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Happy Birthday

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Jannes Krüger musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um von der Feier zu erfahren: Seine Frau hatte es ihm auf höchst subtile Weise gesteckt: »Zieh dich bloß ordentlich an«, hatte sie geschimpft. »Schließlich kommen alle nur deinetwegen.«

In seinen Ohren hatte ihre Ankündigung wie ein Schuldspruch geklungen. Seinetwegen betreibe man den ganzen Aufwand, seinetwegen mache sie sich extra schick. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seinen Geburtstag lieber vor dem Fernseher verbracht oder auf dem Dachboden zwischen seinen Büchern und Zeitschriften.

»Augen zu«, sagte Lotte vor Lewins Kneipe.

Verstohlen linste Jannes auf die andere Straßenseite. In dem Haus schräg gegenüber wohnte Pawel Mitschek. Mit Sicherheit hockte er hinter der Gardine und beobachtete ihn und seine Frau; zweifellos war er einer der wenigen, die man wohl nicht zur Feier eingeladen hatte. Obwohl er diesen Mitschek kaum kannte, war ihm das Theater mit seiner Frau peinlich.

»Lotte«, protestierte Jannes. »Ich will nicht.«

»Komm, stell dich nicht so an.«

»Ich weiß doch längst Bescheid.«

»Umso besser. Dann kannst du nichts vermasseln.«

Durch die Eingangstür drangen Stimmen und das Gewummer lauter Musik. Garantiert lauerte jemand am Fenster, damit seine Ankunft nicht unbemerkt blieb. Um den Hergang der nächsten Minuten zu erahnen, musste Jannes ebenso wenig Hellsehen können: Er würde mit geschlossenen Augen die Kneipe betreten und aus den Boxen würden irgendwelche Geburtstagslieder dröhnen; die Meute würde mitsingen, lautstark, schief und angetrunken.

Lotte stellte sich hinter ihn, schirmte ihm beide Augen ab, und er dachte an seine stille Dachkammer. Sie probierte, ihm die Augen zuzuhalten und gleichzeitig die Klinke zu drücken, bis sie schließlich aufgab und ihm sagte, er solle selbst die Tür öffnen.

»Tut mir leid, ich seh nichts.«

»Stell dich nicht so an.«

»Zu Befehl«, seufzte Jannes und ertastete blind die Klinke.

Nachdem sie gemeinsam über die Schwelle getippelt waren, er voran, Lotte hinterher, verblasste sein Widerwillen unter dem Gefühl, geradewegs in eine große Peinlichkeit zu schlittern. Im Dunkeln unter Lottes Händen erschienen ihm die Bilder abendlicher TV-Shows: Ein Mann beichtet einer Frau seine Liebe vor laufender Kamera, dazu schmalzige Musik und ein Korb voller Rosen. Oder eine Szene aus »Verstehen Sie Spaß?«, die er nie hatte vergessen können: Ein ahnungsloses Opfer sucht eine öffentliche Toilette auf, um beim Verlassen von einem applaudierenden Publikum begrüßt zu werden. Zunächst hatte ihn die Fremdscham vor dem Fernseher erwischt, dann auf Arbeit, als die Sendung bei den Kolleginnen Thema gewesen war.

Lotte nahm die Hände von seinem Gesicht, doch anders als erwartet empfing ihn weder ein Geburtstagsständchen noch der Jubel der Kuxwinkler, kein »Happy Birthday«, kein »Hoch soll er leben«. Mit Ausnahme der Gebrüder Kowalski belagerten sämtliche Gäste den Tresen. Christian Schauder redete auf jemanden ein, dessen Gestalt von der Runde verdeckt wurde. Zwei Dorfbewohner, die Jannes seit Monaten nicht gesehen hatte, gafften entsetzt wie die Zuschauer eines Unfalls. Einige nuckelten stumm an ihren Bierflaschen, andere gestikulierten wild. Schwerer Zigarettenrauch wälzte sich unter dem Kronleuchter hindurch in den Eingangsbereich und brachte Lottes Augen zum Tränen. Gewiss hatte sie sich den Empfang anders vorgestellt, und als er zwischen den Gästen Erikas besorgtes Gesicht entdeckte, dämmerte ihm, dass etwas aus dem Ruder zu laufen drohte.

René Berkholz’ Stimme schallte zu ihm herüber. »Wenn die Naturschützer antanzen, ist alles hin.«

»Leute, Leute«, rief Frank Lewin hinter dem Tresen, »immer mit der Ruhe!«

»Manometer, es geht um unsere Zukunft.«

Erika erklomm einen Hocker und blies so lange in eine Papiertröte, bis die Meute verstummte. »Hey, unser Geburtstagskind ist da.«

Unvermittelt begann Lotte, in die Hände zu klatschen. Jannes’ Mundwinkel sprangen hoch; seine Gesichtsmuskeln wahrten Anstand und Höflichkeit, während sich sein Inneres nach der Dachkammer sehnte. Aus der Anlage lärmte Stevie Wonders »Happy Birthday« und übertönte Lottes Klatschen. Erika und Yvonne Schauder näherten sich ihm, pusteten dabei Luftschlangen umher und präsentierten sich ungeachtet der Situation in Feierlaune.

»Herzlichen Glückwunsch.« Lotte gab ihm einen Kuss und warf eine Handvoll Konfetti über ihn. »Heute ist dein Tag.«

»Noch zwei Jahre!«, brüllte Bielecke. »Dann hast du’s geschafft.«

Der Suffkopf spielte auf seine Rente an. Jannes hatte nie verstanden, weshalb die Leute einem dazu gratulierten, warum sie Dinge sagten wie: Jetzt kannst du endlich machen, was du willst, jetzt fängt das wahre Leben an. Ihm graute vor dem Ruhestand, er wollte weiter seinen Schreibtisch in der AOK-Filiale hüten, wollte fünf Tage die Woche nach Rathenow fahren und mit den Kolleginnen am Kaffeeautomaten schnacken.

»Nur die allerliebsten Glückwünsche, mein Bester.« Erika umarmte ihn und er konnte unter ihrem Parfüm einen Hauch von Schweiß riechen; die Erinnerung, wie er sie vor 30 Jahren am Schwarzen See geküsst hatte, ließ ihn auf Abstand rücken. In der Angst, seine Verlegenheit zu offenbaren, strich er sich das Konfetti aus den Haaren und die Luftschlangen vom Hemd.

»Das habt ihr toll gemacht«, bemerkte er. »Wirklich toll.«

»Bedank dich bei deiner Frau«, entgegnete Erika.

»Das mach ich jeden Tag, immerzu.«

»Schön wär’s«, erwiderte Lotte.

Sie zerrte ihn zum Tresen und sein Lächeln überdauerte die Strecke völlig automatisch. Nachbarn und Bekannte reichten ihm entweder die Hand oder umarmten ihn mit alkoholisierter Innigkeit. Jannes erduldete das alles, und selbst als Erika ihm ein Papierhütchen aufdrängte, schluckte er den Protest hinunter. Frank sagte, er wünsche ihm das ganze Blablabla, schenkte ihm ein breites Grinsen und servierte ihm anschließend ein Bier. Trotz der rosaroten Brille glaubte Jannes, in Franks Augen ein Quäntchen Misstrauen, vielleicht sogar Feindseligkeit zu lesen. Er wich seinem Blick aus und glitt an der Bar entlang, bis er zufällig vor dem Lehrer landete.

»Alles, alles Gute.« August Brehm rieb ihm liebevoll die Schulter. »Für deine Gesundheit und deine Zukunft.«

»Danke, danke.«

»Komm mal vorbei. Ich hab noch ’n paar Astern.«

»Ist es dafür nicht zu spät?«

August lächelte. »Im Herbst pflanzen, im Frühjahr bewundern.«

»Du, Jannes!«, krakeelte René Berkholz dazwischen. »Du bist doch so ’n Paragrafenheini.«

»Kommt drauf an«, erwiderte er.

»Hast du mit Gesetzen zu tun oder nicht?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Dann pass mal auf.«

Berkholz stierte ihn auf eine Weise an, die nicht nur ihm, sondern der ganzen Meute die Wichtigkeit der nächsten Frage verdeutlichen sollte. »Also«, begann er, »kann ein Bauvorhaben gestoppt werden, bloß weil man aufm Grundstück ’ne besondere Pflanze findet?«

»Gute Frage.«

»Ist das ’n Ja oder ’n Nein?«

Der Satz war noch nicht verhallt, da spürte er bereits Lottes Finger im Kreuz. Zweifellos wollte sie ihn von dieser Diskussion weglotsen, fort von Berkholz und Bielecke und hin zu ihrer eigenen Sippe, die sich brav an einem Gläschen Likör festhielt. Nein, entschied Jannes. Heute war sein Tag. Diesmal würde er nicht einknicken, und wenn sie ihn schon zu dieser Feier genötigt hatte, sollte sie auch die Konsequenzen tragen.

»1995«, erklärte er, »hat die Großtrappe fast den Bau der ICE-Strecke Berlin–Hannover blockiert.« Er versuchte, sich an den Artikel in der MAZ zu erinnern. »Die Bahn wollte extra einen Tunnel bauen. Für eine Milliarde Euro.«

Das Stöhnen seiner Zuhörer wurde nur von Bieleckes Lachen übertönt; es klang rau und gehässig, und sein gelber Schnauzbart sträubte sich unter seiner Knollennase. Sowie Jannes erneut den Finger seiner Frau im Rücken spürte, fuhr er fort:

»2011 hat ’n Käfer den Bau des Stuttgarter Bahnhofs ausgebremst. Das Projekt lag drei Monate auf Eis.«

»Ein beschissener Käfer?«, fragte Vogler.

»Die Art steht unter Naturschutz.«

»Verdammter Mist.« Frank hatte die rosarote Brille abgelegt, und Jannes registrierte nun ganz deutlich die Feindseligkeit in seinen Augen; jetzt schien sie allerdings jemand anderem zu gelten.

Der Lehrer ergriff das Wort und erklärte den anderen, dass es um ihre Zukunft gehe, um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Darauf blaffte ihn Christian Schauder an, was er denn über ihre Kinder wisse.

Jannes merkte, wie er langsam aus der Runde gedrängt wurde. Alle Hände waren geschüttelt, alle Wünsche übermittelt, und seine Relevanz hatte sich mit dem kleinen Exkurs in Sachen Artenschutz erschöpft. Er verblieb am äußeren Ende der Bar und beobachtete das hektische Auf und Ab der Papierhüte. Als Patrick Kowalski sich zwischen die anderen Gäste schob, packte ihn Lotte am Arm.

»Da will dir jemand gratulieren.« Sie sprach von ihren Verwandten, die gesittet an einem der hinteren Tische saßen.

»Und warum kommt niemand her?«

»Meine Schwester hat’s mit der Hüfte, das weißt du.«

»Ja«, gab er nach. »Ich trink bloß aus.«

»Ich finde, du solltest die Klappe halten«, sagte Patrick Kowalski zu dem Lehrer. »Du gehörst zu denen, die immer alles besser wissen.«

Frank ermahnte ihn, er möge sich bitte mäßigen, worauf er postwendend mit dem Protest der anderen belegt wurde. Er solle Patrick gefälligst reden lassen. Schließlich sei er einer von ihnen und habe genauso wie der Rest ein Recht auf seine Meinung. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Runde setzte Patrick Kowalski offenbar unter Druck; er starrte den Lehrer an, doch in dessen Gesicht zeichnete sich nur ein leises Bedauern ab. Jannes war sich unklar darüber, ob das Bedauern dem Konflikt oder Patricks Einfalt galt. Ganz gleich, für welche Interpretation sich Jannes letztlich entscheiden würde, Patrick hatte längst sein Urteil gefällt. Er streckte seine Hand nach dem Lehrer aus, und Tom – sein älterer Bruder – preschte ungestüm in die Runde.

Nacht im Kopf

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