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Prolog 1

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Feindesland? Schon als er in die Manetstraße einbog, fühlte er die eisige Ablehnung gegenüber einem Angereisten. Sie kam aus den bleiverglasten Fenstern, den verhangenen Scheiben der Dachgauben, den abweisenden Garagenzufahrten, den maurischen Verzierungen der Hauseingänge, die mittels geschickt gepflanzter Hecken aus Lebensbäumen, Liguster und Feuerdorn schwer einsehbar waren.

Der frische Frühsommermorgen und der Tau auf dem Grünstreifen am Rand der Straße versprachen einen sonnigen und warmen Tag. Aber die Luft und die Bäume und die Häuser, die Augen hinter den Gardinen, die Sicherheitskameras und Bewegungsmelder und Gegensprechanlagen sagten etwas anderes.

Ein Mann trat an seine Gartentür, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu nehmen. Er hatte eine Strickjacke und eine alte Kordhose an und Lederpantoffeln an den Füßen. Johann Silberschlag schätzte sein Alter auf sechzig Jahre. Er blickte den Mann an und wollte grüßen, der starrte zurück, hart, verzog keine Miene, in Silberschlag kam eine Erinnerung hoch, ganz schwach, ein Echo vergangener Tage, das Bild eines Mannes in Uniform, ähnlich starr, er konnte sie nicht festhalten, ging weiter und fühlte, dass ihn die Augen verfolgten, bis er nach links in die Scharnweberstraße eingebogen war, die ihn in nordöstlicher Richtung auf die Waldowstraße führte. Er ging an den großen Platanen entlang, bog nach links in den Park ein, setzte sich auf eine Bank am See und fühlte sich endlich den Blicken und den Augen und den Häusern entzogen.

Die Leute in den Häusern waren ihm einmal nahe gewesen. Kein Wunder, dass es ihn immer wieder hierher zog. Damals war er Leiter eines Englisch-Intensivkurses für Kader der chemischen Industrie und des Außenhandels der Abteilung Fremdsprachen der Technischen Hochschule für Chemie „Carl Schorlemmer“ Leuna-Merseburg. Die umständliche Bezeichnung lief ihm noch geläufig durch den Sinn. Diese „Kader“ waren leitende Mitarbeiter und wurden „Reisekader“ genannt, weil sie für Reisen in das NSW, das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, vorgesehen waren. Verstand das heute überhaupt noch jemand?

Kurz bevor der Kurs begann, bat ihn der Sicherheitsbeauftragte des Rektors der Hochschule, der Genosse Samson, zu einem Gespräch.

Samsons Zimmer und Vorzimmer befanden sich im Verwaltungsgebäude der Hochschule direkt neben dem Rektorat.

Frau Elster, die Sekretärin, die genau so aussah, wie sie hieß, bot ihm einen Stuhl an.

„Es geht gleich los. Genosse Samson ist noch beim Rektor. Möchten Sie Kaffee oder Tee?“

„Danke, weder noch. Ein Glas Wasser würde ich nehmen, Leitungswasser, wenn es geht.“

Er war schon aufgeregt genug und fühlte sein Herz klopfen. Außerdem spürte er einen Juckreiz an schwer zugänglicher Stelle. Er konnte ihm hier unter den Augen von Frau Elster nicht nachgeben.

Was wollte Samson von ihm? Der Mann galt allgemein als umgänglich, aber wie vor jeder Obrigkeit war Silberschlag auch in diesem Fall, in Folge seiner Erziehung, gehemmt und eingeschüchtert, bevor er überhaupt wusste, worum es ging. Das heißt, genau gesagt, konnte er sich denken, dass es mit dem Intensivkurs zu tun hatte.

Die Tür ging auf.

„Ah, Kollege Silberschlag, schon da? Kommen Sie in mein Zimmer. Hat Ihnen die Kollegin Kaffee angeboten? Ach so, Wasser. Nehmen Sie Ihr Glas mit rüber.“

Sie gingen in Samsons Büro. Silberschlag setzte sich auf den angebotenen Stuhl und sah sich um. An der Wand hinter dem Schreibtischstuhl hing das Bild des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs. Es stärkte Samson den Rücken, während es jeder Besucher unentwegt vor Augen hatte.

„Also, Kollege Silberschlag, Sie wissen, worum es geht?“

„Eigentlich nicht. Professor Otto hat mir nur gesagt, dass Sie mich sprechen wollten. Hat es mit dem Intensivkurs zu tun?“

„Richtig. Wie Sie wissen, sind fast alle Teilnehmer des Kurses Reisekader, haben also für die DDR eine bestimmte Stufe der Sicherheitsrelevanz.“

„Sicherheitsrelevanz?“

„Ja. Damit will ich sagen, dass die Kollegen in ihrer Mehrzahl Geheimnisträger und deshalb von Interesse für den Gegner sind.“

„Ach, das meinen Sie.“

Silberschlag fand, dass er sich ruhig naiv anstellen konnte. Das entsprach ohnehin seiner Natur.

„Ich sage Ihnen auch, dass nur eine prozentual kleine Gruppe von DDR-Bürgern den Status eines Reisekaders hat, ich schätze, es handelt sich um ca. 30 000 Personen.“

Silberschlag begann sich zu wundern. Samson sprach so vertraulich mit ihm, der er nicht einmal SED-Mitglied war. Wie häufig in solchen Situationen stieg seine Bereitwilligkeit, Vertraulichkeit als Zeichen des Vertrauens zu sehen und mit Vertrauen zu beantworten.

„Normalerweise prüfen die jeweiligen Parteiorganisationen die ideologisch-politische Zuverlässigkeit der für eine Reise ins NSW vorgesehenen Personen“, fuhr Samson fort. „Für unser wichtigstes Sicherheitsorgan, mein Sicherheitsorgan, wie Sie wissen, bleibt dadurch weniger Arbeit. Was jedoch die Parteigruppe oder der Parteisekretär häufig nicht kann, ist eine Bewertung der moralischen Festigkeit der Genossen oder Kollegen in besonderen, in herausgehobenen Situationen.“

„Moralische Festigkeit?“

„Genau. Und ist die Moral einmal gefährdet, dann steht es auch mit der ideologischen Festigkeit oft nicht mehr zum Besten.“

Silberschlag schaute Samson an. Er ahnte, was kommen würde und geriet in einen Zwiespalt. Er wollte seinen Gesprächspartner nicht vor den Kopf stoßen, andererseits aber … Er wusste, was ein Intensivkurs wie der geplante alles mit sich brachte. Die Teilnehmer schliefen in einem Internat der Hochschule, waren wochenlang von ihren Familien, ihren Ehefrauen und Ehemännern getrennt. Fünfzig Prozent der Studierenden der Hochschule waren junge Frauen, von denen viele auf der Suche nach Männern waren – und es sprach sich schnell herum, dass sich „Reisekader“, also führende Mitarbeiter ihrer Einrichtungen, Ingenieure, Diplomökonomen, Professoren und Doktoren, Abteilungsleiter großer Betriebe, Forschungsdirektoren mit guten Gehältern, Mediziner mit akademischen Titeln usw. in greifbarer Nähe und in gefährdeter, was zugleich hieß zugänglicher geistiger und vor allem körperlicher Lage befanden. Er war selbst häufig Teilnehmer von Weiterbildungskursen gewesen und wusste um die Verlockungen einer neuen Frau. Er war ihnen oft genug erlegen. Das Neue war das Entscheidende, die anderen Qualitäten zuerst zweitrangig, und sie brauchten für zwei oder drei Wochen hormoneller Angeregtheit ohnehin nicht in Anschlag gebracht zu werden.

Samsons Stimme unterbrach seinen Gedankengang.

„Sie, Kollege Silberschlag, sind den ganzen Tag mit den Leuten zusammen. Ich bitte Sie, uns zu helfen. Wenn Sie Auffälliges beobachten, dann geben Sie mir doch Bescheid.“

„Was ist „Auffälliges“?“

„Wenn Sie abends mit den Kursteilnehmern zusammen sind, zum Beispiel ein Bier trinken, so prüfen Sie, ob sich nicht jemand absondert. Oder Sie merken, dass jemand nach dem Kurs abgeholt wird. Oder verstärkt fremde Autos auf dem Hochschulgelände sind. Und was noch so alles aus dem Rahmen fällt. Und natürlich interessiert uns darüber hinaus jede Bemerkung, die auf einen Widerspruch zwischen äußerem Auftreten und innerer – na, sagen wir mal – Gestimmtheit schließen lässt.“

Silberschlag überlegte. Samson arbeitete für das Ministerium für Staatssicherheit, das wusste jeder, und auch er selber verschwieg es nicht. Was da von ihm verlangt wurde, fiel ganz in den Verantwortungsbereich eines Intensivkursleiters, der für Ordnung als Voraussetzung für Erfolg zu sorgen hatte. Und am Ende des Kurses musste er ohnehin für die entsendenden Ministerien (hauptsächlich das Ministerium für Außenhandel und das für Chemische Industrie) einen Abschlussbericht schreiben und den Kenntnisstand, den die Teilnehmer in Englisch erreicht hatten, sowie ihr Verhalten während des Kurses beurteilen. Und von diesem Bericht ging bestimmt eine Kopie, ohne sein Zutun, an das Ministerium für Staatssicherheit, in diesem Fall an dessen Bezirksbehörde in Halle, die ihn nach Berlin weiterschickte. Was er Samson berichten würde, erreichte dessen Arbeitgeber später ohnehin.

Das Jucken hatte aufgehört, und er schwitzte auch nicht mehr.

„Ja, Kollege Samson, ich verstehe Sie. Was aber ist, wenn es nichts zu berichten gibt? Vor allem von dem gerade erwähnten Widerspruch nichts zu merken ist? Sie werden dann doch hoffentlich nicht denken …“

„Ach was“, unterbrach ihn Samson. Durch die rasche Willfährigkeit Silberschlags wurde sein Ton plötzlich rauer. „Das kommt nicht vor. Es gibt immer was zu berichten.“

Er nahm ein Blatt aus einer Schreibtischschublade und schob es Silberschlag über den Tisch. Der las über einem mit Schreibmaschine geschriebenen kurzen Text die Überschrift „Verpflichtungserklärung“.

Silberschlag schaute über den See. Im Schilf, keine zehn Meter vor ihm, befand sich ein Schwanennest. Ein Schwan brütete, der andere schwamm in der Nähe auf dem Wasser und hielt Wache. Hölderlins Verse gingen ihm durch den Kopf. „Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen, tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser.“ Und: „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.“

Es kam Silberschlag hier zum ersten Mal in den Sinn, wodurch dieses Gedicht eine solche kalte Trostlosigkeit ausströmte, für ihn jedenfalls. Es fehlte, wie sonst nicht oft bei Hölderlin, jeder Bezug zu den ,Himmlischen’. Und ihm fiel auch der Name Johannes R. Becher ein, der die Hölderlin-Ausgabe mit diesem Gedicht in der DDR veranlasst hatte.

Ein heißes Schamgefühl stieg in ihm auf, wenn er an das Gespräch mit Samson dachte. Wie hatte er es soweit kommen lassen können. Spätestens nach diesem Gespräch hätte er auf die Leitung des Intensivkurses verzichten müssen. Aber sein Ehrgeiz trieb ihn. Er wollte vor Professor Otto, der ihn mit der Leitung des Kurses betraut hatte, glänzen. Es machte ihm Freude, für diesen kompetenten und trotz aller politischen Zwänge redlichen Abteilungsleiter zu arbeiten. Dazu kam das Gefühl, keiner könne einen Kurs so gut wie er, Silberschlag, leiten. Auch würde seine so genannte Jahresendprämie, fast ein dreizehntes Monatsgehalt, reichlicher ausfallen, und bei erfolgreichem Kursverlauf auch die Prämien der beteiligten Kollegen. Und nicht zuletzt waren auch immer zwei oder drei Frauen im Kurs, die gern einmal der leiblichen Einförmigkeit ihrer Ehe entflohen, wobei er ihnen half.

Ihm schien, nicht zum ersten Mal, als fehlte ihm ein unverrückbarer innerer Maßstab, eine Stimme, die ihm unter allen Umständen sagte, welcher Weg der richtige sei.

Dabei war er nicht ohne Hilfe gewesen. Professor Otto hatte ihn zu Samson auf den Weg geschickt mit den Worten „Less is more“. Begriffsstutzig wie häufig hatte er ihn nicht verstanden.

Später geriet er in Umstände, die ihm halfen, die immer wiederkehrende Scham eine Zeit lang zu unterdrücken. Er hatte weitere Begegnungen mit Mitarbeitern des MfS, unfreiwillige, Verhören sehr ähnliche, die auf Grund seiner politisch-ideologischen Uneinsichtigkeit und daraus folgender aufsässiger Handlungen schließlich dazu führten, dass seinem Ausreiseantrag stattgegeben wurde.

Er öffnete seine Aktentasche, zog sein Netbook heraus und begann zu schreiben. Er suchte nach den richtigen Wörtern, mit dem er die Atmosphäre dieser Siedlung und seine Haltung damals als Intensivkursleiter beschreiben konnte. Vor allem aber versuchte er durch seine Aufzeichnungen herauszufinden, was ihn eigentlich von Leuten wie Samson oder den hier Wohnenden unterschied außer durch die Tatsache, dass er das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen hatte.

Wintermorgen - Geschichten und Geschichtliches

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