Читать книгу Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl - Christopher Germer - Страница 8

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Einleitung

Das Leben ist hart. Trotz bester Absichten geht vieles schief – manchmal sehr schief. Neunzig Prozent aller Brautpaare gehen voller Hoffnung und Optimismus in die Ehe, und dennoch enden 40 % aller Ehen vor dem Scheidungsrichter. Wir kämpfen uns durch den Alltag, nur um eines Tages mit stressbedingten Problemen wie hohem Blutdruck, Angstzuständen, Depressionen, Alkoholismus oder einem geschwächten Immunsystem beim Arzt zu landen.

Wie reagieren wir normalerweise, wenn unser Leben aus den Fugen gerät? In den meisten Fällen schämen wir uns und werden selbstkritisch: „Was ist nur los mit mir?“, „Warum schaffe ich es nicht?“, „Warum ich?“ Vielleicht setzen wir auch alles daran, uns selbst wieder „in Ordnung zu bringen“ und machen damit alles nur noch schlimmer. Manchmal geben wir anderen die Schuld. Anstatt uns eine Atempause zu gönnen, scheinen wir stets den Weg des größten Widerstandes zu wählen.

Doch wie verzweifelt wir auch versuchen, emotionalen Schmerz zu vermeiden, wir können ihm nicht entgehen. Schwierige Gefühle – Scham, Wut, Einsamkeit, Angst, Verzweiflung, Verwirrung – klopfen mit schöner Regelmäßigkeit an unsere Tür. Sie überfallen uns, wenn sich die Dinge nicht wie erwartet entwickeln, wenn wir von unseren Lieben getrennt sind oder wenn wir mit Krankheit, Alter und Tod konfrontiert werden. Es ist schier unmöglich, sich nie schlecht zu fühlen.

Aber wir können lernen, mit Kummer und Leid auf eine andere, gesündere Art und Weise umzugehen. Anstatt problematischen Gefühlen mit erbittertem Widerstand zu begegnen, können wir unseren Schmerz anschauen, beobachten, und mit Freundlichkeit und Verständnis darauf reagieren. Das ist Selbstmitgefühl: Wenn wir uns so um uns selbst kümmern, wie wir es bei einem geliebten Menschen tun würden. Wenn Sie in Zeiten der Trauer oder Einsamkeit normalerweise auf sich herumhacken, wenn Sie sich vor der Welt verstecken, weil Sie einen Fehler gemacht haben, oder wenn Sie sich das Hirn darüber zermartern, wie Sie den Fehler von vornherein hätten vermeiden können, dann ist Ihnen die Vorstellung, sich selbst Mitgefühl und Liebe entgegenzubringen, wahrscheinlich völlig fremd. Aber warum sollten Sie sich die Zärtlichkeit und Wärme vorenthalten, die Sie anderen leidenden Menschen bereitwillig schenken?

Wenn wir gegen emotionalen Schmerz ankämpfen, bleiben wir darin gefangen; er wird zur Falle. Dann werden schwierige Gefühle destruktiv und zerstören Körper, Geist und Seele. Die Gefühle erstarren – frieren sozusagen ein – und wir erstarren mit ihnen. Das Glück, das wir uns in Beziehungen wünschen, scheint vor uns zu fliehen; Erfüllung in der Arbeit wird zu einem unerreichbaren Ideal. Wir schleppen uns durch den Tag und hadern mit unseren körperlichen Schmerzen und Beschwerden. Normalerweise ist uns gar nicht bewusst, wie viele dieser schmerzhaften Prüfungen durch unsere Einstellung zu und unseren Umgang mit den unvermeidlichen Unannehmlichkeiten des Lebens verursacht werden.

Doch alles ändert sich wie von selbst, wenn wir uns unserem emotionalen Schmerz mit ungewohntem Mitgefühl öffnen. Anstatt uns selbst anzuklagen, zu kritisieren und zu versuchen, uns in Ordnung zu bringen (oder andere oder die ganze Welt), wenn etwas schiefgeht und wir uns schlecht fühlen, könnten wir auch anfangen, uns selbst anzunehmen. „Zuallererst Mitgefühl“! Diese einfache Kehrtwende kann Ihr Leben radikal verändern.

Stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat Sie gerade kritisiert, weil Sie Ihre Tochter angeschrien haben. Das verletzt Sie und führt zu einer Auseinandersetzung. Vielleicht haben Sie sich missverstanden, missachtet, ungeliebt oder nicht liebenswert gefühlt? Vielleicht haben Sie nicht die richtigen Worte gefunden, um zu beschreiben, wie Sie sich fühlten, aber wahrscheinlicher ist, dass Ihr Partner zu wütend oder ablehnend reagierte, um wirklich zu hören, was Sie zu sagen hatten. Stellen Sie sich nun vor, Sie hätten einmal tief durchgeatmet und vor dem Streit zu sich selbst gesagt: ‚Ich will unbedingt eine gute Mutter (ein guter Vater) sein. Es tut mir so weh, wenn ich mein Kind anschreie. Ich liebe meine Tochter über alles, aber manchmal verliere ich einfach die Nerven. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich hoffe, dass ich lernen kann, mir meine Fehler zu verzeihen und dass wir einen Weg finden, in Frieden miteinander zu leben.‘ Spüren Sie den Unterschied?

So ein Augenblick, in dem Sie mitfühlend und liebevoll mit sich selbst umgehen, kann Ihren ganzen Tag verändern und viele solcher Momente können Ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben. Die Befreiung aus der Falle destruktiver Gedanken und Gefühle durch Selbstmitgefühl kann Ihre Selbstachtung von innen heraus stärken, Depressionen und Ängste vertreiben und Ihnen sogar helfen, Ihre Diät durchzuhalten.

Und nicht nur Sie profitieren davon. Das Mitgefühl und die Liebe, die Sie sich selbst entgegenbringen, sind das Fundament der Liebe und des Mitgefühls für andere. Der Dalai Lama hat einmal gesagt: „(Mitgefühl) ist ein Zustand, in dem wir wünschen, das Objekt unseres Mitgefühls möge frei von Leiden sein … zuerst du selbst, und dann dehnt sich dieser Wunsch auf andere aus.“ Es ist doch logisch, dass wir keine Empathie für andere haben können, wenn wir die gleichen Gefühle – Verzweiflung, Angst, Versagen, Scham – bei uns selbst nicht tolerieren. Und wie können wir anderen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken, wenn wir völlig von unseren eigenen inneren Kämpfen in Anspruch genommen sind? Erst wenn wir mit unseren eigenen Problemen wieder umgehen können, können wir unsere liebevolle Zuwendung auf andere ausdehnen, was wiederum zur Verbesserung unserer Beziehungen und zur allgemeinen Lebenszufriedenheit beiträgt.

Mitfühlend und liebevoll mit sich selbst umzugehen ist eigentlich die natürlichste Sache der Welt. Denken Sie nur einmal einen Moment darüber nach. Wenn Sie sich in den Finger schneiden, werden Sie die Wunde säubern und verbinden und so die Heilung unterstützen. Das ist natürliches Selbstmitgefühl. Aber wo bleibt dieses Selbstmitgefühl, wenn unser emotionales Wohlergehen auf dem Spiel steht? Strategien, die uns helfen, den Angriff eines Säbelzahntigers zu überleben, scheinen auf der emotionalen Ebene nicht zu funktionieren. Unangenehme Gefühle bekämpfen wir instinktiv, so als handele es sich um äußere Feinde, aber dieser innere Kampf macht alles nur noch schlimmer. Wenn Sie sich Ihrer Angst widersetzen, steigert sie sich vielleicht zu einer voll ausgeprägten Panikattacke. Wenn Sie Ihre Trauer unterdrücken, entwickeln Sie vielleicht eine chronische Depression. Der verzweifelte Kampf ums Einschlafen kann Sie die ganze Nacht wach halten.

Wenn wir in unserem Schmerz gefangen sind, ziehen wir auch gegen uns selbst in den Krieg. Der Körper schützt sich vor Gefahren durch Kampf, Flucht oder Erstarrung (Einfrieren), aber wenn wir emotional herausgefordert werden, bilden diese Reaktionen eine unheilige Dreifaltigkeit der Selbstkritik, Selbstisolation und Selbstbezogenheit. Eine heilsame Alternative besteht darin, eine neue Beziehung zu sich selbst aufzubauen, die die Psychologin Kristin Neff als „Freundlichkeit gegenüber sich selbst, ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Rest der Menschheit und gelassenes Gewahrsein“ beschreibt. Das ist Selbstmitgefühl.

In diesem Buch werden Sie erfahren, wie Sie sich dieses Mitgefühl entgegenbringen können, wenn Sie es am dringendsten brauchen: Wenn Sie vor Scham fast vergehen, wenn Sie vor Wut oder Angst die Fäuste ballen oder sich zu verletzlich fühlen, um ein weiteres Familientreffen zu überstehen. Ihr Mitgefühl und Erbarmen mit sich selbst schenkt Ihnen all die Liebe, die Sie brauchen, indem es Ihren natürlichen Wunsch unterstützt, glücklich und frei von Leiden zu sein.

In der buddhistischen Psychologie geht es im Grunde darum, wie man mit emotionalem Schmerz umgehen kann, ohne ihn noch zu vergrößern. Die Ideen und Gedanken, die den Inhalt dieses Buches ausmachen, stützen sich auf diese Tradition, insbesondere auf jene Konzepte und Methoden, die durch die moderne Naturwissenschaft bestätigt wurden. Was Sie hier lesen, ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen – uralte Einsichten und Erkenntnisse in moderne psychologische Terminologie verpackt. Sie müssen an nichts glauben, um von diesen Methoden zu profitieren: Sie können Christ, Jude, Moslem, Naturwissenschaftler oder Skeptiker sein. Es ist jedoch bestimmt kein Fehler, aufgeschlossen, experimentierfreudig und geistig flexibel an die Sache heranzugehen.

Die klinische Psychologie hat die Meditation in den 1970er Jahren entdeckt, und inzwischen gibt es wohl kaum eine psychotherapeutische Methode, die gründlicher untersucht wurde. In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Forschung besonders auf Achtsamkeit oder das „akzeptierende Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung“ konzentriert. Achtsamkeit wird als wesentlicher Faktor einer wirksamen Psychotherapie und emotionaler Heilung im Allgemeinen betrachtet. Wenn die Therapie gut läuft, entwickeln die Patienten (oder Klienten) eine akzeptierende Haltung gegenüber allem, was Sie im Therapieraum erleben – Angst, Wut, Traurigkeit, Freude, Erleichterung, Langeweile, Liebe – und nehmen diese wohlwollende Einstellung in ihren Alltag mit. Achtsamkeit hat den Vorteil, dass man sie zu Hause als Meditation üben kann.

Achtsamkeit bezieht sich auf die Erfahrung eines Menschen – eine Empfindung, einen Gedanken, ein Gefühl. Aber was können wir tun, wenn der Erfahrende von der Emotion, beispielsweise Scham oder Selbstzweifel, überwältigt wird? Wenn das geschieht, fühlen wir uns nicht nur schlecht, sondern haben das Gefühl, dass wir schlecht sind. Das kann uns so erschüttern, dass wir kaum noch in der Lage sind, irgendetwas aufmerksam wahrzunehmen. Was können wir tun, wenn wir mitten in der Nacht allein sind, uns unruhig im Bett hin und her wälzen, das Schlafmittel nicht wirkt und die nächste Therapiestunde erst in einer Woche stattfindet? Dann brauchen wir vor allem einen guten, warmherzigen, mitfühlenden Freund. Und wenn keiner unmittelbar erreichbar ist, können wir uns immer noch selbst Freundlichkeit und Güte entgegenbringen – Selbstmitgefühl.

Ich habe mich der Selbstakzeptanz und dem Selbstmitgefühl aus zwei Richtungen genähert: der beruflichen und der persönlichen. Seit dreißig Jahren arbeite ich als Psychotherapeut mit den unterschiedlichsten Patienten – von den besorgten, aber eigentlich Gesunden bis hin zu denjenigen, die von ihrer Angst, ihrer Depression oder ihrem Trauma überwältigt werden. Außerdem habe ich in einer städtischen Klinik mit Menschen gearbeitet, die an chronischen und unheilbaren Krankheiten litten. So konnte ich im Laufe der Jahre die Macht der Liebe und des Mitgefühls hautnah erleben. Und ich beobachtete, wie sie das Herz gleich einer Blüte öffnen und verborgenes Leid ans Licht bringen und heilen. Doch nach der Therapie haben manche Patienten das Gefühl, ins Leere zu laufen, die Stimme des Therapeuten nur noch als fernes Echo im Ohr. Ich fragte mich also: „Was können die Menschen zwischen den Therapiesitzungen tun, um sich weniger verletzlich und allein zu fühlen?“, oder: „Gibt es eine Möglichkeit, die Therapieerfahrung schneller verfügbar zu machen – sozusagen als ‚Therapie zum Mitnehmen‘?“ Selbstmitgefühl scheint dieses Versprechen für viele Menschen zu erfüllen.

Ich selbst wuchs bei einer zutiefst christlichen Mutter auf, und einem Vater, der als junger Mann neun Jahre in Indien verbracht hatte – die meisten davon während des Zweiten Weltkriegs in einem britischen Internierungslager wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Dort begegnete er einem Bergsteiger namens Heinrich Harrer, der später aus dem Lager floh und sich über die Berge nach Tibet durchschlug, wo er der Lehrer des 14. Dalai Lama wurde. Meine Mutter hatte mir früher oft mythologische Erzählungen aus Indien vorgelesen, und so erschien es mir ganz natürlich, nach meinem College-Abschluss dorthin zu fahren. Von 1976 bis 1977 reiste ich also kreuz und quer durch Indien, besuchte Heilige, Weise und Schamanen und erlernte buddhistische Meditation in einer Höhle in Sri Lanka. Dort wurde mein lebenslanges Interesse an der Meditation geweckt, und ich kehrte mindestens ein Dutzend Mal nach Indien zurück.

Gegenwärtig praktiziere ich eine Form der Achtsamkeitsmeditation, wie sie in den von Sharon Salzberg, Joseph Goldstein und Jack Kornfield gegründeten amerikanischen Meditationszentren gelehrt wird. Das ganze Buch ist von diesen profunden, differenzierten Lehren inspiriert, und jede ungerechtfertigte Abweichung davon habe ich ganz allein zu verantworten. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit gegenüber meinen Kollegen am Institute for Meditation and Psychotherapy, mit denen ich mich seit 25 Jahren einmal im Monat zu einer Gesprächsrunde treffe, sowie gegenüber Jon Kabat-Zinn, der die buddhistische Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls in das moderne Gesundheitswesen einführte. Meine anderen Lehrer sind meine Patienten, die mir großzügig erlaubten, ihre Lebensgeschichten zu erzählen, um die folgenden Prinzipien und Methoden zu veranschaulichen. Sie taten das aus Liebe zur Sache. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich ihre Namen und andere Einzelheiten geändert, und einige klinische Fallbeispiele sind aus den Daten mehrer Einzelpersonen zusammengesetzt.

Das Buch besteht aus drei Teilen, wobei die einzelnen Kapitel aufeinander aufbauen. Teil I, „Selbstmitgefühl entdecken“, hilft Ihnen, die Fähigkeit der Achtsamkeit zu entwickeln und beschreibt genau, was mit Selbstmitgefühl gemeint ist (und was nicht). In Teil II, „Die Praxis der Liebenden Güte“, finden Sie eine ausführliche Anleitung für eine bestimmte Übung in Selbstmitgefühl – die Mettâ-Meditation –, die die Grundlage einer mitfühlenden Lebensweise bilden kann. In Teil III, „Selbstmitgefühl als individueller Weg“, finden Sie Tipps, wie man die Praxis an die persönlichen Bedürfnisse und Lebensumstände anpassen und größtmöglichen Nutzen daraus ziehen kann. Die Anhänge enthalten zusätzliche Übungen zum Selbstmitgefühl sowie Literaturempfehlungen.

Dieses Buch erfordert keine harte Arbeit. Die größte Anstrengung liegt eigentlich schon hinter Ihnen: Der Kampf und Widerstand gegen schwierige Gefühle, für die Sie sich selbst die Schuld gaben. Tatsächlich werden Sie lernen, weniger zu tun. So gesehen ist es ein „Anti-Ratgeber“. Anstatt von der Vorstellung auszugehen, dass etwas in Ihnen kaputt ist und „repariert“ werden muss, möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie mit emotionalem Schmerz auf eine ganz neue, mitfühlendere und liebevollere Weise umgehen können. Ich empfehle Ihnen, die Übungen 30 Tage lang durchzuführen und zu beobachten, was sich tut. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie sich leichter und glücklicher fühlen, aber das ist dann nur eine Begleiterscheinung Ihrer neuen Gewohnheit, sich annehmen, wie Sie sind.

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl

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