Читать книгу Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - Страница 10
Rosenmontagsball und eine Einladung
ОглавлениеKurz nach diesem Ball findet als erste Veranstaltung des RINGs im neuen Jahr ein gemeinsamer Winterspaziergang durch den verschneiten Eberforst statt. Hinterher, als die Nibelungen sich in der Bar wieder aufwärmen, teilt Bernd mit, er werde zum morgigen Rosenmontagsball ins Bonhoeffer-Wohnheim kommen. Auch sie werde vielleicht teilnehmen, bemerkt Mariella. Ich kündige umgehend an, dass ich sie zum Ball begleiten werde, ein Anerbieten, das sie ohne Umstände annimmt. Warum bloß habe ich sie nicht schon früher eingeladen?
Jedenfalls hole ich am nächsten Tag Mariella ab. Sie will vor dem Ball von einer Zelle aus noch rasch ihre Eltern anrufen. In der Zwischenzeit besorge ich Zigaretten für sie. Im Vorbeigehen, sie wartet vor der besetzten Telefonzelle, lächle ich ihr zu. Sie erwidert mein Lächeln. In diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich in sie verliebt bin.
Kurz nach Mariella und mir trifft auch Melanie im Ballsaal ein. Sie ist vorteilhaft kostümiert als holländisches Bauernmädchen mit Holzpantoffeln an den Füßen, die sie zum Tanzen auszieht. Mariella ist richtig angetan von ihr, und ich erzähle ausführlich von Melanies netter Familie. Heute betrachte ich Melanie mit gelassenem Wohlwollen. Mit Befriedigung stelle ich fest, dass sie für mich eine gute Freundin bleibt, aber das ist etwas anderes als meine Zuneigung zu Mariella.
Besitz ergreifend lege ich den Arm um Mariella. Sie schlägt vor, wir sollten uns an die Bar setzen, was wir gleich in die Tat umsetzen. Mariella spricht davon, dass sie sich morgen zum Altweibertanz verabredet habe. Bernd, der sichtlich Gefallen an Mariella gefunden hat, verspricht ebenfalls zu kommen. Vorsichtig frage ich an, ob sie zum Altweibertanz alleine hingehen wird, nicht dass sie dort etwa mit einem Kavalier auftaucht. Mariellas Antwort erscheint mir ausweichend. Wahrscheinlich ist sie mit keinem Konkurrenten verabredet. Trotzdem bin ich zu stolz, mich der Möglichkeit einer solchen Situation, Mariella begleitet von einem anderen Mann, auszusetzen. Ich beschließe, nicht zu kommen.
Mit dem Fortschreiten des Abends verkleinert sich der Kreis. Man rückt zusammen. Lieder werden angestimmt. Mariella erwähnt ganz nebenbei, sie plane eine Party für Ostermontag bei sich zu Hause in Maiburg. Sie fragt Klaus, ob er Lust habe, zu dieser Party nach Maiburg zu kommen. Klaus hat Lust. Dann sagt sie an mich gerichtet: „Du kannst auch kommen.“ Ich antworte: „Gern“, aber ist das nun eine richtige Einladung? Details nennt sie nicht. Mir kommt das Angebot ziemlich vage vor. Endlich löst sich die Runde auf und ich begleite Mariella nach Hause. Auf die Einladung zur Party kommt sie nicht wieder zu sprechen.
In den Osterferien, die ich mit meinen Schwestern bei meiner Großmutter in Junghafen verbringe, denke ich über die Einladung nach. Soll ich Mariella anrufen? Ich telefoniere stattdessen mit Klaus. Der ist inzwischen tatsächlich entschlossen, zur Party nach Maiburg zu reisen. Am Ende erscheint es mir angeraten, Mariella einen Brief zu schreiben mit der Bitte um ein paar nähere Angaben zur geplanten Party. Sollte sie auf dieses Schreiben nicht reagieren, dann bin ich auch nicht wirklich eingeladen. So fabuliere ich also drauf los:
„Junghafen, den 7., 8. oder 9. März 1970
Diesem Brief, liebe Mariella, liegen zwei Annahmen zu Grunde. Erstens: dass Dein Geburtstag in diesen Monat fällt, und ich zweitens das falsche Datum treffe. Hätte ich nur besser zugehört!
Ich nehme also eine würdige Haltung ein, räuspere mich und spreche Dir hiermit, sei es auch vor- oder nachträglich, meine herzlichen Glückwünsche aus.
Ich denke, ich sollte das näher ausführen, nicht dass Du meinst, ich beglückwünsche Dich dazu, dass Du Dir einen Tag herausgesucht und ihn unter der Überschrift „Mein Geburtstag“ zum Feiertag erklärt hast, vielmehr beglückwünsche ich zunächst mal mich, nämlich zu der Tatsache Deiner Existenz, welche sich sinnfällig darin ausdrückt, dass Du eines schönen Geburtstages als greifbares Phänomen in dieser Welt aufgetaucht bist.
Ich will noch hinzufügen, dass ich diesen Umstand höchst positiv ansehe. Ich versetze mich mal in einen Halbgott, wobei ich unter einem Halbgott ein Wesen verstehe, das zwar nicht imstande ist, eine Welt zu erschaffen, wohl aber sie einzurichten. Ich würde dann den Supermarkt „Unser Kosmos“ aufsuchen und meine Einkaufstasche vollpacken mit Löwen, Liliputanern, Rotkehlchen, Regenwürmern, Wäldern, Bergen und Apfelbäumen und so fort. Und ganz bestimmt würde ich Dich mitnehmen. Augenblicklich liege ich allerdings auf dem Fußboden und denke vor mich hin, offen gestanden mit magerem Ergebnis. Das fortgesetzte Massieren der Kopfhaut mit physikalischen Formeln schadet der Imagination. Und meine Rolle als Familienvaterersatz (meine Großmutter ist verreist, und ich beaufsichtige meine Schwestern) erzeugt eine gewisse geistige Behäbigkeit.
Während ich so herumliege, stelle ich mir vor, Du sitzt, eine weiße Haube auf dem Kopf, in einem Korbstuhl und hältst Nachtwache. Sobald ein verdächtiges Geräusch an Deine Ohren dringt (tapp, tapp im Treppenhaus oder so), springst Du auf und stößt einen Schrei aus. Hat es dann dem Geräusch noch nicht den Ton verschlagen, drückst Du auf den roten Knopf und lässt Plan B anrollen. Kritisch stelle ich mir vor allem die Zeit zwischen drei und vier Uhr morgens vor, im Chinesischen die „Zeit in der sich die Röntgenbilder selbständig machen (und paarweise durch die Korridore lustwandeln)“. „Ich bin eine diplomierte und staatlich anerkannte Nachtwächterin. Ich nehme Blinddärme selbständig heraus und Amputationen jeder Art vor.“ Dieser Satz, mit Strenge ausgesprochen, bringt alle nächtlichen Krankenhausgespenster prompt zur Auflösung. Das weiß ich noch vom Parapsychologeiteam her.
Schon geht die Maiburger Morgensonne auf. Da will ich Dir schnell noch einen Kernsatz des großen Vorsitzenden mit in den Tag geben: „Unsere wichtigste Aufgabe … ist es, die Disposition der Arbeitskraft und die Aktivierung der Frau … zu organisieren“.
In meinem Kopf spukt immer noch folgender Satz herum, ausgesprochen von unserem Gärtner: „Nein wirklich, Sie haben es schön hier, sind ihr eigener Herr, ernten, was Sie säen. Wer von uns kann das?“ Der Gärtner war gestern da, um eine neue Hecke zu pflanzen. Weil es draußen so kalt sei, bat er, sich in die Küche setzten zu dürfen, um sein Mittagsbrot zu verzehren. Während ich meine Fischfilets panierte, kamen wir auf die demonstrierenden Studenten zu sprechen. Ich fühlte mich zur Verteidigung derselben aufgerufen und erzählte vom miserablen Studienbetrieb und so weiter. Und ehe ich mich versah, war er ins studentische Lager übergewechselt und steuerte Argumente aus seinem Erfahrungsschatz bei. Vermutlich wäre er sehr enttäuscht gewesen, wenn ich ihm gestanden hätte, dass ich noch nie an einer Demonstration teilgenommen habe. Wir verabschiedeten uns mit sozialistischem Gruß, und ich gab ihm noch ein Mao-Wort mit in die Kälte. „Lasst hundert Blumen blühen und hundert Geschmacksrichtungen mit einander streiten“, während ich den Gurkensalat abschmeckte. In den letzten Tagen fange ich an, mich als erwachsen zu betrachten. Früher erschienen mir ältere Menschen, jetzt erscheinen mir jüngere im Vergleich zu mir als Wesen anderer Art. Ich fange auch an zu verstehen, wieso ich über andere Ring-Mitglieder so herabsetzend gesprochen habe. Vermutlich hat sich hier der beschriebenen Einstellungswechsel angebahnt, dergestalt dass ich eine innere Distanz gegenüber Menschen aufbaue, die ich heute aus einem anderen Blickwinkel ansehe als früher, wobei sich meine Kritik eher auf mich selbst bezog.
Vermutlich wäre ich imstande, noch ein paar Seiten weiter zu schwadronieren, aber da sich Deine Nachtwache unaufhaltsam dem Ende zuneigt, und auch ich anfange zu gähnen, werde ich jetzt (na wo ist er denn?), definitiv (na?) den Knopf zum Abstellen suchen. (hurra, gefunden!). Und somit setze ich wohlgemut zur Abschlussformel an (Ach Gott, die Seite ist ja auch voll!)
Herzliche Grüße, Wolfgang“
Tatsächlich erhalte ich keine Antwort, aber dummerweise habe ich das Thema „Party“ in meinem Brief auch gar nicht angesprochen. Mariella jedenfalls hüllt sich in Schweigen, und damit ist das Thema abgehakt. Als mich Klaus am Abend der Party aus Maiburg anruft und erklärt, Mariella habe ihn gebeten, nachzufragen, wo ich denn bleibe, falle ich aus allen Wolken. „Ich bin zu Hause“, erwidere ich, „ich habe mich nicht als eingeladen angesehen“. Auf Nachfrage von Klaus erwähne ich den unbeantworteten Brief. Klaus spricht kurz mit Mariella. „Doch, doch“ sagt er dann, „Mariella hat mir versichert, dass sie fest mit dir gerechnet hat. Sie ist über dein Nichterscheinen enttäuscht. Ja, sie hat selbstverständlich vorgehabt, dir zu schreiben, hat es in der täglichen Hektik aber einfach verschwitzt“.
Ein paar Tage später finde ich einen Brief von Mariella in der Post. Sie entschuldigt sich dafür, mein Schreiben nicht beantwortet zu haben. Das Missverständnis tue ihr furchtbar leid. Sie freue sich darauf, mich bald wieder in Kaltstadt zu treffen:
„Lieber Wolfgang,
meiner Nachlässigkeit bin ich mir bewusst, und ich glaube, es ist besser, wenn ich erst gar nicht anfange, Entschuldigungen aufzuzählen. Es tut mir nur leid, dass Du von einer Antwort auf Deinen Brief Dein Kommen am Ostermontag abhängig gemacht hast. Da ich Dich in Kaltstadt des Öfteren eingeladen hatte, in Deinem Brief nichts von Kommen oder Nichtkommen stand, und da Johannes außerdem bei einem Anruf vor Ostern davon sprach, dass er Dich mitnehmen wolle, dachte ich, die Sache wäre klar gewesen. Sie war es offenbar nicht und das tut mir wirklich leid.
Auf die Hütte kann ich nicht mitfahren, da ich noch eine wichtige Sache zu erledigen habe, und erst am Freitag hier wegkommen werde. Bitte teile das den Organisatoren mit.
Mir fällt gerade auf, dass ich mich immer noch nicht für Deinen Brief bedankt habe: vielen Dank!
Deine Vorstellungen waren allerdings nicht ganz richtig, da ich nicht nachts, sondern doch -wie erhofft- am Tage die Chirurgie unsicher machte. Sieben Stunden Rennerei und morgens um fünf Uhr das Weckerrasseln waren mir aber lieber als der nächtliche Kampf mit dem Schlaf. Außerdem ist der Dienst tagsüber interessanter, und wenn einmal nicht so viel zu tun ist, kann man sich sogar davonschleichen und bei Operationen zusehen.
Entschuldige bitte diesen etwas formlosen und konfusen Brief. Bei uns wird heute geputzt, und zwischen Staubsaugerbrummen und Türenklappern kann man sich so schön „sammeln“. Da bereits ein Besen in mein Zimmer geknallt wurde, und Frau Mama schon einige Male mit dem Staubtuch gewinkt hat, schließe ich mein spärliches Werk lieber ab.
Auf Wiedersehen in Kaltstadt! Mariella“