Читать книгу Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - Страница 5
Zweiter Versuch: Die Realität des Irrealen Erste Begegnung
ОглавлениеLaut Tagebuch lerne ich Mariella Hohenfeld zu Beginn des Wintersemesters 1970/71 auf einer Versammlung des VCS Kaltstadt kennen:
Ich treffe mit Verspätung ein. Mir ist entgangen, dass der Sitzungsbeginn vorverlegt wurde. In Türnähe finde ich einen freien Stuhl. Mir schräg gegenüber sehe ich Klaus, Mitbegründer des RINGs, rechts neben ihm seine Freundin Katharina, auf diese folgend Melanie, meine Ex-Liebe, links neben Klaus eine blonde Frau, die mir unbekannt ist, eine attraktive Person, schlank, groß gewachsen. Sie passt nicht ins Bild, nicht in den biederen VCS. Klaus muss sie als Gast eingeladen haben. Sie folgt der Diskussion, deren roter Faden schwer auszumachen ist, aufmerksam, ohne Partei zu nehmen. Ich könnte sie auf mich aufmerksam machen, aber heute habe ich zur Diskussion nichts beizutragen. Das übliche Phrasendreschen langweilt mich. Außerdem bin ich müde. Katharina und Melanie sprechen in einer Sitzungspause über mich, lästern über meinen Bart und meine Pfeife, damit sähe ich doch richtig schnuckelig aus. Was sie weiterhin sagen, ist mir im Einzelnen nicht erinnerlich, es bringt mich jedenfalls zum Lachen. Damit Katharina und Melanie nicht auffällt, dass ich mitgehört habe, beuge ich mich vor und verberge mein Gesicht hinter den Teilnehmern, die vor mir sitzen. Noch vor Ende der Pause verlässt Melanie den Raum. Sie sieht mich dabei eigenartig an. Zur anschließenden Andacht in der Heimkapelle erscheint sie nicht. Mehrere Tage danach treffe ich sie an der Pforte, spreche sie wegen ihres vorzeitigen Aufbruchs an und rüge scherzhaft ihren Mangel an religiösem Eifer. Sie sieht mich daraufhin wieder merkwürdig an und bemerkt, sie sei nicht wegen der Andacht gegangen.
Nach der Pause fühle ich mich erfrischt. Die attraktive Unbekannte zieht jetzt meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Ist sie eine Kommilitonin von Klaus, also Studentin der Soziologie? Nach dem Ende der Andacht, auf dem Weg zur Kellerbar, erfahre ich, dass die Fremde Mariella Hohenfeld heißt. Sie studiert nicht Soziologie, sondern Germanistik und Geschichte und möchte dem RING beitreten. Dem VCS gehört sie bereits an und ist gerade aus ihrer Heimatstadt Maiburg zugezogen. In der Bar sitze ich zwischen der Neuen und Charlotte, unterhalte mich abwechselnd mit beiden, wobei mir scheint, dass ich Mariella nicht sonderlich beeindrucke. Sie lässt sich aber gern von mir nach Hause begleiten. Auf dem Heimweg nutze ich die Gelegenheit, der Auffassung von Klaus zu widersprechen, der RING werde daran zugrunde gehen, dass er Studentinnen als Vollmitglieder aufnehme. „Diese Torheit“, so Klaus, „ist prinzipiell schädlich und hat schon viele Gruppen zerstört“. Ich mache deutlich, dass ich die Auffassung von Klaus nicht teile: „Spannungen zwischen einzelnen Mitgliedern haben den Zusammenhalt der Gruppe nicht beeinträchtigt“. Ich bereue es sogleich, meine vergangene Beziehung zu Melanie nicht offengelegt zu haben. An Mariellas Haustür angekommen, plaudern wir noch ein paar Minuten. Zum Abschied sage ich: „Ich hoffe, dass du dich unserer Gruppe anschließt und an unserem nächsten Termin gleich teilnimmst. Wir wollen zusammen ins Kino gehen. Ich würde dich gerne abholen“. Mariella ist einverstanden.
Anmerkung:
So ist dieses Kennenlernen im Tagebuch beschrieben. Aber diese Beschreibung stimmt mit meiner Erinnerung nicht überein. Da stellt sich das erste Zusammentreffen ganz anders dar, als hätte ich für das Tagebuch aus meinem Erinnerungsfilm eine Szene herausgeschnitten, eine andere durch eine genehmere Version ersetzt. Ich beschließe aber, mich vorläufig an das Tagebuch zu halten.