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Tiny Dancer

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Yvonne Schauder saß auf ihrem Stammplatz: Christian gegenüber, direkt unter dem Kronleuchter, möglichst entfernt von der Toilette. Sie hatte keine Lust, am Ende des Abends Bielecke beim Reihern zu hören oder Franks Fluchen, sobald er die Bescherung entdeckt hatte; außerdem behielt sie so genügend Abstand zum Fenster, wo die Gebrüder Kowalski unter ihren Papierhüten grimmig dreinschauten. Yvonne ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Patrick Kowalski wegen einer Lappalie einen Streit anzettelte.

»Ich hab mit weniger Gästen gerechnet«, bemerkte sie.

»Hallo-o«, murmelte Christian. »Es gibt Freibier.«

»Wer hat das gesagt?«

»Frank höchstpersönlich.«

Ihr Mann umfasste mit einer Hand sein Bierglas, während er mit der anderen sein Smartphone bediente. Seit er sich einen Fußball-Ticker heruntergeladen hatte, hing er ständig am Handy und verglich Tabellen und Punktestände. Die schmerzlichste aller Wahrheiten lautete wohl: Auf der Welt wurde immer irgendwo Fußball gespielt.

»Weißt du, wann Jannes kommt?«

»Keine Ahnung.«

»Habt ihr nicht telefoniert?«

»Ja, und?«

»Hat er nichts gesagt?«

»Ich denke, die Party soll ’ne Überraschung sein?«

»Ist ja kein Grund, ihn nicht vorzuwarnen.«

»Ich will mir Ärger mit seiner Alten ersparen.«

»Seit wann bist du so zimperlich?«

Er schüttelte den Kopf, doch wusste sie nicht, ob es der Frage oder dem Ergebnis eines Spiels geschuldet war. Er trug seine kakifarbene Armeehose und ein Poloshirt, das seine muskulösen Oberarme betonte. Selbst im staubigen Licht des Kronleuchters strahlte sein Gesicht vor Reinheit, als wäre er das 40-Plus-Modell einer Kosmetikfirma. 20 Jahre hatte Christian in einer Autoreparatur malocht, war jeden Tag mit öligen Fingern und Haaren heimgekommen, und jetzt – ein halbes Jahr ohne Job – schloss er sich morgens im Bad ein, um es erst wieder gestriegelt und rasiert zu verlassen. Yvonne hoffte, er würde in der neuen Fabrik eine Anstellung finden, auch wenn ihn E-Autos in etwa genauso ins Schwärmen brachten wie der Abstieg seines Lieblingsvereins.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Klar, was soll denn sein?«

»Ich dachte nur …« Sie stockte. »Ach, egal.«

Sie schielte zum Fenster hinüber, wo die Gebrüder Kowalski beisammenhockten, als heckten sie neue Streiche aus. Ja, musste sie sich eingestehen, Patricks Verarsche war nicht übel gewesen, und ja, die fassungslosen Gesichter der anderen hatten sie amüsiert. Aber das rechtfertigte nicht sein Verhalten, im Gegenteil: In Yvonne nährte es lediglich die Sorge, seine Aktion wäre ein Vorgeschmack auf den Rest des Abends gewesen.

Sie klemmte den rechten Fuß hinter das Stuhlbein und ließ den linken zum Takt von Elton Johns »Tiny Dancer« wippen. Christian saß ihr unverändert gegenüber: ein Bein aufs andere gewinkelt, das Handy stets im Blick. Insgeheim beneidete sie ihn um seine stoische Ruhe. An jedem x-beliebigen Ort gelang es ihm, die Welt auf ein Detail zu verkleinern – ein Fußballspiel, eine Tabelle oder zwei Zahlen, die von einem Doppelpunkt getrennt wurden. Sie leerte ihr Glas und teilte ihm mit, sie würde sich Nachschub besorgen.

Keine Reaktion seinerseits.

»Ich verdrück mich mit Frank aufs Klo.«

»Was ist los?«

»Ach, egal.«

Indem sie demonstrativ zur Bar zeigte, nötigte sie ihm immerhin ein Nicken ab. Dann durchquerte sie, von sanften Gitarrenakkorden begleitet, die Kneipe und rutschte auf einen Barhocker. Frank hielt hinterm Tresen wacker die Stellung. Unter seiner Schirmmütze leuchtete eine rosarote Brille, und während er Knabberzeug in ein Schälchen füllte, lauschte er dem Gespräch einiger Gäste. Erika nahm ihr das leere Glas ab und erkundigte sich, wo sie so lange geblieben sei.

»Ich wollte erst mal ankommen«, rechtfertigte sich Yvonne.

»Und Christian bewacht den Tisch, oder was?«

»Wohl eher sein Smartphone.«

»Frank hasst die Dinger.«

»Ist nicht dein Ernst?«

»Ja, und Tablets auch.«

»Finde ich klasse.«

»Klasse? Vorsintflutlich nenne ich das.«

Erika reichte ihr das randvolle Sektglas und fragte mit Blick auf Christian, ob alles in Ordnung sei. Yvonne wandte sich um und erkannte sofort, was Erika zu der Frage bewogen hatte. Obgleich er nicht aufschaute, waren seine geröteten Wangen und seine gefurchte Stirn unverkennbar, ein Gesicht, das einer zusammengeballten Faust glich. Auch nach 15 Jahren Beziehung samt Haus und Kind waren ihr seine Launen ein Rätsel. Manchmal schlief Yvonne in der Annahme ein, sein Frust habe ihr gegolten, um am nächsten Morgen zu erfahren, dass ihm irgendein Spielergebnis die Laune verdorben hatte.

»Was soll ich sagen«, antwortete Yvonne. »Das Übliche.«

»Fußball?«

»Nachm Aufstehen, vorm Einschlafen, überall. Dem Handy sei Dank.«

»Schon mit handyfreier Zeit versucht?«

»Das würde nur Gezeter geben.«

»Lass es drauf ankommen.«

»Dann hab ich zwei bockige Jungs zu Hause.«

Erika rollte mit den Augen, bevor sie drei Bier aus dem Kühlschrank holte und ein paar Bekannte bediente. Yvonne waren die Männer, die sich um den Tresen geschart hatten, allesamt vertraut: links Bruno Vogler, der Christian die Fußball-App empfohlen hatte; daneben René Berkholz, der während des Gesprächs immer wieder die Zeit fand, den Refrain eines Songs mitzugrölen, und Wolfgang Bielecke, dem garantiert längst das Hausverbot drohte. Inmitten der Gruppe, doch wegen seiner Größe leicht zu übersehen, griente August Brehm, den alle nur den »Lehrer« nannten. Frank neigte sich über den Tresen und fragte ihn:

»Und diese Pflanze ist ausgestorben?«

»War«, sagte August. »Bis ich sie gefunden habe.«

»Ist ja unglaublich.«

Der Lehrer lächelte breit. Über einem Karohemd trug er eine Weste, dazu eine abgewetzte Cordhose; an einigen Stellen sträubten sich seine Haare, als wäre er geradewegs aus der Wildnis zur Feier eingekehrt. August Brehm umgab die Aura eines Abenteurers.

»Eine neue Pflanze?«, sagte Frank. »Hier bei uns?«

»Eigentlich eine alte.«

»Bestimmt findest du bald ’nen Dino.«

August lachte und bestellte ein Bier. Yvonne tippte Erika an den Ellbogen, wollte wissen, was da im Gange sei, worauf ihre Freundin ein lässiges Schulterzucken präsentierte.

»Sieht unserem Lehrer gar nicht ähnlich.«

»Was meinst du?«

»Sich so in den Mittelpunkt zu stellen.«

»Tja, jeder hat seine 15 Minuten.«

»Ich hab nicht mal erwartet, dass er kommt.«

»Wieso nicht?«

»Irgendwie passt er hier nicht rein.«

Erika lachte. »Hast wohl ’n Auge auf ihn geworfen?«

Yvonne antwortete, er sei für ihren Geschmack zu weichgespült. »Ich brauch Typen, die anpacken können.«

»So wie deiner?«

Erika nickte über den Tresen hinweg. Unter dem trüben Schein des Kronleuchters glich Christian einem Komiker, der sein Publikum gleich mit zotigen Anekdoten zu amüsieren hoffte. Erika winkte nach ihm, und als er nicht von seinem Handy aufschaute, griff sie aus dem Kühlfach den Wodka und drückte Frank die Flasche an die Brust.

»Hat dein Unkraut auch ’nen Namen?«, fragte René Berkholz.

»Silene tenebre«, sagte der Lehrer ruhig.

»Was?«

»Silene tenebre.«

»Klugscheißen kannste in der Schule«, lachte Bruno Vogler.

»Sorry, bin auf Lebenszeit beurlaubt.«

»Beamter müsste man sein.«

»Silene tenebre bedeutet Dunkelblüte.«

»Dann ist dein Kraut bei uns ja bestens aufgehoben.« Renés Gelächter fand in der Runde ein gehöriges Echo; selbst August stieg mit ein, als könne ihn niemand seines Glückes berauben.

Frank reihte sechs Schnapsgläser aneinander, musterte die Runde und seufzte. Mittlerweile hatte sich um Bielecke, Berkholz und den Lehrer ein Pulk gebildet, und die Faszination für irgendein Pflänzchen übertönte die gesamte Bar, sogar die Musik aus dem Radio kapitulierte vor Renés schrillem Organ.

»Wo haste dein Kraut denn gefunden?«

»Draußen, Heide West.«

»Also auf Lewins Brache?«

»Fast«, erwiderte der Lehrer. »An der Lichtung zum Kiefernwald.«

Frank öffnete den Wodka, füllte die Gläser und verkündete eine Runde aufs Haus. Kaum hatte er ausgesprochen, drängten sich René Berkholz und Wolfgang Bielecke gegen den Tresen.

»Wir reißen uns heute zusammen«, ermahnte Frank den Alten.

»Genau, Wolfgang«, lachte Berkholz.

»Und du auch.«

»Keine Sorge, Chef.«

»Okay, das gilt übrigens für euch alle.«

Ein Raunen, kollektiv und wohlwollend, erfüllte den Raum. Der erste Schluck gebühre dem edlen Spender, rief Erika, und die Meute wandte sich zu Christian um. Yvonne schwankte zwischen der Genugtuung, weil es ihm nun unmöglich war, sich in seine Welt zu verkriechen, und einem Gefühl der Scham. Erika schob eine Hand auf die ihre und blinzelte ihr komplizenhaft zu.

Wider Erwarten erhob sich Christian, und mit jedem Schritt in Richtung Bar schien sich sein Gesicht weiter zu entspannen; schließlich legte der Mann, mit dem sie gemeinsam das Tattoostudio besuchte, der trotz seiner Abneigung für E-Autos einen Job in der Fabrik anstrebte, der bis in den Abend hinein am Haus werkelte, einen Arm um sie. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Arm und schob ihm eines der Gläser hin.

In feinster Eintracht wurden die Schnapsgläser gehoben; dann bat Frank erneut darum, dass sich alle zusammenreißen sollten, immerhin feiere man heute einen Geburtstag. »Hey, August«, sagte er heiter. »Da musste dein Kraut aber schnell pflücken, wenn nächstes Jahr der Wald gerodet wird.«

»Ich denke, das hat sich erst mal erledigt«, entgegnete der Lehrer.

»Lass deswegen bloß den Kopf nicht hängen.«

»Frank, er hat von der Fabrik gesprochen«, fuhr Christian ihn an, und Yvonne sah, wie das Gesicht ihres Mannes zur Faust wurde.

Nacht im Kopf

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