Читать книгу Kopflos am Aasee - Christoph Güsken - Страница 9
3. Kapitel
ОглавлениеDe Jong konnte sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass es sich hier mitnichten um ein Spiel handele. Aber eigentlich wollte er nur sagen, dass er überhaupt keine Lust verspürte, ins Spiel zu kommen. Es lagen deutlich wichtigere Dinge an: sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Heizung wieder in Stand setzte, und anschließend Giulia ausfindig machen und herausfinden, wie die Chancen standen, dass sie das vergeigte Wochenende abhaken und einen weiteren Neuanfang machen konnten – den vierten oder den vierzigsten, wer wusste das schon.
Aus zwei Gründen ließ er sich aber doch auf die Sache ein: Hauptkommissar Joachim Bühlow mochte kein kriminalistisches Jahrhunderttalent sein, was sein Onkel, Eugen Küppers, offenbar glaubte. Kriminalistisch gesehen tendierte der Junge eher in Richtung Inspector Closeau. Trotzdem unterschätzte man ihn leicht. Was de Jong anging, hatte Bühlow, der mit einem rätselhaften siebten oder achten Sinn ausgestattet zu sein schien, nämlich binnen kurzer Zeit dessen Achillesverse geortet: de Jongs Trägheit, wenn es darum ging, nein zu sagen. Oder: nein heißt nein. Oder: mir doch egal, mach was du willst. Bühlow hatte schnell begriffen, dass bei de Jong »nein« auch »na ja, vielleicht doch« heißen konnte. »Völlig ausgeschlossen« konnte gleichbedeutend sein mit »geht eigentlich nicht, es sei denn …«
Ein Mann ohne klare Kante, hatte Giulia ihn deshalb mal genannt. Und in einem Streit war auch noch Weichei dazugekommen, worauf de Jong ihr vorgehalten hatte, dass sie hart gekochte Eier noch nie gemocht habe. Und dass die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, von Intelligenz zeuge. Bühlow war pragmatischer. Er nahm die Neinschwäche de Jongs als das, was sie war: als ein Potenzial, das er für sich zu nutzen verstand.
So kam de Jong ins Spiel.
Gegen Mittag radelte er zum Aasee, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen. Das erwies sich als recht schwierig, nicht nur weil die Spurensicherung das Ufer großräumig abgesperrt hatte. Sondern auch, weil die schockierenden Nachrichten die Touristen hergelockt hatten. Davon gab es eine Menge in Münster, und Touristen zählten bekanntlich zu den neugierigsten Spezies überhaupt. Hunderte von ihnen lungerten am grasbewachsenen Seeufer herum, blockierten die Joggingstrecken, sodass auch die Läufer nicht anders konnten, als zu stoppen und einen Blick auf das abgesperrte Areal zu riskieren. Von der Seeseite näherten sich ganze Flottenverbände von Ruder- und Tretbooten, die einige Polizeibeamte zur See nur mit Mühe davon abhielten, an Land zu gehen und den Tatort zu entern. So gut wie alle Schaulustigen hielten ihre Smartphones in die Höhe – ein seltsamer Anblick, als wäre der erhobene Arm eine Geste der Anteilnahme oder der stumme Gruß einer verschworenen Geheimsekte.
Natürlich gab es keinen Leichnam zu sehen. Die Handys starrten vielmehr auf das Meer aus Schnittblumen, die Fans und entsetzte Bürger jenseits der Absperrung niedergelegt hatten. Dazwischen steckten auch Fotos und Bücher von Charles Nöck, handgemalte Pappschilder, auf denen Du fehlst uns!, Wir sind Charlie! und Was soll jetzt werden? stand. Das letzte konnte de Jong nur lesen, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und über die Köpfe hinweg und zwischen den erhobenen Handy-Armen hindurchlinste. Und dann rempelte ihn jemand von hinten an und beschwerte sich, dass de Jong ihm »mitten im Bild« herumstehe.
Der Exkommissar wandte sich ab und trat den Rückweg an, geriet auf dem Weg zu seinem Fahrrad noch in eine gut besuchte Krimi-Stadtführung. Normalerweise klapperten diese Führungen in der City alle Sets ab, an denen Thiel und Börne schon mal gedreht hatten, heute war die grauenhafte Tat gut für einen aktuellen Abstecher an den Aasee, weil man endlich mal einen »authentischen« Mord-Schauplatz besichtigen konnte. De Jong hielt still und ließ das Menschenrudel an sich vorüberziehen, dann atmete er durch und schwang sich auf sein Rad.
Angesichts des Rummels hielt er es für besser, sich seine Informationen schriftlich zu verschaffen. In der Innenstadt angekommen, besorgte er sich eine Tageszeitung, bestellte in einem Café einen Kaffee und widmete sich dem Aufmacher auf der ersten Seite.
BRUTALES GEMETZEL UNTER DER TORMINBRÜCKE
Münsteraner Starautor ermordet.
Die Bürger unserer friedliebenden Stadt stehen zusammen angesichts einer brutalen Mordtat. Seit gestern Nacht scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Charles F. Nöck, ein Sohn dieser Stadt und großer Schriftsteller, ist nicht mehr. Er wurde das Opfer eines feigen Mordanschlages. Ingolf Bolte, der Agent des Autors und sein langjähriger Freund: »Charlie wollte sich einfach nur am Aasee die Beine vertreten. Das hat er oft gemacht, wenn er sich vor einem großen Auftritt sammeln wollte.« – Der große Auftritt, damit ist der Start seines neuen, mit großer Spannung erwarteten Werkes gemeint, der als ein Mega-Event der Extraklasse in die Annalen der Stadt eingehen sollte. Zahllose Fans aus aller Welt sind nur deswegen angereist, die Hotels der Stadt sind komplett ausgebucht. Leser, die sich auf Mord und Totschlag gefreut hatten und denen der Spaß daran jetzt fürs Erste vergangen ist.
Bis jetzt gibt es noch keine Spur, wer hinter dieser barbarischen Tat stecken könnte. Hauptkommissar Armin Selters, der Leiter der Mordkommission, kündigte indes an, dass man alles unternehmen werde, um den Mord so bald wie möglich aufzuklären.
»Dies ist die Stadt des Westfälischen Friedens, sie steht für Toleranz und Weltoffenheit«, erklärte der Oberbürgermeister, der inzwischen einen terroristischen Anschlag ausschloss. »Für Fahrräder und herzhaftes Essen. Barbarei hat bei uns keinen Platz.«
Wie kein anderer hat Nöck die Spannungsliteratur in diesem Land geprägt. Viele begeisterte er, einige mag er verstört haben mit seiner Art, Grenzen des Geschmacks beizeiten zu überschreiten und Dinge in schonungslos blutiger Härte darzustellen. Aber alle faszinierte er auf seine Weise. So trauert die literarische Welt nun um einen ihrer Großen. Die Lücke, die Charles Nöck hinterlassen hat, wird sich wohl so schnell nicht schließen.
De Jong dachte gerade über einen zweiten Kaffee nach, als das Telefon klingelte. Er faltete die Zeitung zusammen und kramte sein Handy aus der Tasche. »Ja?«, meldete er sich.
»Hier ist Till«, sagte eine männliche Stimme. »Ich bin jetzt angekommen.«
»Till?«, fragte de Jong, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Welcher Till?«
»Till Grönewald.« Die Stimme klang trotz aller Nachsicht leicht irritiert. »Ich hatte dir doch geschrieben, dass ich heute …«
»Stimmt, ja. Oh Gott!«, unterbrach ihn de Jong, dem urplötzlich einfiel, was er über die Sache mit Giulia komplett vergessen hatte.
»Was ist? Passt es dir etwa zeitlich nicht?«
»Doch, doch. Sicher, wie kommst du darauf? Kein Problem.«
Grönewald hatte er vor etwa einem Jahr auf einem Literatur-Workshop in Holzwickede kennengelernt. Nach dem offiziellen Teil hatten sie zusammengesessen, und de Jong hatte erzählt, dass er sich aus dem Kripo-Dienst zurückgezogen habe. Worauf Grönewald ihm gratuliert hatte, weil die Kripo seines Wissens sowieso von Agenten des Systems unterwandert sei. De Jongs Frage, welche Agenten welchen Systems er denn meine, parierte Grönewald mit der Gegenfrage, ob de Jong schon mal darüber nachgedacht habe, warum gerade prominente Morde niemals aufgeklärt worden seien: der an John F. Kennedy, an Olof Palme, an Uwe Barschel. Und das seien nur Beispiele.
»Oder du schreibst ein Buch und kein Verlag will es drucken. Dann stellst du dir doch die Frage: Wieso ist das so? Wem trete ich damit auf die Füße? Warum ziehen sie alle den Kopf ein?«
»Und? «, erkundigte sich de Jong neugierig. »Warum?«
Grönewald hatte mit den Schultern gezuckt wie einer, den mittlerweile nichts mehr schockieren konnte. »Und dann kommt eines Tages ein anderer mit dem Stoff groß raus. Und du fragst dich, woher er den wohl hat.«
»Woher denn?«
»Ach egal. War doch nur ein Beispiel.«
Für de Jong hatte das Ganze allzu sehr nach Verschwörungstheorie geklungen. – Das wäre, hatte sein neuer Bekannter darauf erwidert, wenn man glaube, dass Aliens auf der Erde gelandet seien. Stimmt, meinte de Jong, und Grönewald fragte, woher er denn wissen wolle, dass dies nicht der Fall sei. Angenommen nämlich, es sei der Fall, frage sich doch, wieso alle Menschen diese Tatsache als Verschwörungstheorie abtäten.
Die Nacht war damals ziemlich lang geworden und am Ende hatte de Jong in einem Zustand tumben Halbschlafs eine dieser vagen Einladungen ausgesprochen, dass Till sich doch auf jeden Fall mal melden solle, wenn ihn irgendetwas nach Münster verschlage.
Till Grönewald stammte aus Wernigerode und betrieb dort einen Shuttledienst, der die Touristen in einer benzinbetriebenen Bimmelbahn durch den historischen Ort zum Schloss hinauf und wieder zurück kutschierte. Letzte Woche hatte er die vage ausgesprochene Einladung angenommen.
»Warte kurz auf mich«, sagte de Jong. »Ich bin schon auf dem Weg. Gib mir fünf Minuten.«
Aristoteles – den echten Nachnamen hatte de Jong vergessen, es war irgendeiner dieser komplizierten griechischen Namen, die man sich nicht merken konnte – betrieb ein Restaurant am Bremer Platz, der von manchen als die erdabgewandte Seite des Hauptbahnhofes bezeichnet wurde. Als ehemaliger Chef der Kripo-Kantine hatte er sich eines Tages selbstständig gemacht und bot seinen ausgewählten Gästen seitdem die breite Palette der griechischen Küche. Aristoteles war über die Maßen gastfreundlich und besaß über dem Restaurant eine kleine Wohnung, die er hin und wieder an Gäste vermietete. Natürlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, dass der Mann aus Wernigerode hier logierte.
Als de Jong eintraf, hatte der Wirt Grönewald längst einquartiert und ihn anschließend in sein Lokal gebeten, um ihm zwei Ouzo zu spendieren. Der Exkommissar bekam auch einen, und der neue Gast damit seinen dritten.
»Also dann, willkommen in der Stadt«, sagte de Jong, und sie stießen an.
Till Grönewald war Mitte fünfzig und hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf. Stahlblaue, leicht wässrige Augen blickten alkoholselig aus einem Gesicht, das in einem besorgniserregenden Bluthochdruck-Rot leuchtete.
»Freut mich, dass das alles doch noch geklappt hat«, sagte de Jong, um zu überspielen, dass er den Besuch komplett vergessen hatte.
»Na ja, nicht alles«, widersprach sein Gast mit einem nachdenklichen Blick in sein kleines Ouzoglas.
Worauf der Exkommissar sich ertappt fühlte. »Also gut«, gestand er. »Ich hatte am Wochenende Beziehungsstress. Und dadurch ist mir wohl so einiges entgangen.«
Grönewald schüttelte den Kopf. »Ich meine das, was gestern Nacht passiert ist …«
Gestern Nacht. Der Mord an Nöck. De Jong ahnte, warum Grönewald ausgerechnet jetzt die Einladung angenommen hatte. »Du wolltest auch an diesem Event in der Halle Münsterland teilnehmen?«, sagte er. »War das der Anlass deines Besuchs?«
»Na, klar. Ich bin Nöck-Fan aus Leib und Seele. Und besonders auf den Frauenesser war ich gespannt. Der Mann war mein großes Vorbild.« Grönewald zuckte traurig mit den Schultern. »Aber jetzt ist alles anders.«
Eine Weile herrschte Schweigen, während die beiden der Andersartigkeit von allem nachzuspüren schienen. »Der Mord stammt aus einem seiner Bücher, nicht wahr?«, nahm de Jong die Konversation schließlich wieder auf.
Grönewald sah ihn verständnislos an.
»Nicht aus dem aktuellen. Es gibt wohl ein anderes, da werden Leute geköpft.«
»Ich weiß. Der Köpfesammler. Kann mir schon denken, wie die Polizei das sieht: Dieser Mann ist auf eine Weise abgetreten, die er sich selbst nicht besser hätte schreiben können.«
»Die Polizei fragt sich, ob das wohl ein Zufall sein kann.«
Grönewald machte Aristoteles ein Zeichen, woraufhin der mit einer Ouzoflasche zum Nachfüllen herbeieilte. »Wenn es nach dem Buch geht, dann bleibt es nicht dabei.«
»Wobei?«
»Na, bei dem einen Mord. Nöcks Krimi handelt von einem Serientäter.«
»So wie der Frauenesser?«
»Genau. Nur eben keiner, der Frauen isst, sondern einer, der Köpfe sammelt.«
»Verstehe«, sagte de Jong. »Das ist allerdings ein Unterschied.«
Irgendwann nach dem nächsten Ouzo begann Grönewalds Miene sich allmählich aufzuheitern. Vielleicht weil er genug Trübsal geblasen und der Bluttat von gestern gedacht hatte. Der Alkohol bewirkte überdies, dass die Wolke der Düsternis dünner wurde und hier und da Löcher bekam. »Und sonst?«, schaffte der Mann aus dem Harz schließlich den Themenwechsel mit der Frage, die man eben stellte, auch wenn einen die Befindlichkeit des anderen wenig interessierte.
»Kann nicht klagen. Na ja, schon. Klagen geht eigentlich immer.« De Jong grinste. »Wie kommst du denn in Sachen Verschwörungen voran?«
Der andere überhörte die Ironie. »Ach, weißt du, davon bin ich weg. Verschwörungstheorien sind was für Leute, die im Kreis denken. Sensationsgeile Dummköpfe.«
»Sehr vernünftig«, lobte de Jong, positiv überrascht, weil er das seinem Gast nicht zugetraut hatte.
»Ich persönlich halte gar nichts davon.«
»Das war ja schon mal anders«, meinte de Jong.
»Es gibt doch tatsächlich Leute, die dir erzählen, die Kondensstreifen am Himmel bestehen aus Gift. Aus chemischen Kampfstoffen. Oder dass sie, wenn man sie vom Weltall aus betrachtet, eine geheimnisvolle Schrift sind, die irgendeine schockierende Botschaft für die Menschheit verkündet.« Till schüttelte den Kopf. »Das ist doch komplett gaga.«
De Jong hob sein Glas zum Anstoßen. »Wenn einer das beurteilen kann, dann ja wohl du.«
Grönewald knallte sein Glas gegen de Jongs. »Aber willst du wissen, warum ich nichts von Verschwörungstheorien halte? Ich hab mich ein bisschen umgehört, und mein Eindruck ist: Die werden ganz bewusst gestreut. Von oben. Um die Leute für dumm zu verkaufen, verstehst du? Damit sie keine Fragen stellen.«
»Was für Fragen denn?«
Aristoteles’ Logiergast nickte irgendwie zufrieden. »Darauf kommt nämlich kein Mensch: dass es jemanden gibt, dem das nützt. Der davon profitiert, dass die Leute immer dümmer werden und diesen Verschwörungsunsinn glauben.«
»Und wer?«, erkundigte sich de Jong, obwohl er das eigentlich schon gar nicht mehr wissen wollte.
»Keine Ahnung. Die Betreffenden werden ja wohl nicht so dumm sein und sich zu erkennen geben. Dann hätte ja die ganze Verschleierei keinen Sinn, ist doch klar.« Till machte ein Gesicht, als hätte er so eben mal die Relativitätstheorie erklärt. »Sag ruhig, wenn ich Unsinn rede.«
Warum mach ich das eigentlich nicht, dachte de Jong und sagte: »Aber schön jedenfalls, dass du von diesen Theorien weg bist.«
»Finde ich auch.«
»Und was macht die Schreiberei?«
»Frag besser nicht.« Grönewald verzog das Gesicht. »Das läuft noch beschissener als die Verschwörungstheorien.«
»Tut mir leid zu hören.«
»Ach was, geschenkt.« Till Grönewald nahm noch einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch, und das Grinsen, was dann folgte, war kein fröhliches, sondern eher ein tapferes. »Ich hab ja noch meine Bimmelbahn. Und wenn die Touristen kommen, muss schließlich einer am Steuer sitzen, was?«
Das war aber noch lange nicht alles. Wie sich herausstellte und de Jong eigentlich von ihrem ersten Zusammentreffen in Holzwickede wusste, gehörte der Mann aus Wernigerode zu den Menschen, die gern und viel über sich erzählen und dazu weder eine Aufforderung benötigen noch ein irgendwie geartetes Interesse des Gegenübers. Also hörte sich de Jong – auch Aristoteles, jedenfalls so lange, bis er unter einem Vorwand die Flucht ergriff – noch einiges über die Bimmelbahn an. Über die Touristen und ihre dämliche Knipserei, ihre bescheuerten Selfies, die sie immer an denselben Ecken aufnahmen, ihre immer gleichen Kommentare zu den Sehenswürdigkeiten – dem Rathaus, dem berühmten schiefen Haus und dem Schloss. De Jong gewann den Eindruck, dass Grönewald nicht besonders nett über seine Kundschaft dachte. Dass er sich weniger als Bimmelbahnpilot, sondern vielmehr als Künstler verstehe. Und während er die Bimmelbahn durch den Ort kutschierte, so manches Projekt in seinem Kopf bewege. Eine Oper beispielsweise, eine poetische Ode an die Natur oder einen geheimnisvollen Polit-Thriller, der auf dem Brocken zur Zeit des DDR-Regimes spielte. De Jong spürte, wie sich Müdigkeit in ihm breitmachte, und dachte daran, sich zu verabschieden; aber er wollte nicht unhöflich sein, kein schlechter Gastgeber, wo er doch schon den Start vermasselt hatte. Und so kämpfte er gegen den Drang an, die von Sekunde zu Sekunde schwerer werdenden Augenlider einfach zufallen zu lassen. Mit reiner Muskelkraft stemmte er sich gegen diese tonnenschweren Dinger, und als er merkte, dass er nicht beide Augen gleichzeitig offenhalten konnte, probierte er es immer abwechselnd.
Dass es schon auf den Abend zuging, bemerkte er daran, dass Aristoteles die Tische neu ausrichtete und Servietten und Speisekarten verteilte. »Ihr bleibt natürlich zum Essen«, sagte er, schien es aber irgendwie nicht zu meinen. De Jong vermutete, dass auch ihm schwere Augenlider zu schaffen machten – und das, wo draußen vor der Tür schon die ersten Gäste die Speisekarte studierten.
»Sonst gern«, ergriff de Jong die Möglichkeit zur Flucht. »Aber heute hat mich meine Nachbarin zum Abendessen eingeladen.«
Grönewald kippte noch einen Ouzo und winkte de Jong zu. »Na gut, wir können ja später weiterquatschen.«
»Klar.« Der Exkommissar grinste. »Machen wir.«