Читать книгу Die Glut in dir - Christoph Schlick - Страница 10
ОглавлениеUnser Potenzial kann uns Ruhe und Halt geben. Uns zu Lösungen für Probleme führen, uns Ideen, Visionen und Erkenntnisse schenken. Mit dem Mut und der Stärke, die es uns verleiht, gelingt es uns, neue Wege zu gehen, Glaubenssätze über Bord zu werfen und aus alten Zwängen auszubrechen, um zu echter Lebensfreude und Erfüllung zu gelangen. Zauberisch – ganz zart nähert sich dieses Etwas, klopft in unseren Gedanken an und will, dass wir es einlassen, es anhören. Meist geschieht dies in Momenten des Alleinseins, wenn wir entspannt sind und uns Stille umgibt. Etwa wenn wir in der Natur spazieren gehen, den Baum vor unserem Fenster betrachten oder kurz vor dem Einschlafen sind. Dann finden solche besonderen Begegnungen statt, die uns Einsicht und Zuversicht schenken und uns Zukunft im Sinne des Wahren, Guten und Schönen und eines größeren Miteinanders finden lassen. Denn das ist das Ziel, das diese Macht verfolgt. So sagt beispielsweise auch der in Österreich geborene US-amerikanische Benediktinermönch und Vortragsredner Bruder David Steindl-Rast:
Was Menschen groß und gesund macht, ist,
dass sie ihr Leben von ihren mystischen Erfahrungen
prägen lassen,
sie nicht vergessen oder verdrängen,
sondern sich nach ihnen ausrichten.
So entspringen z.B. aus dem Bewusstsein grenzenloser
Zugehörigkeit
ein Gemeinschaftsgefühl, das alle Menschen einschließt,
und die Bereitschaft, danach zu handeln.
Aus den überwältigenden Erfahrungen
des Wahren, Schönen und Guten entspringt
ein dankbares Wachsein für die Gaben,
die jeder Augenblick uns schenkt.
Und diese Haltung ist bei großen Menschen
andauernd und lebensprägend.
Wie sehr dieses neue Denken schon in unserem gesellschaftlichen Alltag und damit im Außen Fuß gefasst hat, konnten wir bereits vor Corona an den Forderungen der Fridays for Future-Bewegung erkennen. Sie gelten einem Mehr an Gemeinschaft, Klimaschutz und Artenvielfalt und rüttelten damit unsere Gesellschaft sowie Wirtschafts- und Politikgrößen auf. Die junge Generation treibt einen Wandel hin zu mehr Gemeinsinn und zu inneren Werten – weg vom puren Streben nach Materialismus. Sie fragt: »Was braucht es wirklich?«, und definiert damit Leben und Luxus neu. Dem können wir uns nicht entziehen. Keiner von uns. Gleichzeitig wissen wir als Gesellschaft nicht, was uns dieses Virus, das immer neue und wieder neue Formen findet, in Zukunft abverlangen wird. Jäh gebot es uns Einhalt in unserem Tun, in unserem Leben, Konsumieren und Schwelgen im Überfluss. Ja, fast automatisch, ohne groß nachzudenken, hatten wir uns so viele große und kleine Wünsche in unserem Leben erfüllt und gleichzeitig Mauern errichtet, um uns und unseren Besitz zu schützen. Mit jedem Zentimeter mehr an Höhe – für die wir schufteten, machten und taten – haben wir die Sicht auf unsere wahren Wünsche und Möglichkeiten mehr und mehr verborgen. Und entwickelten mit zunehmender Mauerhöhe eine vermeintliche »Gelassenheit« auf unser Sein – besser bekannt unter dem Namen Resignation. Diese innere Leere mündet dann leider immer öfter in einem Burn-out. Sie wird sichtbar wie ein Riff im Meer, das oftmals in einer Krise plötzlich zutage tritt. Unter der Oberfläche unseres Tuns ist es wie ein Vulkan gewachsen. Und ganz unerwartet wird es sichtbar, weil es zu wenig Zufluss gab, oder weil sich plötzlich ein Loch auftat und Wasser abgeflossen ist. Etwa weil wir unser Leben mit zu wenig sinnvollen Inhalten gefüllt haben, weil eine große Sorge uns plagt oder weil wir nicht gelernt haben, unser Eigenes und Wesentliches zu verfolgen.
Gleichzeitig – und das ist das Paradoxe – geht mit dem stetigen Ablauf der Zeit eine steigende »Entschuldigungsfähigkeit« Hand in Hand. Das heißt, wir entschuldigen uns dann gerne mit der Ausrede: Ich kann mich jetzt nicht um mich und meine Bedürfnisse kümmern, weil mein Job Vorrang hat, meine Karriere, die Kinder … Das sind übliche Ausreden, die uns »erlauben«, die Pläne, die uns wirklich am Herzen liegen, nicht zu realisieren. Sehnlichste Wünsche zu ignorieren und gar Träume zu töten. Das klingt dramatisch und das ist es in meinen Augen auch.
Doch sitzen wir einem fatalen Irrtum auf, wenn wir glauben, dass mit dem Verstreichen der Zeit auch die Wünsche und Sehnsüchte vergehen. Und mal ehrlich, haben Sie nicht auch bisweilen das Gefühl, dass immer wieder etwas aus der Vergangenheit hochkommt, das Sie nie angepackt und angedacht haben. Ein Impuls, den Sie stattdessen abgetan und verdrängt haben?
Innere Unruhe, ein flaues Gefühl im Magen oder Kopfschmerzen lassen uns an den verschiedensten Ecken und Enden unserer Psyche und Physis spüren, wenn wir gegen uns leben, wenn wir einen Wunsch wegfegen oder gar eine Liebe ignorieren. Und nicht einmal dann, wenn wir erkennen, erfühlen und erfahren, dass sich aus dieser Nichtbeachtung unserer ureigenen Wünsche, Ideen und Vorstellungen, Frustration und gar echte Schmerzen entwickeln, sehen wir genau hin und stellen die Weichen neu. Nicht einmal dann, wenn uns der Atem wegbleibt, wenn das Herz schmerzt und wenn sich ein Gefühl der Leere und Trauer gegenüber den verlorenen Chancen in unserem Alltag einnistet und immer massiver wird. Nicht einmal dann!
Mich bewegen diese Themen als Berater und Coach, gleichzeitig fordern sie mich und treiben mich ganz persönlich immer wieder an. Als achtsamen Menschen rütteln sie mich immer wieder auf und geben mir einen Anstoß für mich selbst und für meine Arbeit. (Schließlich ist Potenzialentfaltung das Kernanliegen meines Tuns, um das ich mich zusammen mit 20 erfahrenen Kollegen und Kolleginnen am SinnZentrum in Salzburg seit 20 Jahren kümmere.)
Daher will ich Ihnen in diesem Buch Zugänge aufzeigen, wie Sie zuerst einmal in sich Ihre ureigenen inneren Möglichkeiten entdecken können. Wenn Sie Ihre eigene Kraft finden und nutzen, wird Ihnen Leichtigkeit geschenkt, Gelassenheit ermöglicht, Mut gezeigt und Freude erlebbar werden.
Ich will Ihnen helfen, die Kraft freizulegen und wieder zu spüren, die Ihr Leben begleitet und die in Ihnen wirkt, solange Sie auf der Erde sind: Ihr Potenzial und die unerschöpfliche Quelle, aus der sie sich speist – Ihre geistige Person (davon gleich mehr im nächsten Kapitel).
Um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, bitte ich Sie jetzt, einfach einmal tief auszuatmen: Atmen Sie auch innerlich aus. Entschleunigen Sie, gehen Sie runter vom Gas, werden Sie ruhiger und lassen Sie ein bisschen los. Versuchen Sie, wenn Sie dann wieder einatmen, ganz bei sich zu bleiben und dorthin zu spüren, wohin der Gedanke an Ihr Potenzial Sie führt. Spüren Sie hin zu Ihrem Ruhepunkt, Ihrer Quelle, Ihrer Mitte. Dort erwartet Sie Ihr erstes und Ihr unglaublichstes Potenzial, das Sie haben: Ihr Leben. Ihr Lebendigsein – im Hier und Jetzt.
Jeder von uns kommt auf die Welt und muss lernen, einzuatmen und sich dann mit einem Schrei quasi ins Leben hinaus zu atmen. Sie müssen natürlich jetzt nicht schreien. Es reicht schon, intensiv Ihrem Atem zu folgen und damit auch das Anliegen dieses Buches anzunehmen: Schicken Sie Ihr Fühlen und Ihre Gedanken auf die Reise zu Ihren Möglichkeiten, Chancen und Wünschen. Richten Sie sich in Ihrem Erleben auf Ihr innewohnendes Potenzial aus, und dann nichts wie hinaus ins Leben.
Machen Sie es nicht so wie viele, die denken, dem Fortschritts-Tsunami unserer Zeit zu entkommen, indem sie am Montag früh tief einatmen und erst am Freitagabend wieder aus. Dazwischen liegen nur Spannung, Anspannung und Angst. Das ist alles andere als die Entdeckung, die Freisetzung oder das Spiel mit unseren Potenzialen. Das ist vor allem alles andere als der Blick auf die Dimensionen des Geistes, die uns in so vielerlei Hinsicht ermächtigen.
Es gibt viele Definitionen und Überlegungen zum Thema Potenzial und zu seinen Bedeutungen. Vom Sport angefangen, der aus der Energy-Cloud Potenzial fast schon inflationär absaugt, bis hin zu den Managementschulen. Sie entwickeln aus dem Potenzial mit schöner Regelmäßigkeit neue Tools und Skills. Während Thinktanks der Wirtschaft und Politik aus Entwicklungspotenzialen schöpfen und aus Einsparungspotenzialen scheinbar Ergebnismaximierung ziehen. Die hier eingeschlagene Richtung scheint klar: höher, schneller, weiter, schöner, besser … Aber trifft das unsere wirklichen Bedürfnisse? Stillen wir dadurch unsere tiefen Wünsche und Sehnsüchte? Oder überfordern uns diese Potenziale nicht vielmehr – die, die uns angeboten werden, die andere in uns sehen, die uns medial und marketingmäßig suggeriert werden?
Solche Potenziale meine ich nicht, denn es geht mir nicht um irgendwelche Potenziale, sondern um Ihr Potenzial.
Der kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor sagt dazu: »Wahre Authentizität besteht in der möglichst umfassenden Realisierung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale […]. Was menschlichen Lebensformen meiner Überzeugung nach aber innewohnt, ist das Potenzial eines jeden, seine eigene, individuelle ›Stimme‹ zu finden.«
Mich begleiten im Verständnis dessen, was ich hier unter Potenzial fassen möchte, immer wieder Bilder aus der Physik, die ich versuche, in unsere Erlebniswelt zu übersetzen:
Hans-Peter Dürr, der 2014 verstorbene Leiter des Max-Planck-Institutes für Physik und Träger des Alternativen Nobelpreises, verwendet ein Bild eines Pendels – wie das bei einer alten Standuhr –, das er bis ganz nach oben dreht und quasi auf den Kopf stellt. In dem Augenblick, bevor es nach der einen oder anderen Seite hinunterfällt und zu pendeln beginnt, ist es in dem Zustand seiner größten Unsicherheit – es folgt ein schwungvoller Fall in die eine oder andere Richtung.
Wir empfinden einen solchen Moment als unangenehm und wollen so etwas in unserem Erleben unbedingt vermeiden. Als Physiker macht Hans-Peter Dürr uns aber darauf aufmerksam, dass dieser Moment jener von größter »Aufmerksamkeit«, ja Potenzialität ist. Das Pendel nimmt in diesem scheinbaren Unsicherheitsmoment alle auf es wirkenden Kräfte wahr, um dann in die Richtung der stärkeren »Anziehungskraft« zu fallen.
Dies ist natürlich keine freie Entscheidung, aber es ist doch ein Hinweis auf unsere Potenzialität: Uns aus der scheinbaren Sicherheit des Gleichgewichtes – Dürr sagt, ein Pendel, das in Ruhe hinunterhängt ist eigentlich »tot« – herauszuheben, die Unsicherheit auszuhalten, eine Ahnung für die Größe unserer Möglichkeiten zu bekommen, in Beziehung zu dem, was um uns ist, zu gehen und uns dann zu entscheiden, wohin wir uns wenden. Ist das nicht großartig? Und Krisen, wie wir gerade auch eine in unserer Außenwelt erleben, beschleunigen diese Auseinandersetzung. Weil sie uns neben dem Kräftespiel in uns selbst mit unseren ureigenen Themen noch einmal mehr durch das Kräftespiel im Außen zu Entscheidungen zwingen.
Doch zurück zur Theorie: Die Quantenphysik hat seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die Sicht auf die Welt völlig verändert. Die alten Paradigmen – von Newton bis Descartes und anderen – gelten weitgehend nicht mehr, auch wenn sie nach wie vor in unseren Schulbüchern stehen. Es ist, wie viele Physiker betonen, noch lange nicht alles erfasst, und die neue Erklärung der Welt ist ein »work-in-progress« und oft nur ein Erahnen.
Das, was mich fasziniert, soweit ich es erfassen kann, ist, dass uns die moderne Physik sagt, dass alles, wirklich alles, zusammenhängt, in Beziehung ist. Alles schöpft seine Kraft aus dieser – physikalischen – Beziehung, und nichts bleibt wirkungslos. Jeder Gedanke, jede Handlung, jede Entscheidung – einfach alles, hängt miteinander zusammen.
Das ist für mich ein Bild von Potenz! Wir erschließen das, was sichtbar wird, was Wirkung hat, was Wirklichkeit wird, nur dadurch, dass wir aus der unendlichen Größe der »Energie« schöpfen. Und noch spannender ist: Die höchste Energie liegt für die moderne Physik im »Dazwischen«, im Nicht-Materiellen, im Undefinierten. Dort, wo »nichts« ist, ist die größte Energie, die höchste Potenzialität. Dort ist (fast) alles möglich. Und das ordnende Prinzip, das diese Potenzialität in die Realität führt, nennt Max Planck Geist: »Als Physiker, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der Erforschung der Materie widmete, bin ich sicher von dem Verdacht frei, für einen Schwarmgeist gehalten zu werden. Und so sage ich nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt – es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum mobile zu erfinden –, so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.«3
Viktor Frankl, der Mediziner und Psychologe, stellt uns einen Dreischritt vor, wenn er auf die Potenzialität des Geistes hinweist: Ausgehend von den Möglichkeiten meines Lebens – die nennt er Potentia – setzen wir Handlungen (Actus). Diese Handlungen sind die jeweilige Aktualisierung oder Verwirklichung des Angebotes des Lebens. Wenn wir Handlungen wiederholen, uns einüben – oder uns vielleicht auch manchmal verrennen –, entstehen Haltungen (Habitus). Einen Habitus können wir nur verändern, wenn wir uns wieder auf unsere Potentia zurückbesinnen, neue Möglichkeiten erkennen und neue Handlungen setzen.
Wer mit seinem Potenzial in Verbindung kommt, dem erschließen sich die schier unendlichen Weiten des Geistes. Fördernd und fordernd zugleich – aber nie über-fordernd, wie ich immer wieder feststellen kann. Ich bemerke immer wieder, dass manche meiner Klienten durch Situationen in ihrem privaten oder beruflichen Leben sehr durchgeschüttelt werden, ja manchmal auch erschüttert sind. Wenn es dann gelingt, den Blick zu heben und zu weiten, nicht in der Spirale aus Angst und Verzweiflung zu verweilen, sondern beherzt aufzuschauen und den Blick auf den anfangs oft nur ganz kleinen Freiraum zu richten und die dort sichtbaren Möglichkeiten zu ergreifen, dann entsteht Lebendigkeit. Dann wird die Glut spürbar. Dann kann inneres Feuer wieder auflodern.
Ich freue mich, wenn Sie aus diesem Kapitel den folgenden Gedanken ganz bewusst mitnehmen: Potenzial ist unser bester Freund und zugleich unser größter Herausforderer. Es will, dass wir unsere Komfortzone verlassen, um zu uns selbst zu finden und uns selbst zu leben. Das kann schon sehr unangenehm sein. Aber, und das ist die schöne zweite Seite der Medaille, wir sind dabei nicht allein. Unser Potenzial hat eine Nährquelle, einen ständig präsenten Impulsgeber und wohlwollenden Begleiter – unseren Geist. Von dieser Quelle und ihrer Unerschöpflichkeit bin ich zutiefst überzeugt.