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I Wanna Dance With Somebody

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Als Erika nach der Tüte mit den Papierhütchen und den Spaßbrillen griff, schenkte ihr Frank einen seiner vier Gesichtsausdrücke; in diesem Moment lautete die Botschaft schlichtweg: Muss das sein?

Ja, es musste, gab sie ihm mit einem Lächeln zu verstehen. Sie zerrte den Packen aus der Tüte, und die Farben der Hüte und Brillen waren genauso verblasst wie die der Girlanden und Luftschlangen. Mehr darf die Meute eben nicht erwarten, dachte Erika. Immerhin hatte sie sich allein um die Dekoration kümmern müssen. Sie faltete einen goldfarbenen Hut auseinander, schob ihn sich auf den Kopf und lächelte breit in die Runde.

»Mach mal lauter!«, rief René Berkholz, der sich ungeniert als Fan von Whitney Houston präsentierte.

Eine Gruppe Mittvierziger hatte sich an einen Tisch gepflanzt und der Berliner Rundfunk versorgte sie unentwegt mit einem Mix aus Geschwätz und Oldies. In den Anfangstagen der Kneipe hatten Erika die Rod Stewarts dieser Welt kaum berührt, hatte sie weder einer Tina Turner noch einem Chris Rea, weder einer Kim Carnes noch einem Phil Collins etwas abgewinnen können. Für sie war die Musik lediglich Teil des Geschäfts gewesen – die Gäste tranken mehr, wenn sie in Nostalgie versanken. Warum sollte sie einer Vergangenheit nachtrauern, die nur in den Köpfen der Leute existierte? Weshalb sich nach einem Ort sehnen, den es ohnehin nicht gab und nie gegeben hatte? Um diese Sehnsucht zu verstehen, hatte es 24 Jahre Ehe und ein Leben in Kuxwinkel gebraucht.

Sie trat hinter den Tresen, ignorierte Franks genervten Blick und stellte das Radio lauter. Dann klatschte sie im Takt von »I Wanna Dance With Somebody« in die Hände, bis sie den Zuspruch der Gäste registrierte. Sie sei einfach die Beste, grölte René Berkholz und hob den Daumen. Frank, der unablässig die Bierflaschen zählte, sagte:

»Ausgerechnet die Kreische.«

»Hey, so redet man nicht über Tote.«

»Whitney Houston ist tot?«

»Seit mindestens sechs Jahren.«

»Das macht die Musik nicht besser.«

»Okay, soll ich’s ausmachen?«

»Einfach leiser, das reicht schon.«

Kaum hatte sie die Lautstärke gemindert, bemerkte sie die enttäuschten Gesichter der Gäste. »Sorry!«, rief Erika. »Mein Alter ist ’n bisschen empfindlich auf den Ohren.«

»Brauchst wohl was Jüngeres!«, brüllte René herüber.

»Hast du jemand bestimmten im Auge?«

»Du weißt doch: Der Gentleman schweigt.«

»Der Gentleman kassiert gleich Hausverbot«, erwiderte Frank.

Erika schüttelte kaum merklich den Kopf und er begriff sofort. »Jaja, alles klar«, sagte er und stellte das Radio wieder lauter. Er neigte sich zu ihr und fragte erneut, weshalb sie ausgerechnet für Krüger so viel Aufheben machten.

»Das hab ich dir vorhin gesagt.«

»Der Typ hat dich bedrängt.«

»Jannes?« Sie lachte. »Der dackelt brav seiner Frau nach.«

»Das sah am See aber anders aus.«

»Frank, das ist 30 Jahre her.«

Sie öffnete ein Paket Jägermeister und hielt Frank eine der kleinen Flaschen hin. Seit sich das Geschäft seines Lebens anbahnte, schien ihm jeder dumme Spruch von einem der Kerle Anlass zur Eifersucht. Dabei plagte ihn weniger die Sorge, er könne sie verlieren; vielmehr fürchtete er den eigenen Gesichtsverlust, den Mangel an Respekt ihm gegenüber, und das, obwohl ihm Kuxwinkel schnuppe war. Die Logik dahinter versuchte Erika erst gar nicht zu begreifen. Sie erinnerte ihn daran, weshalb sie diese Show abzögen. Auf sein Nicken hin öffnete sie ihr Fläschchen. »Prost«, flüsterte sie. »Unser Goodbye an die Meute.«

»Trotzdem hätte ich mir das gespart.«

»Tja, jetzt ist zu spät.«

»Du willst sagen, mitgegangen, mitgehangen.«

»Wenn schon Abgang, dann mit Paukenschlag.«

Sie rang sich ein Lachen ab, und in seinem Gesicht formte sich ein Ausdruck, den sie in den letzten Jahren vermisst hatte, eine seiner vier Mienen, die tief verschüttet unter den übrigen dreien lag: Frank Lewin lächelte, zaghaft und unbestimmt. Er rückte näher, und sie dachte, er würde sie gleich küssen, hier, vor allen Leuten, vor der versammelten Meute. Der erste Kuss seit drei Jahren. Doch Frank stellte den Likör ungeöffnet ab und drängte sich neben sie. »Kann ich da mal ran?«

Erika trat beiseite und er bekam den Flaschenöffner zu fassen. Mit einem Nicken reichte er Tom Kowalski ein Bier über den Tresen und seine Miene rutschte zurück in die alte Form. Tom bedankte sich, legte das Geld auf die Theke und begab sich in Richtung Fensterplatz, ehe Erika ihm ein Hütchen hätte verpassen können. Frank kniete wieder vor dem Kühlschrank und zählte die Flaschen. Erika lehnte sich gegen die Anrichte und kippte sich den Jägermeister hinter die Binde. »Wie oft willst du das noch machen?«

»Ich hab nur Angst, dass es nicht reicht.«

»Das sagt ausgerechnet der, der null Bock auf alles hat.«

»Das verstehst du eh nicht.«

»Ich versteh nicht, warum du dich nicht amüsierst.«

Frank starrte unbeirrt in den Kühlschrank, wobei die Schirmmütze sein Gesicht verdunkelte. Sein Haar hatte sich frühzeitig gelichtet, bereits in den ersten Jahren ihrer Ehe. Irgendwann hatte er begonnen, Mützen jedweder Art zu tragen: In seinen 20ern hatte er mithilfe von schwarzen Hüten den coolen Barkeeper markiert, dem war eine Phase hipper Wollmützen gefolgt, die er so weit auf den Hinterkopf geschoben hatte, dass seine letzten Haarsträhnen hervorlugten. Danach hatten Baseballkappen seine Stirnglatze kaschieren und gleichzeitig das Image eines kernigen Truckers bedienen sollen. Während einer Englandreise hatte Erika ihm eine Schiebermütze gekauft, und so war ein Trucker auf die Insel gekommen, um sie als landloser Bauer zu verlassen. Heute ähnelte Franks Kopf einer behaarten Kniescheibe, die er höchstens im Schlafzimmer lüftete. Mit betont ironischem Tonfall fragte sie ihn, ob er einen Taschenrechner brauche.

Er schloss den Kühlschrank und hievte sich hoch. »Wann kommt eigentlich unser Geburtstagskind?«

»Jannes und Lotte wollten um sechs hier sein.«

»Ich hoffe, sein Drache weiß ihn zu bändigen.«

»Geht das jetzt den ganzen Abend so?«

Erika sah das Ehepaar Schauder in die Kneipe treten, schnappte sich die Tüte mit den Hüten und Brillen und steuerte geradewegs auf Yvonne zu. Indem ihr Mann zwei Finger hob, signalisierte er Frank seinen Bierdurst, dann drückte er Erika, noch bevor sie ihn oder seine Frau begrüßt hatte, einen Beutel in die Hand. »Stell mal kalt«, sagte Christian und allein das Gewicht des Beutels verriet ihr den Inhalt. Früher hatte Frank die Gäste davor gewarnt, eigene Getränke mitzubringen; doch weil es sich nicht mehr rentierte, ein breit gefächertes Sortiment anzubieten, war aus der Warnung irgendwann ein erhobener Zeigefinger geworden und aus dem Zeigefinger bald ein Schulterzucken.

Erika hängte sich den Beutel in die Armbeuge und streifte Yvonne ein Papierhütchen über. Mit ihren 40 Jahren zählte ihre Freundin zu den Jüngeren im Dorf. Ihr kräftiges Haar hatte sie hochgesteckt, außerdem trug sie einen knallroten Lippenstift, der die Narbe unter ihrem linken Mundwinkel verblassen ließ. Yvonne nahm Erika die Tüte ab, angelte eine Papierbrille heraus und schob sie Christian auf die Nase. »Jetzt könnte man dich glatt für klug halten.«

»Wenigstens etwas«, erwiderte er. »Dein Hut nützt dir gar nichts.«

»Erwartest wohl ’nen Anruf aus Hollywood?«, fragte Erika mit Blick auf sein Smartphone. Er schaltete das Display aus und schob das Handy in die Hose. Auf seinen Unterarmen schimmerte das dunkle Blau seiner Tattoos. Yvonne und Christian pflegten offenbar einen Wettstreit, wer die kleinste nicht tätowierte Stelle am Körper besaß.

»Ist Rauchen erlaubt?«, wollte Yvonne wissen.

Erika wackelte unschlüssig mit dem Kopf.

»Hey, Meister!«, brüllte Christian in Richtung Tresen. »Ist das heut ’n Räucherstübchen?«

Wie zu erwarten gewesen war, antwortete Frank nicht. Erika meinte zu Schauders, dass sie rasch das Mitbringsel wegschaffen wolle, und rückte hinter die Bar. Während sie den Wodka in den Kühlschrank schob, spürte sie im Rücken Franks Blick, dessen Botschaft nicht eindeutiger hätte sein können. Sie drückte den Kühlschrank wieder zu, wobei ihr das Foto ins Auge fiel. Frank behauptete gern, das Bild habe sein Vater geknipst und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt; in Wahrheit war seine Mutter die Fotografin gewesen, sie hatte das Bild auch gerahmt und in Geschenkpapier verpackt; sein Vater hatte es ihnen lediglich überreicht, im Gesicht ein falsches Lächeln, in seinem Schweigen der blasierte Kommentar, sie müssten selber wissen, auf was sie sich einließen, sie seien erwachsene Menschen und für sich selbst verantwortlich. Nach einem Streit, bei dem der Rahmen zerbrochen war, hatte Frank das Foto an den Kühlschrank angebracht.

»Hast du die CD?«, fragte sie ihn und hoffte gleichzeitig, er habe ihren Blick auf das Foto übersehen.

»Die liegt, wo sie immer liegt.«

Neben der kleinen Kompaktanlage türmte sich ein Stapel CDs. Sie fingerte einen Silberling ohne Hülle heraus und säuberte die untere Seite an ihrem Hosenbein. Frank hatte die Scheibe gebrannt, irgendwann Ende der 90er, und mit einem Edding beschriftet. Das Beste zum Geburtstag. Damals hatte Frank beinahe wöchentlich ein Album erstellt, hatte Songs hin- und hergeschoben, gegeneinander ausgetauscht und jedem Booklet eine lustige Skizze verpasst. Leider hatte von seiner Musikbegeisterung nichts die letzten Jahre überdauert; vermutlich war diese Leidenschaft ebenso verschüttgegangen wie sein Lächeln. Sie legte die CD in die Anlage und erklärte Frank, er müsse bloß auf Play drücken.

»Kann das nicht jemand anderes machen?«

»Du bist der Chef, also.«

»Viel zu melden hab ich anscheinend nicht.«

Er nickte über den Tresen, und sie wusste sofort, auf was er anspielte. Trotz des Rauchverbots qualmten die Gäste munter drauflos. Frank sprach oft davon, dass die Kneipe zu einem Gemeinderaum verkommen sei und ihn niemand mehr als Chef und Eigentümer wahrnehme. Erika zupfte eine der Papierbrillen aus der Tüte und trat so dicht an ihn heran, dass ein Kuss zwischen ihnen von der Meute unbemerkt geblieben wäre; dann klemmte sie ihm die Bügel hinter die Ohren. In dem Rahmen glichen seine Augen pechschwarzen Samen in einer rosaroten Blüte. Sie riet ihm, einfach an die Zukunft zu denken.

»Und wenn sie das ganze Projekt abblasen?«

»Die Sache ist längst unter Dach und Fach.«

»Politiker können sich umentscheiden.«

»Die rennen genauso der Knete hinterher wie wir.«

»Und das verdammte Grundwasser?«

»Was soll damit sein?«

»Das brauchen die zur Produktion der Batterien. Wenn das Umweltamt kein Okay gibt, ist es aus und vorbei.«

»Hat dir das Tom erzählt?«

»Ja, der ist bestens informiert.«

»Lass dich von dem bloß nicht vollquatschen.« Sie blinzelte zum Fensterplatz, wo Tom Kowalski allein vor sich hin brütete. Dann schob sie ihm die Mütze aus der Stirn und das Licht offenbarte das Blau seiner Augen. »Das sind alles Hirngespinste. Dumme Verschwörungstheorien.« Sie wandte sich um, konnte nirgends das Geburtstagskind entdecken und gab ihm einen Kuss.

Nacht im Kopf

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