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Private Dancer

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Wie jeden Abend wollte Pawel es sich auf dem Sofa mit Bibi bequem machen. In einer Aluschale dampfte sein Abendessen: Hähnchen, Klöße, Rotkohl, dazu eine fettige Soße. Um nicht den Müll im TV ertragen zu müssen, hatte er seine Lieblingsserie in den DVD-Player geschoben. »Schock-Geschichten«. Zwölf Episoden voller Grusel, Terror und Leidenschaft. Doch ehe Pawel auf Position war, sah er durchs Fenster den jungen Kowalski zur Kneipe schlendern, was im Hause Mitschek eine kleine Programmänderung zur Folge hatte.

Keine fünf Minuten später schob er die leere Aluschale aufs Fensterbrett und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bibi sprang auf seinen Schoß und sofort spürte er durch die Jogginghose hindurch ihre Krallen. Er kraulte ihr sanft das Köpfchen, bis sie zufrieden schnurrte und sich einrollte. Angesichts seiner massigen Oberschenkel und seines Bauchumfangs wirkte Bibi kaum größer als ein Wollknäuel. »Ich wette«, sagte er zu ihr, »heute wird’s knallen.«

Nachdem 20 Minuten ereignislos verstrichen waren, entschuldigte er sich bei Bibi und schob sie auf die Armlehne. Er hievte sich vom Sessel und schleppte sich durchs Wohnzimmer. Leere Colaflaschen übersäten den Teppich; unter seinen Pantoffeln knirschten Chips- und Haribo-Tüten. Aus dem 5.1.-Soundsystem, das er vor Jahren in einem letzten Kraftakt installiert hatte, surrte spannungsgeladene Musik. Obwohl er die Serie in- und auswendig kannte, stoppte er am Sofa, stützte die Arme auf die Rückenlehne und folgte Judy Geeson über die unheimlichen Moore von Yorkshire. Längst waren ihm die Darsteller alte Bekannte geworden, die Geschichten so vertraut wie achtsam gehütete Familiengeheimnisse.

Judy Geeson, in der Rolle einer modernen Großstädterin, besuchte ihre Eltern auf dem Lande. Sie war gerade aus dem Zug gestiegen, da begegneten ihr schon die misstrauischen Blicke der Einheimischen. Eine jede Episode der »Schock-Geschichten« hielt, was der Serientitel auf subtile Weise versprach. So glaubte sich Judy Geeson von einem Brandstifter verfolgt, und natürlich wollte sie keiner der Einheimischen zu ihrem Elternhaus chauffieren. Bevor sie zu Fuß das schützende Heim erreicht hatte, begannen Pawel die Knie zu zittern. Er wälzte sich ans Ende der Rückenlehne und holte tief Luft; dann der Endspurt ins Badezimmer.

Mit seiner Rechten langte er nach dem Haltegriff seitlich der Toilette, mit seiner Linken zog er sich Hose und Slip herunter. Langsam und in äußerster Vorsicht sank er auf die Brille, dann riss er sich einen Streifen Klopapier ab und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er warf das Papier ins Waschbecken und umfasste seine Knie.

Der Schmerz fauchte in seinen Gelenken wie eine gegen die Wand getriebene Katze. Jeder Pfotenhieb strapazierte seine Nerven. Er massierte sich die Knie und dachte daran, dass ihn die Angst vor den Schmerzen schon einmal ans Sofa gefesselt hatte. Statt auf Toilette zu gehen, hatte er in eine leere Colaflasche uriniert und die Flasche unter dem Tisch verstaut. Drei Tage lang.

Pawel bediente die Spülung und stemmte sich mithilfe des Haltegriffs hoch, wankte zum Waschbecken und musterte sich im Spiegel. Sein Haar, schulterlang, fettig und angegraut, klebte ihm hinter den Ohren; schlaffe Wangen umrahmten seine Mundwinkel. Sein Körper hatte jede Spannung verloren. Er schnappte sich die Ibuprofen vom Beckenrand, warf eine Tablette ein und ließ den deprimierenden Anblick hinter sich.

In der Diele standen neben der Schuhablage ein Sechserpack Cola und eine Tragetasche voller Chips. Er zerrte eine Flasche aus der Klarsichtfolie und suchte Halt an der Wand, klemmte die Cola unter seinen Arm und eine Tüte Chips zwischen seine Zähne, dann kämpfte er sich zurück ins Wohnzimmer.

Am Sofa angekommen, stellte Pawel die Flasche ab und stützte sich wieder auf die Rückenlehne. Inzwischen lief die zweite Episode der »Schock-Geschichten«; diesmal war der Handlungsort ein Herrenhaus, irgendwo am Rande einer verlassenen Landstraße. Eine Tramperin, die von einem Unwetter überrascht wurde, bat um Einlass. Was die arme Frau nicht ahnte: Das Haus war in Besitz einer Familie ausgehungerter Kannibalen.

Jede der zwölf Episoden war von Alan Albert Bloch geschrieben worden, einem Schriftsteller und Drehbuchautor, der sich Mitte der 70er-Jahre in einen New-Age-Messias verwandelt hatte. Pawel hatte sogar Alan Blochs Bibel »Im Innern des Baumes« zu lesen begonnen, doch nach wenigen Seiten kapitulieren müssen. Zu schwammig, zu esoterisch. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, ein Poster von »Leise, leise klingelt der Tod«, vermutlich Blochs bekanntestem Werk, über seinem DVD-Regal anzubringen. Großes Kino, dachte Pawel. Ganz großes Kino. Er nahm die Flasche vom Boden und schleppte sich ans Fenster.

Nachdem er wie ein Mensch, der normalerweise Gehhilfen benutzte, in den Sessel geplumpst war, tapste Bibi zurück auf seinen Schoß. Zwei ferne Nachbarn, die er lediglich vom Sehen kannte, kamen die Dorfstraße entlanggelaufen, stoppten vor der Kneipe, um ihre Kleidung zu richten, und verschwanden in der Tür. Pawel nahm das Glas vom Fensterbrett und überprüfte, ob auch keine Fliege in den Colaresten klebte.

Ein Muster an Sauberkeit war Pawel nie gewesen; allein in den Wochen, als Mona sein Leben bestimmt hatte, war er über sich hinausgewachsen: Er hatte das dreckige Geschirr abgespült, das Leergut zum Pfandautomaten gebracht und den Plastikmüll in der gelben Tonne entsorgt; er hatte das Wohnzimmer gesaugt und die Sofakissen dekorativ auf der Couch arrangiert; er hatte die Bilderrahmen an der Wand vom Staub befreit – links das Porträt seiner verstorbenen Eltern und ein Schnappschuss von Bibi, rechts seine Galerie alter Kinoplakate. In dem Hochgefühl der Liebe hatte er mit seiner Handykamera die Küche und die Wohnstube gefilmt und all das kommentiert, was ihm vor die Linse geraten war. Der neue Kühlschrank, Bibis Fressnäpfe, die Yuccapalme und sein DVD-Regal, wobei er Mona jeden seiner Lieblingsfilme mit einem Extrakommentar präsentiert hatte. Die jeweils dreiminütigen Videos hatte er ihr dann per Whatsapp gesandt.

Er legte die fast leere Chipstüte auf die Armlehne und strich die Krümel von Bibis Rücken. Ein Kerl, den er nicht kannte, trat vor die Kneipe und rauchte eine Zigarette. Wenig später trabte das Geburtstagskind samt Gattin an. Es musste mittlerweile kurz nach 20 Uhr sein. Ehe Krügers eintraten, veranstalteten sie einen Affentanz, wer wem die Augen abschirmen durfte. Garantiert spielte Frank Lewin einen dieser berühmten Happy-Birthday-Songs, und alle lagen sich in den Armen, als hätten sie einander unheimlich lieb.

In dem Moment, in dem sich hinter Krügers die Tür schloss, machten sich seine Kniegelenke bemerkbar. Behutsam, sodass Bibi sich nicht gestört fühlte, hob er das linke Bein und positionierte es auf einem Hocker unterm Fenster. Vor wenigen Monaten hatte er sich noch ausgemalt, wie er den Kuxwinklern seine neue Freundin vorstellte. In seinen Fantasien hatte er zu ihr gesagt:

»Komm, lass uns was trinken gehen.«

»Was trinken?«, wiederholt sie ungläubig.

»Na, in meine Stammkneipe.«

»Ihr habt hier ein Lokal?«

»Gleich gegenüber«, antwortet er lachend. »Abends treffen wir uns immer dort.«

Als er mit ihr durch die Eingangstür schreitet, offenbart die Meute ein erstauntes Gesicht, dazu ein kollektives »Oh« und »Ah«. Lässig schmeißt er zur Begrüßung eine Lokalrunde. Mona integriert sich ohne jede Scheu bei den anderen Damen, amüsiert sich, tätschelt ihnen zwanglos die Schultern, und die Herren beglückwünschen ihn hinter vorgehaltener Hand für so eine Granate.

Aber seine Fantasie hatte keine zwei Wochen überlebt. Nachdem ihre Reaktion auf seine Videos eher verhalten ausgefallen war, hatte er ihr täglich neue Liebesbotschaften geschickt. Diesen Film musst du gucken. Schau mal, Bibi kann Kunststücke. Und ich habe 5 Kilo abgenommen. Nur für dich. Am Ende hatte sie ihn blockiert und sein Sauberkeitsdrang war wieder aufs alte Niveau geschrumpft.

Langsam zeigten die Tabletten Wirkung. Er verrückte sein Bein ein wenig, lehnte sich zurück und kraulte Bibi den Nacken. Mittlerweile war die Dorfstraße fast dunkel, das Kneipenlicht leuchtete warm und einladend und aus seiner Anlage tönte die Abspannmusik der »Schock-Geschichten«. Er langte in die Chipstüte und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern. Seine Annahme, dass die Geburtstagsfeier ein explosives Abendprogramm bieten würde, war wohl voreilig gewesen. Pawels Lider sanken tiefer und tiefer, und Bibi erfüllte das Wohnzimmer mit ihrem Schnurren.

Das Geschrei auf der Straße ließ ihn die Augen öffnen – ohne Schreck oder Herzrasen, vielmehr so, als wäre er statt am Fenster vor dem Fernseher eingeschlafen und von einem überlauten Werbeblock geweckt worden. Mit trägem Blick sah er im Eingangsbereich der Kneipe sechs Gestalten. Eine Person kroch auf allen vieren, während eine andere ihr in den Hintern trat; der Rest stand dicht daneben und applaudierte. Pawel wischte sich über die Augen, weil ihm die Szene geradezu surreal erschien. Als die Gestalten über die Straße blickten, rutschte er in greller Panik vom Sessel. Er fand die Fernbedienung, schaltete die Glotze ab und stellte sich im Dunkel seiner Stube tot.

Nacht im Kopf

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