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2. Kapitel

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Es war schon Mitte November. Hin und wieder wehte von irgendwoher der Duft nach Glühwein und gebratenen Kastanien herüber – Weihnachten war noch weit weg, und das Wetter gab sich alles andere als winterlich; nur der Einzelhandel, gehetzt vom Fluch der Umsatzmaximierung, konnte sich nicht um altertümlich winterliche Bräuche scheren, geschweige denn um Feste, deren Zauber darin bestand, dass sie nur einmal im Jahr stattfanden und man ihnen langsam und behutsam entgegenfieberte.

Exhauptkommissar Niklas de Jong ärgerte sich über den Kastaniengeruch. Er verstärkte jene winterliche Stimmung, die sich – auch wetterunabhängig – gerade seit dem heutigen Morgen in seinem Inneren ausbreitete. Es war halb elf am Vormittag, ein grauer Dienstagvormittag. Vor einer guten halben Stunde war Giulia abgereist.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Mehr als vielversprechend. Alles versprechend. Als Giulia am Samstagabend überraschend angerufen und sie lange gesprochen hatten. Dass sie sich immer wieder getrennt hatten und doch nie voneinander losgekommen waren, jedenfalls nicht so richtig. Was ja wohl auch etwas zu bedeuten habe. Und sie vorgeschlagen hatte – sie hatte es von sich aus vorgeschlagen! – ob sie noch einen neuen Versuch miteinander starten sollten. Nach all den Jahren die Uhren auf Null stellen. Alles auf Anfang. Natürlich hatte de Jong nicht lange überlegt. Keine Sekunde. Was gab es da auch zu überlegen? Sicher, er kannte Giulia lange genug, um zu wissen, dass die Sache nicht ganz ohne war und eventuell kompliziert werden konnte. Dass bei allem Enthusiasmus Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl gefordert waren. Aber er wusste, worauf er sich einließ, und das schloss auch das Wissen darum ein, dass sich jeder Aufwand lohnte.

Und es war ein Neuanfang geworden, der nichts zu wünschen übrig ließ – genauer gesagt, er hatte anfangs nichts zu wünschen übrig gelassen: Der Montag war ein urgemütlicher Tag in der Stadt gewesen, kühl zwar, aber bei strahlendem Sonnenschein, gekrönt durch ein romantisches Abendessen bei dem Italiener, den sie so manches Mal aufgesucht hatten, um einen Jahrestag zu begehen, dessen abschließender Höhepunkt in romantischem Sex auf dem Oude Meisje bestanden hatte. In dieser Nacht hatte de Jong mitten im Herbst keinerlei Herbstgefühle verspürt, stattdessen vielmehr intensive Frühlingsgefühle. Und das – davon war er felsenfest überzeugt – wäre genau so weitergegangen, wenn die Heizung nicht ausgefallen wäre. Ein banaler technischer Defekt, nichts weiter, machte alle Romantik und allen Neubeginn zunichte.

Zugegeben, es kam nicht von ungefähr. Die Heizung hatte nicht erst seit gestern, sondern immer mal wieder gezickt, nur hatte de Jong das im Sommer schlicht aus den Augen verloren. Ein fataler Fehler, der sich jetzt rächte, denn die Heizung war schließlich nicht irgendeine Anlage unter vielen anderen, so wie die Wasserleitung, die Klospülung oder die Kaffeemaschine. Der Heizung kam eine herausragende, geradezu beziehungsrelevante Stellung zu. Vor allem jetzt, in diesen Nächten, in denen das Thermometer hin und wieder unter null Grad fiel, wenn auch nur ganz geringfügig. Affenkalt, sagte Giulia. Nicht kalt, sondern affenkalt. Keine Wärmflasche in einem noch so flauschigen Bärenkostüm, keine zusätzliche Wolldecke vermochte etwas gegen diese Affenkälte auszurichten. Was aber de Jong streng genommen auch nicht überraschen konnte, denn Giulias berüchtigte Verfrorenheit war ihm seit Jahrzehnten vertraut. Frieren mochte nur in gewisser Weise eine Tätigkeit sein und schon gar niemand bezeichnete sie als Kunst oder Sportart. Trotzdem blieb es eine Tatsache, dass in Sachen Frieren Giulia so leicht niemand das Wasser reichen konnte. Ihre Frostanfälle waren berüchtigt und kamen mitunter völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, sobald nur die Temperatur unter die Zwanzig-Grad-Marke fiel: Giulia war imstande, mitten in der Sonne einen Winterpullover überzuziehen, zur Verblüffung aller Umstehenden und ohne vor Hitze auch nur ansatzweise umzukommen. Und nicht nur einmal hatte sie es geschafft, mit Mütze und Handschuhen an einem Strand auf einem Handtuch zu sitzen.

Aber all das war nichts Neues gewesen. Neu war, dass Giulia inzwischen dazu neigte, alltägliche, rein technisch bedingte Pannen auf eine grundsätzliche, fast metaphysische Ebene zu heben. »Es ist ja nicht nur die Kälte«, hatte sie gesagt. Nicht nur, dass sie eine Nacht gebibbert statt geschlafen hatte, wie sie jedenfalls behauptete. »Es passt irgendwie.«

»Es passt? Was meinst du denn damit: Was passt?«

»Dass die Heizung ausfällt. Dass es kalt ist. Hier auf deinem Schiff.«

»Das ist kein Schiff, sondern ein Hausboot.«

»Von mir aus.«

»Aber es passt doch gar nicht. Im Gegenteil. Sieh dich doch an. Es ist mehr als unpassend.«

»Ich meine damit, es gibt Menschen, die so was magisch anziehen, Niklas. Kälte. Mord. Dunkle Dinge. Sie ziehen es an wie ein Magnet, und niemand kann erklären, wieso.«

»Das mit den Morden ist doch Vergangenheit«, widersprach de Jong. »Außerdem habe ich die nicht angezogen, sondern aufgeklärt.«

»Stimmt. Aber trotzdem hast du dich auf diesem Hausboot eingerichtet, und es ist dir egal, ob man friert.«

»Wieso sollte mir das egal sein?«

»Worauf ich hinauswill: Wärme und Kälte – das ist nicht das, was das Thermometer anzeigt. Vielleicht von außen besehen. Aber es hat auch eine tiefere, menschliche Dimension.«

»Mag sein«, gab de Jong zu. »Aber hier geht es doch schlicht und einfach darum, dass die Heizung streikt. Warum reden wir nicht darüber, anstatt theologisch zu werden?«

»Schlicht und einfach«, wiederholte sie. »Für dich ist das also eine Lappalie?«

»Nein, natürlich nicht. Ich werde gleich heute jemanden anrufen, der sich drum kümmert.«

Sie schwieg einen Moment. Einen unpassend langen Moment, weil er es immer noch nicht schaffte, das Wesentliche hinter der rein oberflächlichen Ebene wahrzunehmen. »Du denkst, ich mache aus einer Mücke einen Elefanten?«

»Aber wer sagt das denn?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass du das von mir denkst.«

Und so waren sie am Ende wieder dort angelangt, wo keiner von ihnen hingewollt hatte: dass sie sich gegenseitig vorwarfen, den anderen gar nicht verstehen zu wollen, mehr noch; das noch nie gewollt zu haben. Und als Giulia schließlich gesagt hatte, es sei wohl besser, wenn sie doch schon jetzt ihren Koffer packte, hatte er es nicht mal geschafft, Einspruch zu erheben. Bevor sie von Bord ging, hatte sie sich nur noch einmal kurz umgesehen.

De Jong war die Lust vergangen, einen Installateur anzurufen. Ihm war danach, sich nach Achtern zu verziehen und den Rest des Vormittags mürrisch auf den Kanal hinauszustarren.

Aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Ausgerechnet heute musste Detlev Rickelrath seine Aufwartung machen. Rickelrath, der Weltenbummler, wie immer mit jeder Menge Reiseanekdoten im Gepäck. Er kam jedes Mal unangekündigt und heute direkt vom Hauptbahnhof, hatte den Trekking-Rucksack, an dem leere Plastikflaschen und eine verschwitzte Isomatte festgeschnallt waren, noch auf dem Rücken. So stand er da und ließ seinen weltgewandten Blick kritisch über das Deck schweifen. »Ich weiß nicht, jedes Mal, wenn ich hier stehe«, sagte er, »kommt mir das alles kleiner vor.«

»Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen«, brummte de Jong schnippisch. »Hört sich für mich nach einem Fall für den Augenarzt an.«

Detlev Rickelrath war Globetrotter mit Leib und Seele. Früher hatte er sich in einem Reisebüro verdingt, das aber eines Tages vom Online-Reise-Boom überrollt worden war. Während Rickelrath großzügig geerbt hatte, worauf er sich selbst vorgeschlagen hatte, auf die lästige Jobsuche zu verzichten und stattdessen die Chance zu ergreifen und sein weiteres Leben mit Reisen zu verbringen. »Reisen bildet«, betonte er bei jeder Gelegenheit. »Du machst ganz andere Erfahrungen, wirst bescheidener und lernst das, was du hier hast, mit ganz anderen Augen zu sehen.«

»Vielleicht reicht aber auch schon eine Brille«, schnappte de Jong genervt.

Rickelrath war ein kerniger Typ, braungebrannt und wettergegerbt, einen Kopf größer als de Jong. Ein Jahrzehnt jünger und topfit, weil er, wie er sagte, jeden erdenklichen Langstreckenwanderweg auf dieser Erde schon hin- und zurückgewandert war. Letztes Jahr hatte er von einer Antarktis-Tour berichtet, auf den Spuren von Roald Amundsen, in historischen Schuhen – also keine moderne Wärmetechnik, sondern Winterschuhe nach Stand des neunzehnten Jahrhunderts und selbstgestrickte Socken. Und heute kam er direkt aus Australien, vom Ayers Rock.

»Von da oben kommt einem bestimmt auch alles kleiner vor«, vermutete de Jong.

Der Wanderer schüttelte den Kopf. »Da darf man jetzt nicht mehr rauf. Für die Aborigines ist das ein heiliger Ort. Sie haben was dagegen, dass Tausende von Touristen in die Büsche pinkeln und ihren Plastikmüll hinterlassen.« Also hatte er kurzfristig umgeplant und war an die Küste gezogen. Hatte in Hai-Käfigen getaucht. »Da gibt’s sogar große Weiße«, berichtete Detlev stolz. »Die kommen dir so nah, du brauchst nur den Arm auszustrecken. Da wird’s dir schon anders.«

De Jong, der keine Lust verspürte, Detlev seine Bewunderung für dessen Kaltschnäuzigkeit auszusprechen, suchte stattdessen nach einer entsprechend giftigen Erwiderung, aber ihm fiel keine ein. Also schwieg er.

»Hey, was ist los mit dir, Niklas? Du wirkst heute irgendwie angespannt.«

»Angespannt?«

»Brummig geradezu.«

De Jong warf ihm einen warnenden Blick zu, woraufhin Rickelrath auf ein drittes Adjektiv verzichtete.

»Übrigens haben sie frühlingshafte Temperaturen vorhergesagt.« Das war einer von Detlevs Stärken: Launische Stimmungen perlten wirkungslos an ihm ab. Weil er sie eben überhaupt nicht bemerkte, hatte de Jong anfangs vermutet, aber inzwischen war er davon überzeugt, dass Rickelrath einfach nichts übelnahm. Dazu wirkte er einfach zu fit und zu naturverbunden. Ein wirklich edler Zug, der de Jong aber dummerweise noch neidischer und übellauniger machte.

»Also, ich bin dann auch schon wieder weg.« Rickelrath winkte ihm zu, während er von Bord stapfte. »Muss noch ein paar Sachen besorgen. In zwei Tagen geht mein Flug. Katmandu. Himalaya.«

»Na dann«, sagte de Jong. »Reisende soll man nicht aufhalten.«

Detlev stoppte und drehte sich noch einmal um. »Na ja, soll ich ehrlich sein? Am liebsten würde ich stornieren. Da oben sind massenhaft Touristen. Man kommt überhaupt nicht voran. Auf dem Weg zum Everest gibt es ständig Staus, weil irgendeiner ein Selfie machen will.«

»Und was hält dich davon ab zu stornieren?«, fragte de Jong achselzuckend.

»Ich hab da jemanden kennengelernt.« Rickelraths Stimme hatte in eine weichere, verliebte Lage gewechselt.

De Jong reichte es. Wenn der Kerl jetzt darauf wartete, dass er fragte: Na, wer ist sie denn? Kenne ich sie?, dann hatte er sich aber so was von verrechnet. Stattdessen stand er nur herum und wartete stumm, dass Detlev seine Ankündigung wahrmachte.

»Also gut dann«, wandte der sich endlich zum Gehen. »Ich werde dir Bericht erstatten. So wie immer.«

De Jong blieb noch eine Weile so stehen und starrte dem Weltenbummler hinterher, der sich zur nächsten Bushaltestelle aufmachte. Ich hab da jemanden kennengelernt … Wart’s nur ab, hätte er ihm am liebsten gesagt. Heute wandert ihr noch einträchtig Arm in Arm, aber schon morgen, spätestens übermorgen wirft sie dir vor, dass es affenkalt ist und du dunkle Dinge magisch anziehst …


»Hallo, Nachbar!«

De Jong war so tief in seinen dunklen Gedanken, dass er die Rufe gar nicht zur Kenntnis nahm, jedenfalls nicht auf sich bezog. Als er endlich hochsah, bemerkte er eine Frau auf der anderen Seite des Stegs, der an Bord des Alten Mädchens führte. Die Frau war schlank, irgendwo in den Vierzigern und hatte leuchtend rotes Haar, das nicht gefärbt aussah. In den Händen hielt sie eine Springform mit einem Kuchen darin.

»Hallo«, sagte de Jong.

»Ich bin Camilla.« Die Frau deutete auf das Boot, das seit gestern gleich neben dem Alten Mädchen festgemacht hatte. »Die neue Nachbarin.«

De Jong war das schicke Ding natürlich längst aufgefallen. Aber aus der Sicht seines alten Hausbootes kam ihm das Wort Nachbarschaft nur schwer über die Zunge. Da lag eine mutmaßlich hochseetaugliche Jacht mit allen Schikanen, mit makellos weißem Rumpf und einer Reling aus blank geputztem Messing, das bei Sonnenschein wie pures Gold blitzte. Am Bug prangte in altertümlichen Lettern der Name Medea.

»Ich hab hier ein Geschenk für Sie.« Camilla hielt den Kuchen hoch. »Pflaumenkuchen, selbst gebacken.«

»Das ist sehr nett«, sagte de Jong. »Kommen Sie doch herein.«

Die Frau balancierte mit ihren High Heels über den Steg. Dann stand sie vor ihm, und de Jong atmete ein süßliches Parfum ein, das ihn spontan faszinierte, obwohl er normalerweise für süße Gerüche gar nichts übrig hatte.

»Niklas de Jong«, sagte de Jong. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Gern. Einen Kaffee?« Ohne um Erlaubnis zu bitten, begab sich Camilla mitsamt dem Kuchen nach unten in die Küche. »Ein schönes Boot«, schallte es herauf. »So altertümlich. Urgemütlich.«

De Jong folgte ihr nach unten.

»Wenn auch ein bisschen unterkühlt.«

»Die Heizung macht leider Probleme«, gab de Jong zu.

»Sie Armer«, meinte Camilla und legte ihm in einer mitfühlenden Geste die Hand auf den Arm. »Nachts wird es ja schon richtig kalt, nicht wahr?«

»Es geht«, sagte de Jong.

»Also wenn Sie wollen – Sie kommen einfach auf mein Boot und wärmen sich ein bisschen auf. Was halten Sie davon?« Camilla lächelte ihn an.

De Jong hatte allerdings auch das Gefühl, dass sie ihn hinter dem Lächeln durchdringend musterte. »Nettes Angebot«, sagte er. »Wie wollen Sie den Kaffee?«

»Schwarz mit Zucker, gern.« Camilla fand sich offenkundig schon in der Küche zurecht, hatte ein Messer aus der Schublade geholt und war dabei, den Kuchen anzuschneiden. »Aber natürlich nicht nur zum Aufwärmen.«

De Jong kamen diverse Dinge in den Kopf, die man drüben auf der Hightech-Jacht unternehmen konnte, außer sich aufzuwärmen.

»Ich habe gehört, Sie waren bei der Kripo?«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

Camilla überging die Frage. »Außerdem war die Rede davon, dass Sie in diesen Dingen hin und wieder behilflich sind.«

»Welchen Dingen?«

»Kriminellen Dingen.« Sie grinste. »Deswegen habe ich sozusagen einen Anschlag auf Sie vor. Auf Sie als Experte.«

Das waren also die ›anderen Dinge‹. De Jong ärgerte sich über sich selbst, dass seine Gedanken spontan in eine ganz andere Richtung gegangen waren. »Ja«, sagte er deshalb. »Aber so was mache ich schon länger nicht mehr. Irgendwann muss man mal einen Schlussstrich ziehen.«

Er startete die Kaffeemaschine. Sie meldete sich mit einem leisen, zischenden Knall und qualmte ein wenig. Im selben Moment verlöschten die Kontrolllämpchen, und sie machte keinen Mucks mehr.

»Das auch noch«, sagte de Jong.

»Tja, wenn schon, dann kommt immer alles zusammen, was?« Camilla klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Was denken Sie, sollen wir einfach rübergehen? Bei mir gibt’s Heizung und Kaffee im Überfluss.« Sie schnappte sich die Teller mit dem Kuchen. »Übrigens, wollen wir nicht Du sagen?«

»Warum nicht«, sagte de Jong. »Ich bin Niklas.«

»Also dann, auf gute Nachbarschaft.«

Aber aus dem Kuchenessen wurde dann doch nichts, weil oben an Deck schon wieder jemand wartete: Hauptkommissar Achim Bühlow. Ein Mann um die dreißig, schlank, der ab und an zu hektischen Bewegungen neigte, die de Jong immer an eine heimische Vogelart erinnerten.

»Besuch?«, sagte Camilla und musterte den Gast neugierig.

»Kann ich dich sprechen? Es ist wichtig«, wandte Bühlow sich an de Jong.

»Also ich bin hier gerade …«, sagte de Jong vage und bemerkte Camillas neugierig fragenden Blick. »Das ist Hauptkommissar Bühlow von der Kripo Münster.«

»Die Kripo! – Tja, irgendwann muss man einen Schlussstrich ziehen, was?«, stichelte sie.

»Aber nein«, eierte er herum. »So hab ich das nicht gemeint.«

Camilla stellte die Kuchenteller auf dem Tisch ab. »Ich lass euch jetzt mal allein.«

»Heute Abend«, rief de Jong ihr nach, während sie schon den Rückweg antrat. »Hätten Sie heute Abend eventuell Zeit? Ich meine, du.«

Die rothaarige Frau, schon an Land, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Warum nicht?«, meinte sie. »Dann um neunzehn Uhr? Ich koch uns was Leckeres.«


»Tut mir leid, dass ich dir so in dein Date hineingegrätscht bin«, sagte Bühlow wenige Minuten später. Er war noch recht neu bei der Kripo. Sein Onkel, de Jongs alter Freund Eugen Küppers, hielt ihn mindestens für den neuen Kurt Wallander.

»Das war kein Date«, stellte de Jong richtig.

Sie saßen auf Deck und machten sich über den Pflaumenkuchen her.

»Ich hätte es auch nicht gemacht, wenn es nicht dringend wäre. Wir haben einen Mordfall.«

»Interessant«, sagte de Jong, »aber ich bin nicht mehr bei der Mordkommission. Gottseidank.«

»Genau«, sagte Bühlow. Dieses Genau, selbst an Stellen, wo es nicht passte, war eine Art Tick von ihm. »Es ist aber nicht irgendein Mord.«

»Was ist denn irgendein Mord?«

»Der Tote ist Charles Nöck.«

De Jong pfiff durch die Zähne. »Der Charles Nöck? Der Bestseller-Nöck?«

»Genau der. Sein Torso wurde heute Morgen am Aasee-Ufer aufgefunden. In der Nähe der Torminbrücke.«

»Sein Torso?«

»Er wurde geköpft. Sauberer Schnitt.«

»Und der Kopf?«

»Ist verschwunden. Nöck ist erst gestern in die Stadt zurückgekehrt.«

»Zurückgekehrt?«

»Er hat früher hier gelebt und studiert. BWL.«

»Das wusste ich ja gar nicht«, meinte de Jong. Er nahm sich noch ein Stück Pflaumenkuchen.

»Damals kannte ihn ja auch keiner«, sagte der junge Kommissar. »Genau. Und morgen sollte eigentlich sein neues Buch vorgestellt werden. Der Frauenesser. Eine Bühnenshow in der Halle Münsterland mit allem Drum und Dran.«

»Der Frauenesser«, meinte de Jong mit einem leicht abfälligen Unterton. »Na ja, romantische Liebesgeschichten waren nie sein Ding.«

»Und das ist auch der Punkt. Du schreibst ja auch Krimis, stimmt’s? Und da dachte ich – und der Chef fand übrigens auch, dass das eine gute Idee ist –, dass wir dich hinzuziehen. Weil du sozusagen auf beiden Seiten stehst.«

»Auf beiden Seiten? Mörder und Mordopfer?«

»Nein. Du bist erfahrener Kriminalist und weißt gleichzeitig, wie so ein Mann tickt.«

»So ein Mann. Wen meinst du?« De Jong schüttelte den Kopf. »Aber er tickt nicht mehr, das ist doch das Problem. Und mit Durchgeknallten, die Starautoren den Kopf abschlagen, kenne ich mich überhaupt nicht aus.«

Eine Weile schwiegen sie und starrten auf die graue Wasseroberfläche des Dortmund-Ems-Kanals. De Jongs Blick wanderte weiter, hinüber zur Luxusjacht. Nachbarschaft, dachte er, schön wär’s ja, aber Pflaumenkuchen allein macht uns noch nicht zu Nachbarn.

»Nöck war Autor, und du bist auch einer«, gab Bühlow zu bedenken.

»Das ist etwas völlig anderes. Wir leben in verschiedenen Welten. Er macht Millionen mit seinen Thrillern über essbare Frauen, und ich bleibe auf meinem Kram sitzen und muss sehen, wie ich zurechtkomme.«

»Meinst du nicht, dass es angesichts der Tat angebracht wäre, den Neid erst mal hintanzustellen?«

»Wer sagt, dass ich neidisch bin?«, brauste de Jong auf und war ganz kurz davor zu sagen, dass sie sich gefälligst einen anderen für die Sache suchen sollten. Ganz kurz davor. Aber er verkniff es sich, weil er sonst ja erst recht neidisch gewirkt hätte.

Bühlow zog einen gelben Schnellhefter aus seiner Umhängetasche. Er nahm großformatige Schwarz-Weiß-Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch neben seinem Teller mit Pflaumenkuchen aus: Es waren Aufnahmen vom Tatort, von einem toten Körper, der in einer Blutlache lag. Von der Wunde in Nahaufnahme und von dem Torso. Ein Foto zeigte den Tatort aus größerer Entfernung, das Aaseeufer und die Torminbrücke. Die Polizeiabsperrungen.

»Dr. Hattkämper sagt, dass die Tatwaffe nicht irgendein Messer sein kann«, erklärte Bühlow. »Der Mörder hat ein hochwertiges Schwert benutzt, eine Art Samuraischwert mit einer außergewöhnlich scharfen Klinge.«

De Jong schob die schlimmen Fotos zusammen und gab sie Bühlow zurück. Einen Menschen zu töten, indem man ihm den Kopf abschlug, machte die Sache in seinen Augen auf eine irrationale Art und Weise noch schlimmer. Es blieb ein Torso zurück, der weniger menschlich aussah, nur wie der klägliche Rest von einem Menschen. Der Exkommissar entschied, dass er sich in seinem Leben genug Tatortfotos angeschaut hatte. »Noch ein Stück Kuchen, Herr Kommissar?«, fragte er.

»Die Sache ist die«, sagte Bühlow, während er de Jong seinen Teller zum Auflegen hinhielt, »dass es in den Thrillern des Ermordeten richtig zur Sache geht. Da wird fast nie geschossen, sondern immer zerstückelt, gehäutet und gekocht. Das neue Buch, das morgen mit großem Medienrummel auf den Markt kommt, handelt von einem Täter, der seine Opfer aufisst.«

»Frauen«, sagte de Jong und nickte. »Also warum sucht ihr euch nicht besser eine Profilerin, statt mir die Zeit zu stehlen, die ich dringend für meine literarischen Inspirationen benötige?«

»Der Köpfesammler«, sagte Bühlow.

De Jong verzehrte noch etwas Pflaumenkuchen und schenkte Bühlow dann einen fragenden Blick.

»Das ist zwar nicht sein aktuelles Buch. Es kam vor ein paar Jahren heraus und handelt von einem Mann ohne Kopf, der umgeht und seine Opfer mit einem Schwert enthauptet.«

»Du meinst also, der Mörder bezieht sich auf dieses Buch?«

»Der Köpfesammler, genau.« Bühlow setzte ein listiges Lächeln auf, das etwas Unwiderstehliches an sich hatte, wie de Jong verwundert zur Kenntnis nahm. »Und da kommst du ins Spiel.«

Kopflos am Aasee

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