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LebensDimensionen

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So trübsinnig der letzte Abschnitt endete, so hoffnungsvoll beginnt der neue. Denn über diesen vom Nebel verdunkelten Planeten lief ein Mann, der die Zerrissenheit unserer LebensWelt deutlich vor Augen hatte und dennoch an Beziehungen glaubte.

Jesus.

Viele Male werden wir in diesem Buch den Blick von unserer LebensWelt auf diesen Menschen richten und danach fragen, ob in seinem Leben Antworten auf unsere Fragen stecken und ob es Muster gibt, die man bei ihm erkennen und auf das eigene Leben übertragen könnte.

So auch bei dieser sehr grundlegenden Frage, der Frage nach dem Sinn überhaupt. Ein Zeitgenosse stellt sie ihm – ich erwähnte es bereits. Meister, welches ist das wichtigste Gebot im Gesetz? – was in den Begrifflichkeiten eines frommen Juden zur damaligen Zeit nichts anderes als die Frage nach dem ist, was diesem Leben wirklich Sinn verleiht. Jesu Antwort:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand! Dies ist das größte und wichtigste Gebot. Ein zweites ist ebenso wichtig: Liebe deine Mitmenschen wie dich selbst! Mit diesen beiden Geboten ist alles gesagt, was das Gesetz und die Propheten fordern. 2

Der Sinn des Lebens liegt in Beziehung. Am Tag deines Todes wird nur eines von Bedeutung sein: Ob du geliebt hast.

Gott.

Die anderen.

Wie dich selbst.

Die Worte dieses Mannes (und seine Taten!) haben Menschen bis heute veranlasst, das Leben und die Welt unter neuen Vorzeichen zu sehen. Die ersten Christen nahmen ernst, was Jesus über die Liebe sagte, und begannen, in Gott selbst den Ursprung vollendeter Liebe zu erkennen. Sie sagten, dass Gott in sich selbst Beziehung sei. Er sei einer, sagten sie … und doch drei, sagten sie … und doch nur einer – und waren sich dabei des Paradoxons dieser Aussagen sehr wohl bewusst.

Vater. Sohn. Heiliger Geist.

Der Ursprung des Universums ist Beziehung.

Eins plus eins plus eins ist eins3.

Dreieinigkeit.

Und nun entdeckten die ersten Christen dieses Geheimnis des Lebens in den uralten Schriften des Judentums wieder. Wie im Buch Genesis der Mensch als Gottes Abbild den Garten Eden betritt und diese göttliche Einheit widerspiegelt: Er ist eins mit Gott und der Welt und seinesgleichen. Wie die Beziehung zu Gott zerbricht und als Folge die Beziehung untereinander vor die Hunde geht. Und wie seither ein tiefer Riss die Weltgeschichte durchzieht, den jeder von uns täglich spürt.

Sie fanden im Alten Testament die dramatische Geschichte eines Gottes vor, der gewillt ist, Beziehung wiederherzustellen. Mit einem einzelnen Menschen zunächst: Abraham – und dann einem Volk, das aus diesem Menschen hervorgeht: Israel. Humane Gesetze sollen das Zusammenleben der Menschen regeln, ein Opferkult den Kontakt zu Gott ermöglichen.

Und immer schwingt der Traum in dieser mehr schlecht als recht funktionierenden Gemeinschaft von Menschen mit, dass es eines Tages wieder so sein wird wie am Anfang. Dass eines Tages die Welt in Ordnung kommen wird. Völlig! Dass sich eines Tages Gott und Mensch wieder im Garten treffen werden. Dass eines Tages einer kommen wird mit dem Himmel im Gepäck.

Der Retter. Der Messias.

Die Juden nannten diesen Traum Schalom und erinnern sich noch heute bei jeder Begrüßung an diesen Traum, auch wenn ihn heute sicher die meisten für zu-schönum-wahr-zu-sein halten.

Die Christen allerdings erkannten: Diese Zukunftsvision ist angebrochen! Der Messias war da. Er hatte von Schalom geredet, vom „Himmelreich“. Und dass es nah sei, hat er gesagt.

Und er hat Schalom gelebt. Mit jeder Faser seines Seins hat er Menschen geliebt. Gott geliebt. Und beide miteinander in Verbindung gebracht. Mehr noch: er war es selbst!

Gott. Einer von uns.

Jesus war Gott, sagten sie. „Wir haben Gott erlebt, dabei, Beziehungen wieder aufzurichten.“

Schaut man sich das Leben Jesu an, entdeckt man in der Tat, dass sich sein Wirken vor allem um Beziehungen dreht. Zum einen lebt er in einem ständigen und so intensiven Kontakt mit Gott, dass viele, die ihn reden hören, sagen, seine Worte seien Gottes Worte. Wenn er handle, handle Gott, sagen sie. Und in der Tat ist das, was im Umkreis Jesu geschieht, einigermaßen verblüffend. Menschen werden gesund, Menschen werden satt, Menschen werden lebendig – es ist wie im Himmel.

Zum anderen investiert er die meiste Zeit des Tages in die Formung einer kleinen Gemeinschaft gewöhnlicher Menschen. Er liebt das WG-Leben. Mark und Jesus hätten sich wohl ein paar wunderbare Insider-Geschichten zu erzählen. Er hält es aus irgendeinem Grund für sinnvoll, zwölf jungen Männern zu zeigen, wie man das macht: den Mitmenschen lieben wie sich selbst.

Und zum dritten ist er ständig unterwegs zu denen, die ihn nicht kennen und Schalom doch so dringend brauchen. Er hat eine Mission. Er sucht die von Gott getrennten, die Ungeliebten und vom lieblosen Leben Zermürbten.

Er hat den Himmel im Gepäck.

In den drei Jahren seines Lebens, die wir heute durch die Evangelien überblicken, geht es immer und immer wieder um Beziehung.

Das sind die Dimensionen, in denen er lebt, atmet und schwitzt:

Die Beziehung nach oben – zu Gott.

Die Beziehung nach innen – zu seinen Jüngern.

Die Beziehung nach außen – zu allen anderen.

Man muss sagen, er vernachlässigt dafür beherzt ein paar Dinge, die Männern in seinem Alter für gewöhnlich wichtig sind.

Er baut kein Haus.

Er pflanzt keinen Baum.

Er zeugt keinen Sohn.

Hey, mir hat man gesagt, diese Dinge seien bedeutsam! Über den Baum können wir meinetwegen reden, aber …

Jesu Leben hingegen predigt: Fokussiere dich auf Beziehungen! Und dann geht er sogar noch einen bedeutsamen und lebensgefährlichen Schritt weiter …

Nur mal angenommen, sein Lebenskonzept scheint dir irgendwie sinnvoll. Möglicherweise betrachtest du die Lehre des christlichen Glaubens noch aus einer gewissen Distanz – aber wie Jesus zu leben verstand, fasziniert dich. Es scheint dir tatsächlich der bessere Weg zu sein, zu vergeben statt zurückzuschlagen. Es scheint dir der bessere Weg zu sein, Brücken zu bauen statt Mauern aufzurichten. Es scheint dir der bessere Weg zu sein, an andere zu denken statt nur an sich selbst. Selbstlosigkeit, Freundlichkeit, Geduld, Hilfsbereitschaft, Gnade, Friedfertigkeit – all das scheint dir wirklich der einzige Weg zu einer besseren Welt zu sein. Dann stellen sich immer noch zwei Fragen:

Was mache ich, wenn ich nicht Jesus heiße?

Und was ist mit dem Tod?

Denn zweifellos hat Jesus die Sache mit den Beziehungen vorbildlich hinbekommen. Aber wenn ich das nachmachen soll, muss ich sagen, dass ich wenig Hoffnung habe, dass es mir auch nur halb so gut gelingen wird. Tolles Vorbild! Wirklich. Aber ich werde das nicht schaffen.

Und selbst wenn. Eines traurigen Tages werden alle noch so starken Bänder zwischen mir und anderen zerreißen. Je besser sie waren, desto größer wird der Schmerz sein. Widerlegt der todsichere Ausgang aller Geschichten auf dem Friedhof nicht letztlich die Behauptung, wir könnten wirklich für Beziehungen geschaffen sein?

Deshalb geht Jesus noch einen Schritt weiter.

Er stirbt.

An einem Kreuz.

Und das letzte, was er fühlt, ist der hässliche Riss, der seit Menschengedenken die menschliche Seele zerreißt. Einer seiner letzten Sätze ist ein verzweifelter Schrei. Mein Gott, mein Gott. Warum hast du mich verlassen?4

Man könnte in diesem Schrei das tragische Schicksal eines Mannes erkennen, der bis zum Ende reinste Ideale und einen unerschütterlichen Glauben an einen großen Traum hat – und doch scheitert.

Die ersten Christen hingegen sahen in Jesu Tod etwas ganz anderes. Sie sahen im Kreuz die Tür, die es mittelmäßig liebevollen Menschen wie dir und mir möglich macht, Schalom zu leben. Erneuerte Beziehungen zu Gott und zu Menschen.

Sie erkannten im Kreuz die Wende der Weltgeschichte, weil hier kein vorbildlicher Mensch gestorben war, sondern Gott selbst, so sagten sie. Und weil er damit gezeigt hatte, wie weit Gottes Liebe zu uns Menschen geht – bis zum äußersten nämlich. Bis zur völligen Selbstaufgabe. Und weil Jesus nach drei Tagen auferstand und somit am Kreuz die Liebe wirklich – unglaublicherweise! – über den Tod gesiegt hatte.

Die Liebe

über

den Tod

gesiegt hatte.

Sie verstanden: Gott kam wirklich auf unsere Seite des Risses. Und ermöglicht jenseits von Eden ein Leben in Verbindung mit ihm. Und wenn die Trennung von Gott der Beginn der Zerstörung menschlicher Beziehungen war, dann ist die wiederhergestellte Beziehung zu Gott der Beginn heilender Beziehungen zwischen Menschen. Und das … das wäre dann der Anbruch des Reiches Gottes! Der Beginn des Himmels auf Erden. Jesus hatte ihn wirklich im Gepäck.

So wurde das Kreuz zum Schlüsselsymbol für die Hoffnung, dass am Ende alles Sinn machen wird und es sich tatsächlich lohnt, an die Liebe zu glauben.

Liebe ist tatsächlich ewig.

Gottes Liebe!

Allerdings ist es eine andere Art Liebe als die, die wir gewohnt sind. Was wir heute Liebe nennen, hätten die alten Griechen Eros genannt. Das klingt nicht zufällig nach Erotik, aber es ist mehr als das. Eros ist jede Art von Liebe, die vom Objekt der Liebe ausgelöst wird. Das ist der Fall, wenn man sich verliebt. Aber auch, wenn ein Kind mit seinem Lächeln unser Herz gewinnt, dich der Anblick einer grandiosen Landschaft überwältigt oder Musik dich verzaubert.

Eros ist die Liebe, die liebt, weil etwas oder jemand so ist, dass es Liebe in uns auslöst. Eros ist eine Reaktion.

Die Griechen haben Eros die emporsteigende Liebe genannt. Etwas fasziniert uns, wir schauen auf, wir fühlen uns angezogen, wir wollen es haben, wir brauchen es – wir lieben es.

Oder sie.

Oder ihn.

Klar ist: ewigen Eros gibt es nicht. Spätestens wenn der Traummann 105 ist, verkalkt und mit seinem Nachttopf nach dir wirft, ist Eros Geschichte. Eher schon früher.

Ewige Liebe allerdings ist anders. Die Griechen nannten sie Agape, die herabsteigende Liebe. Diese Liebe gilt jemandem oder etwas, das nicht zwangsläufig liebenswert ist. Agape beugt sich herunter und indem sie liebt, erhebt sie das Objekt der Liebe. Diese Liebe ist nicht Reaktion, sondern Aktion.

Eros liebt, weil etwas wertvoll ist. Agape verleiht Wert, weil sie liebt.

Was selten sehr romantisch ist.

Was sogar an einem Kreuz enden kann.

Die herabsteigende Liebe ist die, die die ersten Christen in Jesus erkannten. Eine Liebe, die nicht vorhat, glücklich zu werden, sondern zu leiden. Die sich herunterbeugt. Bis ganz, ganz unten. Und die uns Menschen dadurch ungeahnten Wert verleiht.

Die ersten Christen wussten: Diese Art Liebe ist nicht menschlich. Sie liegt uns nicht im Blut. Sie wird schmerzlich vermisst auf diesem Planeten, weil nämlich Gott diese Liebe ist und diese Welt keine Verbindung mehr zu ihm hatte.

Bis jetzt. Bis Jesus. Jetzt ist sie da.

Und sie begannen, an sie zu glauben, die ewige Liebe. Und sie zu leben.

Und das war der Beginn der Kirche.

Sie entstand, weil die kleine von Jesus gegründete Gemeinschaft sich multiplizierte und fortführte, was er begonnen hatte. Zu leben und zu lieben wie er. Man traf sich wöchentlich im Tempel, feierte Gott und half einander, Gott zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit ganzem Verstand. Man saß täglich in den Häusern beim Essen zusammen, teilte das alltägliche Leben und übte sich darin, der entstandenen Gemeinschaft eine reale Form zu geben. Und man trug die Liebe Gottes zu denen in der Gesellschaft, die sie am nötigsten hatten. Den Alleingelassenen. Denen in Not. Um die Nächsten zu lieben wie sich selbst.

Man lebte die drei Dimensionen der Liebe, um die es in diesem Kapitel geht.

Natürlich war die Kirche nie der Himmel auf Erden. Man musste blind sein, um ihre Fehlerhaftigkeit zu übersehen – damals schon. Aber sie war ein Anfang. Eine Gemeinschaft, in der man eine Ahnung bekommen konnte, wie geheilte Beziehungen aussehen. Ein Projekt, das Hoffnung machte, dass eines Tages Schalom Realität werden wird. Eine Bewegung, die an die Kraft der Liebe glaubte und daran, dass Gott ihr Ursprung ist.

Einer der Schüler Jesu – im Zwölferteam war er immer der Jüngste gewesen – schrieb als uralter Mann an seine Kirche:

Meine Freunde, wir wollen einander lieben, denn die Liebe hat ihren Ursprung in Gott, und wer liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe. Und Gottes Liebe zu uns ist daran sichtbar geworden, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, um uns durch ihn das Leben zu geben. Das ist das Fundament der Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühneopfer für unsere Sünden zu uns gesandt hat. Meine Freunde, da Gott uns so sehr geliebt hat, sind auch wir verpflichtet, einander zu lieben. Ihn selbst hat niemand je gesehen. Doch wenn wir einander lieben, lebt er in uns, und seine Liebe hat uns von Grund auf erneuert. 5

Ich würde nicht wagen, so was zu schreiben, wenn es nicht in der Bibel stünde. Denn diese Sätze sind krass.

Gott ist Liebe.

Lieben bedeutet Gott kennen.

Liebe ist das Geheimnis des Lebens.

Ab heute lieben wir ewig.

Novalis und Paulus haben doch recht.

Neunmalweise

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