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Das eingemauerte Kind

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Geht der Wanderer nachts zur Geisterstunde, zwischen Mitternacht und 1 Uhr, bei Vollmond über die Zollbrücke unterhalb der Broihanschenke zwischen Ammendorf und Beesen im Süden von Halle an der Saale, so kann ihm Grausliches widerfahren.

Auf der Brücke über dem Mittelpfeiler, an dem sich eine Steinplatte befindet, steht im fahlen Mondlicht eine in schwarzes Nonnengewand gekleidete Gestalt und weint und klagt um ihr Kind und ihre Schuld, die sie nicht zur Ruhe kommen lässt.

Als man einst anfing, die Brücke zu bauen, fanden die Maurer an jedem Morgen zerstört, was sie am Tag zuvor errichtet hatten. Ein Mönch kam des Weges und riet ihnen, etwas Lebiges, ein Menschenkind, in die Brücke einzumauern, um die Wassergeister zu versöhnen, die über den Bau erzürnt wären und ihn deshalb immer wieder zerstörten.

Er erbot sich, ihnen ein Kind zu verschaffen. Damit waren die Bauleute einverstanden.

Am nächsten Morgen kam in einer Kutsche eine Nonne den Weg zur Brücke heruntergefahren. Sie hatte ein Kind auf dem Schoß, das der Mönch mit ihr in sündiger Nacht gezeugt hatte.

Die gottverlassene Frau gab dem Kind eine Semmel in die Hand, und die Maurer setzten das kleine Wesen in die vorbereitete Mauernische. Es rief mit herzzerreißenden Worten nach seiner Mutter, doch das Jammergeschrei half ihm nichts. Die Brückenbauer mauerten die Nische rasch zu, und das Weinen des Kindes wurde immer leiser, bis man es nicht mehr hören konnte, als die Lücke schließlich mit einer Steinplatte ganz geschlossen war. Von da an blieb die Brücke unzerstört.

(Nach: Schultze-Gallera, Die Sagen der Stadt Halle und des Saalkreises, Halle 1922)

Überarbeitet. Zuerst erschienen im Jahre 2009 in der „Halle-Lese“ des Bertuch Verlages Weimar, einer Internet-Publikation.

Wintermorgen - Geschichten und Geschichtliches

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