Außerdem sind sie nur mutig, schnörkellos und realistisch.

Ein junges Pärchen flaniert vorbei, verlangsamt seine Schritte. Sie wirft ihm im Vorbeigehen einen Blick zu. – Hat sie mich erkannt?, überlegt Nöck. Gut möglich. Jetzt sind sie vorbei. Die Frau zückt ihr Handy, sicher googelt sie jetzt seinen Namen. Knapp zehn Jahre ist es her, da hat er drüben am Alten Steinweg in einer Kneipe gehockt und vor weniger als zwanzig Leuten gelesen. Für knappe fünfzig Euro, und die Getränke musste er selbst zahlen. Jetzt wird er die Halle Münsterland füllen – was sage ich: vollstopfen – bis zum letzten Platz. Die Leute erkennen im Vorbeigehen sein Gesicht, googeln seinen Namen. Er ist ein Star. Zurückgekehrt an den Anfangspunkt seines Schaffens, ein Triumphator des Wortes, der es all denen zeigen wird, die ihm damals die Steine in den Weg gelegt haben. Ihn für einen Schwätzer hielten. Eine Eintagsfliege.

Nöck nimmt noch einen Schluck aus dem Flachmann. Eigentlich achtet er sonst peinlich darauf, dass es nicht zu viel wird. Immer nur ein paar Schlucke pro Abend. Schließlich will er sich nicht die Kante geben. Nur hier, am idyllischen Aasee, am Vorabend seines beispiellosen Triumphes, hat es ihn übermannt. Die Flasche ist schon fast leer, und die herbstliche Abendstimmung hat angefangen, sich leicht, aber stetig um ihn zu drehen.

Der Frauenesser. Morgen wird der neue, mit Ungeduld erwartete Mega-Thriller starten, und es wird ein Paukenschlag werden. Die Fans sind geradezu verrückt danach. Viele mögen der Ansicht sein, der globale Hype, der seinerzeit um jeden neu erscheinenden Harry-Potter-Band veranstaltet wurde, sei nicht mehr zu toppen. Nöck hält das für Unsinn. Und er wird es beweisen. Nicht nur mit der üblichen glamourösen Multimedia-Show in der ausverkauften Messehalle. Er, der Star, im Outfit seines Serienmörders, des Frauenessers. Und darüber hinaus findet im Foyer des Landesmuseums am Abend darauf ein festliches Bankett für prominente Fans statt, auf dem ein riesiger Kuchen in Frauenform angeschnitten wird. Der Bürgermeister hat zugesagt, irgendein berühmter Torhüter vom FC Bayern kommt, und selbst das Bistum schickt einen Abgesandten. Anschließend geht es zurück in die Halle Münsterland zu einer Multimedia-Lesung und anschließendem Krimi-Talk mit hochkarätigen Gästen, der übrigens live in Aspekte gesendet wird. Den Ausklang des Spektakels schließlich bildet der Auftritt der Band Manson unlimited, für die der Autor höchstselbst den Leadgitarristen gibt.

Charles Nöck geht ein paar schwankende Schritte. Was für ein Gefühl von Freiheit, hier am See zu wandeln, fernab vom lauten medialen Trubel. Auftanken zu können in der Abgeschiedenheit der städtischen Grünfläche. Kräfte zu sammeln für den großen Auftritt.

Eine ältere Dame mit einem winzigen, hamsterförmigen Hund an einer Aufroll-Leine kommt ihm entgegen. Der Minikläffer schnüffelt am Gras, sie mustert ihn, aber er hat plötzlich keine Lust mehr darauf, erkannt zu werden. Berühmtheit kann nerven … und wie.

Er bleibt stehen, und während er durchpendelt, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, atmet er die kalte Herbstluft ein. Direkt vor ihm hebt sich die Tormin-Brücke schwarz und monströs gegen den Nachthimmel ab. Ein denkmalgeschütztes Bauwerk aus grobem Beton, das Autos, Radfahrer und Fußgänger über den See befördert und das Gewässer damit in zwei Hälften teilt: den alten und den neuen Aasee. Im Sommer stehen bis spät in die Nacht Straßenmusiker unter der Brücke, die den Hall nutzen. Natürlich nicht in Nächten, die so kalt sind wie diese.

Und doch steht da jemand.

Nöck blinzelt. Der Whisky, der ihm so guttut, hat ihm ein winziges bisschen die Sinne vernebelt, sodass seine Augen nicht richtig scharfstellen können. Was nicht bedeutet, dass er gar nichts erkennen kann. Da steht eine Gestalt, männlich, ziemlich kräftig, hünenhaft geradezu, mitten auf dem Gehweg, der unter der Brücke durch seitlich am See entlangführt. In einen dunklen Umhang gehüllt. Das Gesicht wird vom nächtlichen Schatten verdeckt. Oder täuscht er sich? Die Gestalt macht einen Schritt vorwärts, aus dem Schatten heraus, in seine Richtung. Und jetzt sieht er es ganz deutlich, trotz des alkoholbedingten Drehwurms: Da ist kein Gesicht. Nicht mal ein Kopf!

»Echt super«, murmelt Nöck beeindruckt. Mit dem Flachmann prostet er dem Ankömmling zu. »Hey, alter Bekannter, was verschafft mir die Ehre? Du bist nicht zufällig meinetwegen hier, oder was?«

Der Mann ohne Kopf antwortet nicht, wie sollte er auch, ohne Mund. Aber Nöck weiß auch so Bescheid. »Hatte ja keine Ahnung, dass hier und heute schon die Promo anfängt. Zu später Stunde.«

Eine Weile stehen sie sich gegenüber. Dann kichert Nöck. »Ich kenn dich. Ich hab dich nämlich erfunden, was sagst du dazu? Hier drin wurdest du geboren!« Mit dem Finger stupst er an seine Stirn. »Ohne Kopf, aber mit dem tödlichen Schwert, das bist du. Du hast doch das Schwert dabei, oder?«

Ja, der Mann hat ein Schwert. Er zieht es unter seinem Mantel hervor und reckt es hoch in den Nachthimmel. Wie ein Ritter, der in die Schlacht zieht. Im Roman blitzt es furchterregend im Mondlicht, aber heute steckt der Mond hinter einer dichten Wolkendecke, also blitzt es nicht. Man kann die Klinge gerade mal erahnen. Und dass sie sich auf Nöck zubewegt.

»Hey, pass aber schön auf damit! Die Dinger sind messerscharf …«

Anstatt diesen Rat zu beherzigen, holt der Kopflose aus. Im weiten Bogen. Nicht wie ein Ritter in der Schlacht, eher wie der Henker von London.

»Nein, Vorsicht, du Idiot! Hey! Mit dem Ding, du könntest jemanden damit verl…«

Charles Nöck spricht nicht weiter. Der Mann mit dem Schwert hat ihm im wahren Sinne das Wort abgeschnitten. Und nicht nur das. Nöcks Autorenhaupt – mit einem schiefen, ungläubigen Grinsen im Gesicht – kullert das grasbewachsene Ufer hinab.

Kopflos am Aasee

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