Читать книгу Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - Страница 4
Ausbeute ungenügend
ОглавлениеHier halte ich inne, drucke das Geschriebene aus und lege es fürs Erste beiseite. Dann mache ich mich wieder daran, die Unterlagen zusammenzustellen, die ich für meine Seminare und Vorträge, ich nehme am universitären Lehrbetrieb mit reduzierter Stundenzahl noch teil, im neuen Semester benötige. Lange hält es mich aber nicht bei der Physik. Einmal mehr gehe ich den Ausdruck meiner Erinnerungen an Mariella durch und bin unzufrieden. Ich habe zu viel ausgelassen, zu Vieles vergessen. Mein eigenes Verhalten in dieser Geschichte ist mir schwer begreiflich. Dieses hin und her, „liebt sie mich, liebt sie mich nicht“, ist mir ganz befremdlich. Der Bericht scheint insgesamt falsch und gleichzeitig trivial.
Ich spüre einen inneren Widerstand schon beim Lesen, noch mehr habe ich diesen Widerstand beim Schreiben bemerkt. Etwas in mir sträubt sich, tiefer zu forschen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit Mühe überwinde ich mich und durchsuche, auf mich selber wütend, alte Aktenordner nach Briefen und weiteren Dokumenten. Was den RING angeht, werde ich fündig. Ein ganzer Leitzordner ist ihm gewidmet. Dieser Ordner enthält Mitgliederlisten, Veranstaltungsprogramme, das RING-Konzept in verschiedenen Fassungen und mehr. An manche Mitglieder des RINGs, so stelle ich verblüfft fest, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl ich ausweislich der Unterlagen mit ihnen in engem Kontakt stand. Ein weiterer Ordner fällt mir in die Hände. Er umfasst den Briefwechsel mit meiner Großmutter. Ausgerechnet ihr habe ich immer mal wieder über den RING und meine zweite Liebe, Melanie berichtet. Zu Mariella findet sich in den Briefen leider kein Sterbenswort.
Endlich entdecke ich noch ein altes Ringbuch, in das neben einigen Briefen maschinengeschriebene Tagebuchseiten eingelegt sind. Es sind schwer lesbare Durchschläge der Originalseiten. Die Originale selbst bleiben verschwunden. Leider berichtet das Tagebuch, eigentlich eher ein Kopfkissenbuch, nur über wenige konkrete Ereignisse. Die meisten Seiten enthalten Gedankensplitter, Erwägungen, gute Vorsätze. Die Seiten, auf denen ich die ersten Begegnungen mit Mariella notiert habe, sind erhalten. Etwa ein dreiviertel Jahr nach unserem Kennenlernen habe ich die ersten Monate unserer Bekanntschaft im Tagebuch festgehalten, wie ich mich jetzt erinnere, um mir Mariella aus dem Kopf zu schreiben, was mir nicht gelang. Mit dieser Erkenntnis gab ich damals das Schreiben über Mariella wieder auf. Immerhin habe ich nun genug Informationen, um Abfolge und Datierung einer ganzen Reihe von Ereignissen halbwegs abzusichern.
Ich hefte also die erste Niederschrift ab und starte einen zweiten Versuch. Dieses Mal werde ich mehr ins Detail gehen. Schließlich werde ich den Versuch machen zu bewerten, inwieweit ich diesen Erinnerungen trauen kann. Gestärkt durch eine halbe Tafel Lindt-Schokolade und eine Tasse Nescafé hole ich tief Luft und tauche wieder ab, hinunter in die Dunkelheit, bis ich einen hellen Punkt entdecke, der rasch größer wird, als ich mich nähere. Einen Moment lang stehe ich meinem vergangenen Ich gegenüber, das mich für einen Augenblick überrascht und verwirrt anblickt. Wenigstens kommt es mir so vor. Jetzt schaut W. auf seine Armbanduhr, dreht sich um und öffnet die Tür.