Читать книгу Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - Страница 7
Dritte Begegnung (am Südbad)
ОглавлениеDas nächste Mal treffe ich Mariella zufällig und allein an. Auch dieses dritte Zusammentreffen ist im Tagebuch beschrieben:
Ich fahre auf meinem hellblauen Fahrrad die Kaiser-Wilhelm-Straße entlang, von einer abendlichen Mathematikvorlesung heimkehrend. Auf Mariella stoße ich an der Straßenbahnhaltestelle Südbad, wo sie in dichtem Gedränge und bei Nieselregen auf die Linie 7 wartet. Ich habe die Vorlesung dazu benutzt, über das weibliche Geschlecht zu grübeln und im Hörsaal unauffällig Ausschau gehalten, ob ich vielleicht eine hübsche Frau entdecke. Als ich nach der Vorlesung mein Fahrrad aufschließe, fällt mein Blick auf ein blondes Mädchen, das im Begriff ist, sich für die Heimfahrt auf dem Motorrad ihres Freundes vorzubereiten. Die junge Frau ist hübsch anzusehen. Sie ist ganz in enganliegendes Leder gekleidet, setzt umständlich ihren mit Blümchen dekorativ bemalten Helm auf und verbirgt ihre langen Haare unter dem Helm. Mariellas Anblick erinnert mich an das fesche Motorradmädchen. Auch sie hat blonde Haare, die sie offen trägt, und heute erscheint sie mir hübsch. Über die Qualität „hübsch“ lege ich mir kritisch Rechenschaft ab, während ich mit ihr spreche, und komme zu dem Schluss, dass neben intelligent und attraktiv auch „hübsch“ eine passende Bezeichnung ist. Diese Feststellung beruhigt mich, weil sie mir bewusstmacht, dass sich in meiner Umgebung durchaus interessante Frauen finden. Aber wie viele sind noch nicht vergeben? Dieser Gedanke dämpft meine Euphorie. Jedenfalls muss ich die Augen offen halten, denn auszuschließen ist es nicht, dass ich über kurz oder lang einer zum Verlieben begegnen werde. Oder begegne ich ihr gerade? Mariella scheint erfreut, mich zu treffen. Ihr Lächeln verrät sie. Wir gehen zu Fuß zu ihrer Wohnung, missachten den Regen, der stärker geworden ist. Mein Fahrrad schiebe ich neben mir her. Einen Schirm haben wir nicht, und so werden wir beide ganz schön nass.
Vor den aufkeimenden romantischen Gefühlen nehme ich mich in Acht, misstraue ihnen. Hat mich das Misslingen meiner Beziehung zu Melanie tiefer erschüttert, als ich es wahrhaben will? Spielt mir vielleicht mein gekränktes Ego einen Streich, indem es Mariella in ein schöneres Licht taucht?
Bei ihr zu Hause angekommen fragt Mariella, ob ich mit hochkommen möchte. Ich hätte schon Lust, aber morgen muss ich ein Referat halten und dafür noch ein Handout erstellen. Wie ärgerlich, dass ich diese Arbeit bis zum letzten Tag vor mir hergeschoben habe! Aber eigentlich ist es nur eine Ausrede. Auf dem Weg ins Wohnheim stelle ich mir vor, wie Mariella und ich uns in ihrem Zimmer bis auf die Unterwäsche ausziehen und unsere Oberbekleidung auf einem Wäscheständer, den wir vor den Heizkörper stellen, zum Trocknen ausbreiten. Mariella könnte sich gleich etwas Trockenes anziehen, aber in meiner Vorstellung tut sie es nicht. Sie bereitet einen Pfefferminztee... und dann fällt es mir wirklich schwer, meine Fantasie im Zaum zu halten. Im Heim angekommen habe ich Mühe, mich auf mein Referat zu konzentrieren.
Jetzt bin ich dreimal mit Mariella zusammengetroffen, und sie gefällt mir immer noch so gut wie beim ersten Mal. Sie ist intelligent und attraktiv, hübsch und vermutlich bereits in festen Händen.