Читать книгу Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - Страница 2
Prolog: Albträume
ОглавлениеEinem kurzen verregneten Sommer folgte ein langer sonnenwarmer Herbst. Jetzt, Ende Oktober, tragen die Laubbäume noch ihre Blätter. Die Baumkronen leuchten rot und gelb, als wolle die Natur vor Einbruch des Winters noch einmal richtig auftrumpfen. Ich habe mein fünfundsechzigstes Lebensjahr vollendet und mich zu diesem Anlass mit einer Reise quer durch Europa beschenkt.
Jetzt gehe ich auf ein Gebäude zu, das einer Kirche ähnelt. Stufen führen nach unten in einen hohen dunklen Raum. Ich kniee nieder vor einem Podest, auf dem ein Sarg steht. Ich weiß, im Sarg liegt eine Tote, und ich bin gekommen, um Totenwache zu halten. Die Tote im Sarg ist die Liebe, und ich habe sie getötet. Ich betrauere sie ohne Bedauern. Jetzt hebt sich der Sargdeckel. Die Tote setzt sich auf. Ihr Gesicht wird ein leuchtender Spiegel, und in ihm erscheinen eines nach dem andern die Gesichter der Frauen, die ich einmal geliebt habe. Die Tote ruft: „Komm! “ Ich kann mich nicht bewegen, erstarre, versteinere, kämpfe dagegen an und wache auf.
Wieder dieser Albtraum! Seit Wochen quält er mich nun schon. Trotzdem nicke ich noch einmal ein und stehe übergangslos am Rand eines dunklen Gewässers, aus dem ein kalter Nebel aufsteigt, der sich zu unzusammenhängenden Bildern verdichtet. Am Grund dieses schwarzen Wassers bewegt sich träge etwas Unförmiges, Großes. Ich fühle einen Sog und schrecke auf.
Dieses Mal bin ich gleich hellwach und finde mich im Intercity auf der Fahrt von Junghafen nach Kaltstadt. Ausnahmsweise habe ich die erste Klasse gewählt und belege in einem fast leeren Waggon ein Zugabteil für mich alleine, kann so ungestört meinen Gedanken nachhängen. In Junghafen bin ich zur Schule gegangen. In Kaltstadt, meinem heutigen Reiseziel, habe ich studiert. Seither habe ich beide Städte gemieden. Zusammenhanglose Erinnerungsbilder an die Schul- und Studienzeit ziehen jetzt ungewollt und ungewohnt an meinem inneren Auge vorbei. Sollte ich in diesen fast schon vergessenen Lebensabschnitt noch einmal eintauchen, bevor er gänzlich vergessen ist? Ist das die Botschaft des Traums?
Jedenfalls habe ich meine Reisepläne korrigiert und Aufenthalte in Junghafen und Kaltstadt eingeschoben, bevor ich nach Victoria heimkehre. Diese ungeplanten Abstecher unternehme ich, weil mir ein unangenehmer Traum lästig ist, und ich wundere mich über mich selbst. Was ist in mich gefahren? Pläne so kurzfristig umzustoßen, ist nicht meine Art, und die Vergangenheit hat mich bisher nicht beschäftigt. Sie erschien mir uninteressant, allenfalls unerfreulich. Aber vielleicht ist es ja gar nicht so falsch, wenn ich mein Leben jetzt offener einrichte, mir Zeit nehme für Vergangenes. „Werde ich alt?“ frage ich mich. Niemand antwortet. Ich lausche den Fahrgeräuschen des Zugs, einem Takt, der mich beruhigt. Durch das Abteilfenster schaue ich den Herbstbildern nach, die an mir vorbeifliegen wie Lebensjahre, und tauche in Erinnerungen an meine Zeit in Kaltstadt ein.
Ich bin in dieser Stadt Mitglied der Vereinigung Christlicher Studenten, dem VCS, und wohne im Studentenwohnheim, das von dieser Organisation unterhalten wird, dem Dietrich-Bonhoeffer-Heim. Zusammen mit meinem Freund, Klaus Eisenschroth, habe ich im VCS eine Studentengruppe gegründet, die sich den Namen der „RING“ gegeben hat. Von ihren Mitgliedern wird sie scherzhaft „Ring der Nibelungen“ genannt. In diesem Kreis verbringe ich den größeren Teil meiner freien Zeit. Wohnheim und RING führen mich nacheinander mit zwei Frauen zusammen, in die ich mich ernsthaft verliebe. Beide Beziehungen misslingen jedoch, genauso wie eine Jugendliebe, die zehn Jahre lang meine Schulzeit und die ersten Studiensemester bestimmt hat.
Während ich noch in Gedanken versunken bin, erreicht der Zug Frauenstein. Eine Dame, vermutlich ein paar Jahre jünger als ich, betritt das Abteil, holt mich in die Gegenwart zurück. Sie sieht gut aus, lebensfroh und unternehmungslustig. Das dunkelgrüne Kostüm steht ihr ausgezeichnet. Ihr dunkelbraunes Haar fällt offen auf die Schultern. Ihre Gegenwart ist mir angenehm, macht es mir leicht, die frische Erinnerung an den Albtraum beiseite zu schieben. Ich bin behilflich, ihren Koffer im Gepäckfach zu verstauen und komme mit ihr ins Gespräch. Ihr nächstes Reiseziel ist Münchheim. Von dort will sie in die USA fliegen, um Freunde zu besuchen. Ich erzähle ihr von meinem Leben erst in den Staaten, dann in Kanada und von meinen bescheidenen aktuellen Reiseplänen. Sie wirft ein: “Ich habe auch in Kaltstadt studiert, allerdings nur zwei Semester, dann bin ich nach Hollburg zurückgekehrt, wo ich mein Physikstudium begonnen hatte“. Bis zu ihrer kürzlich erfolgten Pensionierung arbeitete sie in Frauenstein als Mathematik- und Physiklehrerin. Dass ich ebenfalls Physiker bin, liefert weiteren Gesprächsstoff. Wir unterhalten uns angeregt.
Der Zug nähert sich Karlsberg. Meine Reisebekanntschaft muss umsteigen. „Schade, dass keine Zeit mehr ist, unser Gespräch zu vertiefen“, sage ich. Wir lachen beide, tauschen Visitenkarten aus, ohne besondere Absicht. Im Bahnhof trage ich ihren Koffer auf den Bahnsteig. Sie winkt mir nach, als der Zug wieder anfährt.
In Kaltstadt besuche ich Freunde aus meiner Studienzeit, deren Telefonnummern ich über das Internet ausfindig gemacht habe. Im Gespräch versuche ich vorsichtig auszuloten, ob die Kameraden, mittlerweile alte Herren so wie ich, sich an meine Liebschaften erinnern. Das Ergebnis ist ernüchternd. Niemand erinnert sich an meine Frauengeschichten, als hätten sie sich gar nicht zugetragen.
Der Reihe nach besuche ich die Stätten, an denen ich mich während meiner Studienzeit aufgehalten habe, darunter das Dietrich-Bonhoeffer-Heim, das äußerlich unverändert ist. Ein Student, der mir im Hausflur entgegenkommt und nach meinem Begehr fragt, ist so freundlich, mich durch das Haus zu führen. Überraschend hat sich in den Zimmern nichts verändert. Die Möbel sind nach über vierzig Jahren noch dieselben. Jedes Zimmer ist jetzt allerdings mit einem Telefon ausgestattet. Das ist neu. Zu meiner Zeit gab es nur ein Telefon je Stockwerksflügel, das im Flur an der Wand hing. Die alten Halterungen hat man belassen.
Für die Mitglieder des RINGs, die im Heim wohnten, hatte der Techniker der Gruppe, Felix, heimlich ein Haustelefonsystem eingerichtet. Das Telefonieren lief über die Klingelanlage des Heims. Über diese Anlage konnte der Pförtner die Heimbewohner in ihren Zimmern anklingeln, zum Beispiel, um Besuch anzukündigen.
Vor meinem inneren Auge sehe ich die Nibelungen im Heim an ihren Schreibtischen. Sie halten Hörer in den Händen und sprechen gleichzeitig in die Muscheln. Die Sätze wandern wie Fäden durch das Netz, das die Telefone miteinander verbindet. Die Fäden wandern immer schneller. Jetzt kann ich einzelne Worte verstehen, alltägliche Fragen, Liebesschwüre, Beschimpfungen. Die Stimmen werden lauter. Dann Stille. Ich stehe in der Kapelle des Wohnheims. Hier hat sich nichts verändert. Auch der Garten, auf den ich von der Dachterrasse herunterschaue, sieht noch genauso aus wie vor vierzig Jahren. Der gekrönte Steinfrosch am Rand des kleinen Teiches, spuckt noch immer unerlöst einen Wasserstrahl ins Becken, ohne dass dieses überläuft.
Mein Führer entpuppt sich als Sohn der ehemaligen Nibelungen Katharina und Klaus. Ich bitte ihn, Grüße an die Eltern auszurichten. Der Vater, Klaus, Mitbegründer des RINGs lebt immer noch in Kaltstadt, ebenso wie die Mutter. Mariella Hohenfeld, meine dritte Liebe, ist Inhaberin eines Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturwissenschaft. Sie wohnt mit ihrem Mann in der Nähe des Schillerparks. Melanie Malchareck, meine zweite Liebe, ist nach dem Studium als Gymnasiallehrerin nach Weilburg nicht weit von Kaltstadt gezogen. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ich könnte Melanie oder Mariella anrufen, aber ich bin meiner Erinnerungen und meiner Absichten zu unsicher. Ich bin nicht einmal sicher, dass ich die beiden Frauen wiedererkennen würde.
Das Kulturprogramm, das ich nebenbei absolviere, ist hochklassig. Höhepunkte sind „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck und die „Sechste“ von Mahler. Ansonsten bleibt der Besuch in Kaltstadt unergiebig, verlorene Zeit. Die Orte, die mir in meiner Jugend etwas bedeutet haben, lassen mich –vielleicht mit Ausnahme des Wohnheims- kalt. Erinnerungen lösen sie nicht aus, aber wenigstens hören meine Albträume auf.
In Junghafen war es mir nicht anders ergangen. Die Orte meiner Jugend waren wiedererkennbar, auch wenn mir einige Örtlichkeiten viel kleiner vorkamen als damals, zum Beispiel der See, an dem ich im Alter von zehn Jahren meine erste Liebe, Eva Rothfeld entdeckt hatte. Auch mit Junghafen verbindet mich nichts mehr.
Wieder zu Hause in Victoria, stürze ich mich in die Arbeit, bevor das neue Semester beginnt, lasse Kaltstadt und RING zunächst hinter mir, aber die Vergangenheit lässt sich nicht mehr abschütteln. Die Gesichter der Personen, die meine Jugend geprägt haben, drängen vor mein inneres Auge, werden mit jedem Tag schärfer und lebendiger. Das unförmige Etwas im dunklen See meines Halbbewusstseins bewegt sich stärker, will an die Oberfläche, will greifbare Erinnerung werden.
In meiner freien Zeit suche ich nach alten Tagebüchern. Mir fällt schließlich ein, dass ich die meisten vor vielen Jahren vernichtet habe. Langsam reift der Entschluss, einige Jugenderlebnisse nochmals aufzuschreiben. Ich werde mit Erinnerungen an Mariella anfangen, so unvollständig diese auch sind. Diese dritte, so glaube ich, ist die einfachste meiner Liebesgeschichten. Einzelne Ereignisse dieser Geschichte kann ich wie einen Film vor meinem inneren Auge abspulen.
Ich versetze mich zurück in das Jahr 1970, das Jahr, in dem ich Mariella kennenlernte, und erinnere mich unversehens an eine Urlaubsfahrt des RINGs. Etwa ein Dutzend Nibelungen, darunter auch ich, fuhren im September gemeinsam in die Ferien mit dem Ziel Toskana.
Schon am ersten Reisetag war für mich und meine beiden Beifahrerinnen, Doris und Marlene, die Fahrt zu Ende. Sonntags um die Mittagszeit bei strahlendem Sonnenschein und auf fast leerer Autobahn hatte ich bei Tempo 130 unverschuldet einen schweren Unfall. Während ich einen PKW gerade überholte, wechselte dieser unvermittelt auf meine, die linke Spur, um seinerseits den Wagen vor uns zu überholen. Nach links auf den Grünstreifen ausweichend kollidierte ich mit der Leitplanke und verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Wagen, den meine Eltern mir schweren Herzens ausgeliehen hatten, und der vor der Reise noch rasch mit Sicherheitsgurten ausgestattet worden war, überschlug sich, ohne andere Fahrzeuge zu touchieren, und kam auf einer tiefer gelegenen Wiese, das Dach im Erdboden halb vergraben, zum Stehen. Das Dach war stark eingedrückt. Wir drei Insassen trugen nur leichte Verletzungen davon. Die beiden anderen Autos mit RING-Mitgliedern, ein Kleinbus und ein PKW, fuhren ein gutes Stück hinter uns und wären beinahe an der Unfallstelle vorbeigefahren, ohne uns zu bemerken.
Fast zufällig bemerken die anderen Nibelungen die Unfallstelle auf. Sie halten an, stehen dann schockiert in einer Reihe am äußeren Rand des Standstreifens und schauen herunter auf die tiefer liegende Wiese mit dem Wrack. Mariella steht mitten in der Reihe. Ihr Blick ist auf mich gerichtet. Sie schaut halb ungläubig, halb entsetzt. Auch heute noch steht mir ihr Gesicht deutlich vor Augen.
Ich halte inne. Dieses Bild hat einen Fehler. Zur Zeit des Unfalls lebte Mariella in Maiburg, wusste noch nichts vom RING. Wir lernten uns erst im November, zwei Monate nach dem Unfall, kennen. Trotzdem, auch jetzt, da ich mir darüber im Klaren bin, dass das Bild falsch ist, sehe ich die Szene ganz deutlich vor mir. Es gelingt mir nicht, Mariella aus dem Bild zu löschen. Wie weit, so frage ich mich, kann ich meinem Gedächtnis trauen? Ich nehme mir vor, fragwürdige Erinnerungen nach Möglichkeit auszusortieren. Mehr fällt mir im Augenblick nicht ein, und so tauche ich unverzagt wieder in das Jahr 1970 ein, dieses Mal direkt zu dem Abend, an dem ich Mariella kennenlernte.