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27. September
Dancing Queen

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Frank trat durch die Hintertür in die Kneipe, schob den Bierkasten unter die Bar und befüllte den Kühlschrank mit Flaschen. Über dem Tresen lief das Radio. 16 Uhr. Die Nachrichten des Berliner Rundfunks. Während ihm das Grauen aus aller Welt serviert wurde, fragte er sich, ob er auf diesem Planeten noch richtig war. Bürgerkrieg in Syrien, Bürgerkrieg in Jemen. Terroranschläge, korrupte Präsidenten, Brexit ohne Ende. Massenproteste in Hongkong; ungehemmte Waldbrände in Brasilien. Als der Lokalteil folgte, wurde es kaum besser. Frank war dankbar, dass Kuxwinkel für ihn bald der Vergangenheit angehörte. Kein halbes Jahr mehr, sagte er sich, dann wären er und Erika über alle Berge.

Die Bierkästen im Blick, überschlug er die Zahl der erwarteten Gäste. Wenn er pro Kopf sechs Bier berechnete, käme er auf 120 Flaschen, also insgesamt sechs Kästen. Für den Notfall lagerte im Keller eine Kiste »Frankfurter Export«, die er vor Jahren zum Aktionspreis geschossen hatte. Vielleicht waren sechs Bier pro Gast zu hoch kalkuliert, vielleicht traf mit Krügers Geburtstag aber auch der besagte Notfall ein. Derartige Grübeleien ließen ihn den Sinn der Feier anzweifeln, eben nicht anders, als er es gestern oder vorgestern, im Grunde bereits seit dem Tag der Planung getan hatte.

»Soll ich aufschließen?«, rief Erika durch den Raum.

»Muss das sein?« Er berührte seine Schirmmütze.

»Warum denn nicht?«

»Es ist kurz nach vier.«

»Ich dachte ja nur.«

»Willste, dass die Suffköppe schon um sechse dicht sind?«

»Okay, bleibt der Laden halt geschlossen.«

Erika lachte, wie sie in letzter Zeit häufig lachte: scheinbar grundlos und über die Maßen extrovertiert. Sie verrückte einen der Tische, bis er ihres Erachtens genau richtig stand, dann fragte sie Frank nach der Tüte.

»Welche Tüte?«

»Na, die mit den Girlanden.«

Er entdeckte zwei Tüten unterm Tresen, nahm eine davon und schwenkte sie auf Augenhöhe.

»Und die mit den Brillen?«

»Ist auch hier.«

Erika begann, wie ein aufgeregtes Kind in die Hände zu klatschen. Vorigen Monat hatte sie ihr Haar abschneiden lassen; seitdem zwirbelte sie sich zwei winzige Zöpfe, die von ihrem Hinterkopf ragten. Anfänglich hatte er mit dem neuen Look ebenso gefremdelt wie mit ihrem Lachen. Sobald er allerdings begriffen hatte, dass das ihre Art war, den Neuanfang zu begrüßen, hatte er sich damit abgefunden. Er warf ihr die Tüte zu und sagte:

»Ich versteh nicht, weshalb wir so ’n Aufriss machen.«

»Ach, komm. Jannes ist Stammgast.«

»Seinen Likör schmuggelt er trotzdem rein.«

»Das machen die andern auch.«

»Und genau das kotzt mich an, genau das.«

»Frank.« Sie lächelte ihn an. »Das ist die letzte Party.«

Er senkte die Mütze in die Stirn, aber Erika gab sich unbeeindruckt. Sie angelte eine Girlande aus der Tüte, neigte sich über den Tresen und wickelte das eine Ende um einen der Zapfhähne. Die chromfarbene Apparatur diente ohnehin nur der Dekoration; selbst als sie erfahren hatten, dass in der Region ein Werk für Elektroautos, eine sogenannte Gigafactory, entstehen sollte, war die Anlage trocken geblieben. Ein Fass einzukaufen und gekühlt zu lagern, lohnte nicht für eine Handvoll Besucher. Frank besorgte das Bier lieber aus dem Discounter, meist das Schnäppchen der Woche, schlug 50 Cent auf jede Flasche und erduldete die Mitbringsel der Gäste – einen im Anorak versteckten Likör, einen Flachmann hinterm Gürtel oder eine ungeniert unter den Arm geklemmte »Goldkrone«. Respekt erwartete Frank in diesem Kaff von niemandem mehr.

Mit einem Anflug von Sorge sah er Erika leichtfüßig über die Barhocker balancieren. Sie trug ein T-Shirt mit Wendepailletten, die entweder einen silbernen Regenbogen zeigten oder ein goldenes Einhorn. Nachdem sie eine Girlande über der Bar befestigt hatte, blies sie ein paar Luftschlangen in den Raum. Das Papier entrollte sich über raue Sitzflächen, landete auf gesplitterten Dielen, verfing sich im eingestaubten Kronleuchter. Längst war die Kneipe zu einer Art Gemeinderaum verkommen; es fehlte nur ein öffentlicher Anschlag für den Schlüssel.

Frank bat Erika, vorsichtig zu sein, und während sie seine Sorge mit einem Lachen abtat, kniete er sich hinter den Tresen. Er öffnete erneut den Kühlschrank und zählte ein weiteres Mal die Bierflaschen. Kaum klüger als zuvor, drückte er die Tür zu, und sein Blick blieb an dem mit Magneten befestigten Foto haften. Erika und er gegen den Tresen gelehnt, sie in einer verwaschenen, viel zu weiten Jeans, er mit einem rot-weißen Tuch auf dem Kopf. Sie waren beide um die 30, also sehr jung, oder zumindest das, was er heute mit Ende 50 als jung empfand. Sein Vater hatte dieses Bild geknipst, im »Schlecker« entwickeln lassen und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Mittlerweile war die Drogeriekette Geschichte, und Filme hatte Frank seit Ewigkeiten nicht mehr zum Entwickeln eingetütet. Eines der wenigen Dinge, die sich seit damals nicht geändert hatten, war seine Vorliebe für Kopfbedeckungen. Die Tweedmütze, die er aktuell trug, hatte ihm Erika auf einer Englandreise geschenkt. Er berührte den Stoff, dachte an die weiß getünchten Fassaden in Cornwall, an die Klippen von Land’s End und daran, wie die heftigen Böen Erikas Haar zerzaust hatten, sehnte sich nach Steinwällen, Torfgeruch und Pale Ale, und schließlich zwang ihn die Sorge, dass Erika sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Unbekümmertheit wehtun könnte, zum Aufstehen.

»Was machst du denn hier?«

»Ich wollt einen trinken«, entgegnete Bielecke. Er lehnte am Tresen, die Augen erwartungsvoll auf Frank gerichtet, und verströmte eine Fahne, als hätte er seinen morgendlichen Kaffee bereits mit Goldkrone veredelt.

»Und wie biste hier reingekommen?«

»Na durch den Schornstein.«

»Deine Witze kannste dir sparen.«

»Ich bin durch die Tür geschneit, mein Lieber.«

»Die ist abgeschlossen.«

»Aber nicht die Hintertür.«

»Hast du nicht das Schild gesehn?«

»Welches Schild?«

»Das an der Tür«, sagte Frank ruhig. »Da steht Privat drauf.« Er wiederholte das vorletzte Wort, betonte dabei jede Silbe laut und deutlich: »PRI-VAT.«

»Aber mich kennste doch.«

»Privat bedeutet Erika und meine Wenigkeit, kapiert?«

Bielecke imitierte mit der Hand einen Vorhang, den er hochzog, um darauf eine Grimasse gespielter Trauer zu offenbaren. Die lebenslange Qualmerei hatte aus seinem Schnauzer einen vergilbten Besen gemacht, eine Hautkrankheit aus seiner Nase ein wucherndes Gewächs. Bielecke behielt die Grimasse bei und erwartete eine Reaktion, vielleicht ein Lächeln oder wenigstens ein lässiges Abwinken.

Frank war dieses Theaters überdrüssig. Er quittierte Bieleckes Bemühungen lediglich mit einem Fingerzeig zur Hintertür. »Wir öffnen Punkt 17 Uhr.«

»Is ja bald.«

»Bald heißt nicht jetzt, kapiert?«

Frank bäumte sich hinter dem Tresen auf, wobei eine Girlande sein Gesicht streifte. Aus einem Impuls heraus wollte er sie runterreißen, besann sich jedoch eines Besseren und stützte die Ellbogen auf die Theke. »Hör zu, Bielecke. Hier bekommst du nichts.«

»Und nachher?«

»Wenn du nicht abschwirrst, nie mehr.«

»Soll das ’n Hausverbot sein?«

Frank zögerte.

»Hallo, Wolfgang!«, rief Erika und kletterte von einem der hinteren Tische herunter. »Nix los zu Hause?« Sie schlenderte zum Tresen und klopfte auf einen Barhocker, als würde sie einen Hund anlocken wollen. Mit einem schiefen Grinsen dackelte Bielecke zu ihr und fingerte dabei eine Schachtel Kippen aus der Hose.

»Kannste vergessen«, protestierte Frank.

»Eine einzige, mein Lieber.«

»Wage es nicht.«

»Die anderen dürfen auch rauchen.«

»Die anderen, die anderen«, wiederholte Frank genervt. »Siehst du hier irgendwelche anderen Gäste?«

»Pscht, das ist mein absolutes Lieblingslied.«

»Was? ›Dancing Queen‹?«

»Ja, schon immer.«

»Und deshalb gilt das Rauchverbot nicht für dich?«

»Okay«, sagte Erika sanft, »ausnahmsweise.« Sie bugsierte einen Aschenbecher zwischen sich und Bielecke und steckte sich selbst eine Zigarette an. Frank knautschte den Schirm seiner Mütze und seufzte. Auf Erikas Frage, wie es ihm gehe, antwortete Bielecke mit dem abgeschmackten Witz von den zwei Fliegen auf dem Weg zur Hölle. Erika bog sich vor Lachen, während Frank es bei einem Kopfschütteln beließ.

Noch eine Stunde, bis sie den Laden öffneten; das hieß gleichfalls eine Stunde mit Bieleckes Weisheiten. Es kostete ihn schon Mühe, die abendliche Feier kommentarlos hinzunehmen, das ganze Tamtam, das Erika und Krügers Frau veranstalteten. Seinetwegen hätten sie die Feier mit einer billigen Ausrede abblasen können; aber für Erika war es wohl mehr als ein schnöder Geburtstag. Es war ihr Goodbye zu den Freunden und Nachbarn, der ganzen Meute und auch zu einer Landplage namens Bielecke.

Mit einem Knurren zog Frank eine Flasche »Lübzer« aus dem Kühlschrank und schob sie ihm hin. Bielecke bedankte sich in gespieltem Eifer und langte zu. Seine Fingernägel machten den Eindruck, als wären sie sein Lebtag von schweren Hufen malträtiert worden. Frank war ein solcher Anblick nicht fremd: Sein Vater hatte auf der LPG »Märker Land Gollwitz« gearbeitet, höchstens 20 Fahrminuten von hier, und dessen Fußnägel waren vom Getrampel der Kühe einen halben Zentimeter dick gewesen. Grauer, scharfkantiger Schiefer, bei dem selbst robuste Nagelscheren versagten. Bielecke, der seit Urzeiten an der Flasche hing, hatte garantiert noch nie einen Stall von innen gesehen. Woher ausgerechnet der solche Schippen hatte, war Frank ein Rätsel.

Erika jedenfalls schien sich mit ihm bestens zu unterhalten.

Frank warf ein, er wolle kurz in den Keller. »Werkzeug holen.«

»Wozu das denn?«, fragte sie ihn.

»Der Zapfhahn ist verstopft.«

»Wir lassen die Anlage eh aus.«

Er rollte mit den Augen. »Du weißt schon, der Zapfhahn.«

»Ihr stecht ein Fass an?«, fuhr Bielecke dazwischen. »Und mir serviert ihr diese Plörre?«

Frank krallte seine Finger in die Mütze und wünschte sich auf die Klippen von Land’s End. Er verließ die Kneipe, und sowie er die Hintertür von draußen schloss, stellte er fest, dass dort tatsächlich kein Schild hing. Es lag, keine zwei Meter entfernt, im Dreck.

Nacht im Kopf

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