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KAPITEL 4

Mitgefühl in der buddhistischen Psychologie

JOHN MAKRANSKY

Daher können wir alles andere ablehnen: Religion, Ideologien, alle überlieferte Weisheit. Aber der Notwendigkeit von Liebe und Mitgefühl können wir nicht entkommen.

TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (2010)

In der buddhistischen Psychologie ist Mitgefühl eine Form von Empathie. Wir spüren das Leiden anderer wie unser eigenes und wünschen ihnen ganz von selbst und natürlich, dass sie frei von Leiden sein mögen. Jemand, der Mitgefühl hat, ist, anders als jemand, der grausam oder von Groll oder Ärger erfüllt ist, viel mehr auf unsere eigentliche Situation als Menschen eingestellt. In dem Sinn ist Mitgefühl von einer Weisheit bestimmt, die unsere Grundsituation versteht und damit die inneren Ursachen unseres Leidens und unser Potential für Freiheit und Güte. Aus einer buddhistischen Perspektive bildet Mitgefühl in Verbindung mit Weisheit die Grundlage emotionaler Heilung und innerer Freiheit.

Mitgefühl wird auch als eine geistige Qualität charakterisiert, die, wenn sie kultiviert und gestärkt wird, allen positiven inneren Zuständen Kraft verleiht, wenn wir zu unserem ganzen menschlichen Potential erwachen. Nach der buddhistischen Psychologie entfalten sich die Muster unserer Erfahrung auf der Grundlage unserer Gewohnheiten von Absicht und Reaktion. „Alle Phänomene der Erfahrung haben den Geist als ihren Vorläufer, den Geist als ihren Herrscher, und sie sind vom Geist gemacht“ (Dhammapada, Kapitel 1, Verse 1, 2). So unterstützt ein innerer Zustand von Liebe und Mitgefühl unser eigenes Glück und Wohlsein und hilft, dieses Potential in anderen zu verwirklichen, während Zustände, die von Grausamkeit, Bosheit oder Neid bestimmt sind, das Gegenteil bewirken. In den Systemen buddhistischer Meditation ist Mitgefühl auch eng mit Liebe, Mitfreude und Gleichmut als Grundlage für mächtige meditative Einsicht verbunden; diese bilden zusammen die „vier unermesslichen inneren Haltungen“ oder „die vier Unermesslichen“. Alles in allem wird Mitgefühl als eine Kraft zur Reinigung des Geistes von Verwirrung, zur inneren Heilung und zum Schutz von einem selbst und von anderen gesehen.

Mitgefühl wird seit Tausenden von Jahren in den drei Haupttraditionen des Buddhismus gelehrt und praktiziert: im Theravāda, im Mahāyāna und im Vajrayāna. Insofern diese Ansätze keinen Glauben an eine höhere Macht verlangen, um ihre positiven Wirkungen zu erzielen, könnte man sagen, dass sie zur Erleichterung von Leiden eher der Psychologie und Philosophie als der Religion verwandt sind. Da die klinische Forschung und Psychotherapeuten beginnen, den Begriff des Mitgefühls systematisch zu erforschen, kann es von Nutzen sein, die Nuancen im Verständnis anzuschauen, die sich in diesen Traditionen in verschiedenen Teilen der Welt herausgebildet haben.

Mitgefühl im frühen Buddhismus

und in der Tradition des Theravāda

Weil nach der buddhistischen Psychologie zu Mitgefühl der Wunsch gehört, dass Lebewesen frei von Leiden sind, ist das buddhistische Verständnis von „Leiden“ (auf Pāli dukkha) für ihr Verständnis von Mitgefühl von Bedeutung. Die Traditionen des Theravāda in Südostasien, die die frühen Lehren des Buddha systematisiert haben, beschreiben drei Ebenen von Leiden: (1) offensichtliches Leiden, (2) das Leiden der Vergänglichkeit und (3) das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Harvey, 1990; Buddhaghosa, 1975). Zu offensichtlichem Leiden gehören alle physischen und mentalen Formen von Elend, die wir normalerweise mit dem Wort Leiden verbinden: das Leiden an Krankheit und physischen Verletzungen, das Leiden, das mit Alter und Sterben verbunden ist, und Kummer, innere Not und Qual. Das Leiden der Vergänglichkeit geht auf den vergeblichen Versuch zurück, angenehme Dinge zu bekommen und sie zu besitzen und festzuhalten, als könnten sie eine stabile Quelle von Sicherheit und Wohlbefinden sein. Die vergänglichen Dinge, an die unser Geist um des Glückes und der Sicherheit willen hängt, werden zu etwas, was zu Leiden führt, da wir sie im Laufe des Lebens immer wieder verlieren und unvermeidlich auf den Tod zugehen.

Das Leiden selbstbezogener Konditionierung liegt den ersten zwei Formen von Leiden zugrunde. Diese Form von Leiden gehört zu dem unterbewussten Versuch des Geistes, aus dem vergänglichen Strom seiner Erfahrung den Eindruck eines substanziellen und unveränderlichen Gefühls eines getrennten Selbst zu erzeugen, das von einer stabilen Welt umgeben ist. Der permanente Versuch des Geistes, einen verdinglichten, unveränderlichen Eindruck von sich selbst und der Welt herzustellen, hat seinerseits zahlreiche von Angst geprägte Denk- und Reaktionsmuster zur Folge: Klammern an alles, was ein fixiertes, unveränderliches Selbst und seine Welt zu bestätigen scheint, Angst vor oder Hassen von allem, was es zu bedrohen scheint (siehe Kapitel 9 und 13). Das unkontrollierbare Schwanken und Pendeln durch solche Gefühle als Reaktion auf die mentalen Konstrukte von uns selbst und anderen ist das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Makransky, 2010).

Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung sind den meisten Menschen nicht bewusst, aber der Buddha durchschaute sie während seines Erwachens (bodhi). Das Mitgefühl des Buddha, wenn er Menschen wünschte, frei von Leiden zu sein, richtete sich auf alle drei Ebenen, deren zwei letztere auch da sind, wenn offensichtliches Leiden fehlt. Aus diesem Grund galt das Mitgefühl des Buddha allen Wesen in gleicher Weise. Es ist dieses unparteiliche, unbedingte und allumfassende Mitgefühl, das der Buddha seinen Anhängern vermittelte und an sie weitergab.

Achtsamkeit

Auf dem Weg zum Erwachen, wie der Buddha ihn gelehrt hat, hat Achtsamkeit eine Schlüsselfunktion. Kultivieren von Achtsamkeit bedeutet, waches Bewusstsein der gegenwärtigen Erfahrung, ohne zu werten, lernen und üben (siehe Kapitel 2). Wie schon bemerkt entstehen die Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung aufgrund der unbewussten Gewohnheiten der Verdinglichung – weil der Geist versucht, ein Gefühl der Permanenz von einem selbst und der Welt herzustellen und festzuhalten, das der Geist auf seine vergängliche Erfahrung projiziert. Wenn die Tendenzen, an Illusionen von Permanenz festzuhalten, von wacher Bewusstheit erhellt werden, werden wir uns neu bewusst, wie viel Angst und Unsicherheit unser Klammern erzeugt hat. Wir können dann erkennen, wie diese unterbewussten Schichten von Leid in allen anderen Menschen wirksam sind. So entstehen immer stärker Sympathie und Mitgefühl für einen selbst und für andere, während wir Einsicht gewinnen, dass das Selbst vergänglich und seinem Wesen nach ein Konstrukt ist. Sympathie und Mitgefühl in Beziehung zu uns selbst prägen die sanfte, annehmende Qualität achtsamer Aufmerksamkeit und ermöglichen unserem Geist, sich weiterer Einsicht zu öffnen. Und dies hilft dann wiederum, ein zunehmend mitfühlendes und differenziertes Bewusstsein von anderen in ihrem bewussten und unterbewussten Leiden zu verwirklichen und zu stärken.

Die innersten Ursachen von Leiden, wie es von dem Buddha diagnostiziert wurde – die Illusion eines verdinglichten fixierten, unveränderlichen Selbst und die auf Täuschung beruhenden Reaktionen von Anhaften und Ablehnung, die sich um es aufbauen –, werden von einer sich vertiefenden Einsicht oder Weisheit zunehmend aufgeweicht und geschwächt. Diese Einsicht, die das Konstrukt der Getrenntheit des Geistes durchschneidet, ermöglicht uns, andere als fundamental uns gleich zu erleben und wahrzunehmen, und stärkt dadurch unsere Sympathie für sie (Fulton, 2009). Wenn jemand durch so eine Einsicht von den inneren Ursachen von Leiden ganz befreit ist, so wird gelehrt, wird Nirvāna erlangt – eine zutiefst innere Freiheit von den Leiden, die mit dem Festhalten an einem Selbst verbunden sind. Wenn sich diese Einsicht in ihrer Verwirklichung von Nirvāna zunehmend vertieft, erweitert sie sich zu der Erkenntnis, dass das darunter liegende Potential für die innere Freiheit auch das ist, was man selbst und andere, was alle Menschen gemeinsam haben. Das aus dieser befreienden Einsicht resultierende Mitgefühl wird daher von dem vielfältigen Leiden, die es in Lebewesen spürt, nicht entmutigt oder bedrückt, sondern bleibt sich vielmehr ihres Potentials für tiefe Freiheit von Leiden bewusst. So ein Mitgefühl hält nicht nur andere in ihrem dahinterliegenden Potential und stützt sie darin, sondern stellt auch Aspekte ihres Denkens und Handelns infrage, die ihr Potential verbergen (Aronson, 1986; Makransky, 2010).

Der Achtfache pfad

Mitgefühl wird deshalb implizit mit dem ganzen Prozess des Erwachens assoziiert, der sich dadurch entfaltet, das sich Achtsamkeit und Einsicht vertiefen, die im Achtfachen Pfad des Buddha als Rechte Achtsamkeit und Rechtes Verständnis bezeichnet werden. Mitgefühl wird also implizit mit den anderen sechs Faktoren in Beziehung gebracht, die in Gestalt des Achtfachen Pfades kultiviert werden: Rechte Gesinnung, Rechte Rede, Rechtes Handeln, Rechter Lebensunterhalt, Rechte Anstrengung und Rechte Konzentration. Rechte Gesinnung, geprägt von der Einsicht in Selbstlosigkeit, ist ein Denken, das von Habenwollen, Grausamkeit und bösem Willen weg zu Mitgefühl und Liebe gelenkt wird (Harvey, 2000). Dieses Denken ist die Kraft der Absicht, die Rechte Rede, Rechtes Handeln und Rechten Lebensunterhalt motiviert (Harvey, 2000; Rahula, 1982). Diese prägen wiederum die Art von Anstrengung, die man braucht, um diesen Pfad ganz zu gehen – der mitfühlende sanfte, Anteil nehmende Fokus auf disziplinierter Energie in Geist und Körper, die uns hilft, gesunde innere Zustände zu nähren und aufrechtzuerhalten. Rechte Konzentration ist die Kultivierung tiefer Ruhe durch fokussierte Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand der Meditation. Um diese Konzentration zu erreichen, lehrte der Buddha, neben anderen Gegenständen der Meditation, die Meditationen über Liebe bzw. Güte (mettā), Mitgefühl (karunā), Mitfreude (muditā) und Gleichmut (upekkhā) (Aronson, 1986, Anm. 6). Wenn diese inneren Zustände unparteilich und allumfassend in meditativer Konzentration kultiviert werden, werden sie zu den vier unermesslichen inneren Haltungen, von denen es heißt, dass sie dem Geist gewaltige Macht verleihen, Hindernisse zu überwinden, in Glück und Unbeschwertheit zu leben, den eigenen Fortschritt in allen Aspekten des Pfades zu unterstützen und in anderen das Potential für ähnliche innere Zustände zu erwecken (Aronson, 1986; Harvey, 2000).

Die vier unermesslichen inneren Haltungen

Vor dem Hintergrund solcher positiven Wirkungen hat der Theravāda-Buddhismus die Kultivierung der vier unermesslichen inneren Haltungen betont, die in Buddhaghosas klassischem Text Der Weg zur Reinheit (Buddhaghosa, 1975) systematisch erklärt wird. Hier ist Liebe (oder Liebende Güte) der offenherzige Wunsch, dass Lebewesen Glück und Wohlbefinden erleben. Er ist nicht zu verwechseln mit selbstbezogenem Anhaften oder mit dem Wunsch, jemanden besitzen zu wollen. Liebe unterläuft Tendenzen zu bösem Willen und Angst und wird deshalb als eine schützende Kraft für einen selbst und als ein schützender Einfluss auf andere charakterisiert.

Liebe

In der Kultivierung von Liebe durch Meditation, die Buddhaghosa beschreibt, wird der Wunsch für Glück und Wohlbefinden zuerst auf uns selbst gerichtet, da tiefe Selbstakzeptanz Bedingung dafür ist, dass man andere annehmen kann, die uns in ihrem Leiden und ihrem Wunsch, glücklich zu sein, gleich sind. Als Erstes rufen wir in uns positive Wünsche und Gefühle der Liebe und Akzeptanz für uns selbst wach, indem wir Sätze wie diese wiederholen: „Möge ich Wohlbefinden und Glück haben; möge ich frei von Feindschaft und Gefahr sein“ (siehe Kapitel 3). Wenn der Wunsch und das Gefühl der Liebe für einen selbst etabliert sind, dann ist es nur ganz natürlich, denselben Wunsch auch auf andere auszuweiten, wenn wir erkennen, dass andere auch glücklich sein möchten. Wir erweitern dann den Wunsch auf jemanden, der für uns sehr wichtig ist, wie ein besonders inspirierender Lehrer oder ein Mentor. Der Wunsch und das Gefühl der Liebe werden dann auf einen nahen Freund ausgedehnt. Wenn die Kraft der Liebe für solche lieben Wesen sich festigt, kann man sie auf Wesen richten, die uns weniger nahestehen: zuerst zu einer neutralen Person (zu jemandem, den man bisher als einen Fremden betrachtet hat, und der jetzt zum Ziel desselben Wunsches und des Gefühls der Liebe wird), dann zu jemandem, der sich uns gegenüber feindselig gezeigt hat. Zunehmend erkennen wir an, dass alle Lebewesen wie wir sind – würdige Empfänger von Liebe, egal, wie sie uns im Leben begegnen –, und weiten den Wunsch der Liebe fortschreitend auf sie aus, bis er buchstäblich alle Lebewesen im Universum einschließt. Dieser Fokus bringt unseren Geist in einen Zustand tiefer Versenkung, der mit einem Gefühl von etwas unermesslich Umfassendem, von Stabilität, Ruhe und Freude verbunden ist (Aronson, 1980; Harvey, 2000; Buddhaghosa, 1975; Salzberg, 2003). Diese Konzentration kann dann zu weiteren Ebenen meditativer Versenkung führen. Buddhaghosa war der Erste, der diese Praxis genau formuliert und systematisiert hat, die in Kapitel 3 (neben einer genauen Anleitung) als „Meditation Liebender Güte“ beschrieben wird.

Mitgefühl

Auf der Grundlage dieser Kultivierung von Liebe sind wir so weit, dass wir Mitgefühl, den praktischen Wunsch, Lebewesen mögen frei von Leiden sein, kultivieren können. Als eine geistige Kraft unterläuft Mitgefühl Tendenzen zu Grausamkeit. Man darf es nicht mit Traurigkeit über Leiden verwechseln, da das, was man Lebewesen aus Mitgefühl wünscht – innere Freiheit von Leiden –, als eine reale Möglichkeit innerhalb des Weges zum Erwachen gesehen wird. Wenn durch die Praxis der Liebe alle Wesen als liebenswert gesehen werden, und wenn man sich das Leiden, das sie durchmachen, bewusst macht, entsteht Mitgefühl ganz natürlich und von selbst. Weil man mit Liebe für sich selbst begonnen hat, geht man jetzt auch von mitfühlender Selbstakzeptanz aus. Buddhaghosa leitet uns an, uns zuerst auf jemanden zu konzentrieren, der intensives Leid erlebt, weil dieses Bild leicht und stark unseren mitfühlenden Wunsch hervorruft, dieser Mensch möge frei von seinem Leiden sein. Dann wenden wir uns innerlich mit demselben empathischen Gefühl und Wunsch von Mitgefühl einem Freund zu, dann einer neutralen Person und schließlich jemandem, der sich feindselig uns gegenüber verhalten hat. Zuletzt wird der Wunsch des Mitgefühls, wie bei der unermesslichen Liebe, auf alle Lebewesen ausgeweitet, und wird damit allumfassend und stabil und ist von Freude begleitet, während er sich zu zunehmend subtilen Ebenen meditativer Versenkung vertieft. Wir können Mitgefühl auf alle Lebewesen richten, auch auf jene, die gegenwärtig nicht sichtbar leiden, indem wir uns an ihr immer anwesendes Leiden der Vergänglichkeit und ihr Leiden aufgrund ihrer auf ein Selbst bezogenen Konditionierung erinnern (Harvey, 2000; Buddhaghosa, 1975).

Mitfreude

Liebe und Mitgefühl für Lebewesen führen von selbst dazu, dass wir uns an ihrem Glück freuen, deshalb wenden wir uns als Nächstes dieser Mitfreude zu. Die Qualität der Mitfreude, bei der man sich still am Glück anderer freut (statt sich übermäßig zu begeistern oder zu idealisieren), unterläuft Tendenzen zu Eifersucht und Abneigung, wenn es anderen vielleicht besser geht als uns. In der Praxis reflektieren wir erst über das Glück und den Erfolg eines nahen Freundes und freuen uns an seinem Glück mit Gedanken wie diesen: „Wie wunderbar! Wie schön!“ Dann wenden wir uns dem Glück eines neutralen Menschen zu und dann jemandem, der sich feindselig verhalten hat, schließlich allen Wesen überall.

Gleichmut

Gleichmut ist eine friedliche Ruhe angesichts der Höhen und Tiefen, denen alle Menschen ausgesetzt sind, ein Anerkennen, dass ihr Potential für Glück und Leiden von ihren Mustern von Absichten und Reaktionen auf Erfahrungen konditioniert sind (Harvey, 2000). Zu Gleichmut gehört auch die Kraft der Unparteilichkeit, die spürt, dass alle Wesen in ihrem Leiden und in ihrem Wunsch nach Freiheit von Not und in ihrem Potential, diese Freiheit zu verwirklichen, im Wesentlichen gleich sind. Diese Qualität unterstützt daher die unparteiliche Ausweitung von Liebe, Mitgefühl und Mitfreude auf alle Wesen. Obwohl Gleichmut aller Parteilichkeit den Boden entzieht, darf man ihn nicht mit Apathie verwechseln. Beim Lernen und Einüben von Gleichmut fokussiert man erst auf eine neutrale Person, dann auf jemanden, der uns nahesteht oder einen Freund, der uns lieb ist, dann auf eine feindliche Person und schließlich auf alle Wesen überall. Dieser unermessliche Gleichmut, sagt Buddhaghosa, wird auf der höchsten Ebene der meditativen Versenkung erreicht, und beruht auf den drei vorangegangenen Meditationen (Buddhaghosa, 1975).

Das Mischen von Gleichmut mit den anderen „unermesslichen inneren Haltungen“ hilft, ihre Reinheit zu erhalten. Zum Beispiel schützt Gleichmut die Liebe davor, zu einem selbstsüchtigen Klammern an ein Objekt der Zuneigung herabzusinken, und er schützt Mitgefühl davor, zu einem Gefühl von Überlegenheit oder zu Mitleid zu werden, und schließlich Mitfreude davor, sich zu einer ungeerdeten abgehobenen Begeisterung oder Idealisierung zu entwickeln. Wie in Kapitel 3 erwähnt ist Gleichmut als ein innerer Zustand auch mit Weisheit verbunden.

Die vier unermesslichen inneren Haltungen von Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut, die auf diese Weise kultiviert werden, werden oft auch als die „vier himmlischen Verweilzustände“ bezeichnet, als innere Zustände, die mit denen eines Gottes verwandt sind, wie sie in den alten indischen Erzählungen beschrieben werden. So wird nach dem frühen buddhistischen Verständnis und im Verständnis des Theravāda Mitgefühl am umfassendsten verwirklicht, wenn es in enger Verbindung mit den verwandten inneren Haltungen von Liebe, Mitfreude und Gleichmut kultiviert wird. Zusammen bilden sie eine uralte und hochgesinnte „positive Psychologie“ – das Glück der Götter.

Mitgefühl im Mahāyāna-Buddhismus

Der oben erwähnte Weg des Theravāda geht auf Praktiken erfahrener und vollendeter Schüler des Buddha zurück, die als Arhats bezeichnet werden. Das sind die, von denen man sagt, dass sie Nirvāna, die innere Befreiung von Leiden, erreicht haben. Obwohl sich wie oben erwähnt Mitgefühl im Theravāda-Buddhismus implizit auf jeden Teil des Weges bezieht, wurde ihm nicht dieselbe zentrale Bedeutung gegeben wie der Weisheit, der Einsicht, die ausdrücklich von Leiden befreit (siehe Kapitel 9). Weil Einsicht oder Weisheit die vergängliche, selbstlose Natur von Erfahrung anerkennt, befreit sie allein den Geist von den Tendenzen, zu verdinglichen und an der konstruierten Empfindung eines Selbst festzuhalten, und befreit uns so von den tiefsten Ursachen von Leiden. Daher wird eher Einsicht als Mitgefühl an sich als das befreiende Kernprinzip des Theravāda-Weges der Arahats hoch gehalten (Aronson, 1980).

In der Entwicklung des indischen Buddhismus tauchten vom 1. Jh. v. Chr. an andere Bewegungen auf, die sich unter dem Begriff Mahāyāna, „Großes Fahrzeug“, zusammenfanden. Die Traditionen des Mahāyāna rückten Mitgefühl mehr in das Zentrum, weil sie stärkere Betonung auf diesen Aspekt des Erwachens legten, der den Buddha von Arahats unterschied. Die Verwirklichung des Buddha verlieh ihm die Macht, die Einsicht seines Erwachens auf eine Weise geschickt zu vermitteln, die zahllosen Menschen über viele Generationen hinweg von Nutzen war. Die Kraft des Buddha, durch seine Präsenz und Rede eine gute Wirkung auf andere auszuüben, die tatsächlich die Wirkung anderer Arahats übertraf, wurde als ein Hinweis verstanden, dass auch die Weisheit des Buddha die der anderen übertraf. Denn seine Weisheit befreite nicht nur ihn selbst von den Wurzelursachen des Leidens, sondern befähigte ihn auch, andere auf dieselbe essenzielle Freiheit hinzuweisen. Die vorausgehende lange Übung des Buddha in unparteilichem Mitgefühl wurde als das Mittel gesehen, durch das er seine Weisheit soweit vertieft hatte, dass er andere so tief kennen und so geschickt unterrichten konnte. Mitgefühl wurde daher in den Mahāyāna-Traditionen der Status zugesprochen, in der vollsten Form des Erwachens von Weisheit letztlich untrennbar zu sein (Harvey, 2000). Diejenigen, die sich dafür entscheiden, diesem besonderen Weg zum Erwachen zu folgen – die Untrennbarkeit von Weisheit und Mitgefühl um der Welt willen zu verwirklichen und zu verbreiten –, werden in dieser Tradition Bodhisattvas genannt.

Mitgefühl und Leere

Die Weisheit, die in den Traditionen des Mahāyāna gelehrt wird, öffnet uns für andere in mitfühlender Intimität nicht nur durch Einsicht in ihren Zustand, sondern durch Anerkennen der letztlich ungeteilten Natur alles dessen, was existiert. Nach den Lehren des Mahāyāna werden nicht nur die Phänomene als vergänglich und jenseits von Verdinglichung zu einem „Ich“ gesehen (wie im Theravāda), sondern bei näherer Untersuchung finden sich keine unabhängig existierenden Phänomene irgendeiner Art, weder vergängliche noch nicht vergängliche. So erscheint uns zum Beispiel ein Tisch aus Holz anfangs als eine an sich einzige Einheit, die für sich unabhängig zu existieren scheint, so als gäbe es keine Verbindung zu früheren Ursachen, Bedingungen oder Teilen und als hätte er nichts mit der konstruktiven Aktivität des beobachtenden Geistes zu tun. Bei näherer Untersuchung aber, so die Mahāyāna-Texte, ist kein auf diese Weise unabhängig existierender Tisch zu finden. Vielmehr kann der Tisch in unzählige Ursachen, Bedingungen und Bestandteile analysiert und zerlegt werden, die kognitiv durch die begriffliche Konstruktion des beobachtenden Geistes zu der Erscheinung eines getrennten, für sich und aus sich selbst existierenden „Tisches“ organisiert wird (siehe Kapitel 9).

Auf der Ebene der Erscheinungen bedeutet dies, dass der hölzerne Tisch nicht von all den Ursachen und Bedingungen getrennt werden kann, die zu seiner Existenz beitragen: zum Beispiel dem Tischler, den Bäumen, der Atmosphäre, dem Sonnenlicht, der Erde, dem Wasser, den Würmern in der Erde und den Insekten, von denen jedes in Abhängigkeit von weiteren zahllosen Ursachen und Bedingungen existiert, sodass letztlich jedes Ding mit allen Dingen in Beziehung steht und alle Lebewesen mit allen anderen Lebewesen. Auf der Ebene tiefer Einsicht gibt es nirgendwo etwas, was unabhängig und getrennt existierte – jedes scheinbar getrennte „Ding“ ist leer (Sanskrit: shūnya), insofern es keine Existenz für sich besitzt, die sie vor einer tiefen Untersuchung dieser Art zu besitzen schien.

Im Verständnis des Mahāyāna-Buddhismus schneidet die Einsicht, die so erkennt, dass Phänomene leer sind, weil sie in dem beschriebenen Sinn keine Existenz für sich besitzen, sogar noch tiefer in die inneren Ursachen von Leiden als die Einsicht in die Vergänglichkeit. Diese Einsicht dekonstruiert die Tendenz, zu verdinglichen und sich an Erfahrungen zu klammern, noch vollständiger, da die Weisheit der Leere kein unabhängiges Ding findet, dem auch nur Vergänglichkeit zugeschrieben werden kann. Wenn die leere Natur der Phänomene so erkannt wird, bedeutet das, sogar über verdinglichte, konzeptuelle Konstrukte eines getrennten „Beobachters“ und von „Beobachtetem“ hinauszugehen, um sich in eine nicht konzeptuelle, nicht duale Bewusstheit hinein zu entspannen, die die ganze Welt und ihre Wesen letztlich als ungeteilten Raum erkennt (Conze, 1973). Dies ist keine Form von Nihilismus, denn Dinge erscheinen weiterhin durch die Kraft ihrer in wechselseitiger Abhängigkeit erzeugten Modi der Existenz, und die Lebewesen leiden weiter durch Verdinglichen, Anklammern und Reagieren auf Dinge und aufeinander, als wären sie alle voneinander getrennt und würden aus sich und für sich existieren – als wären sie nicht leer. Vielmehr erkennt die nicht duale Weisheit alle Wesen als in dem leeren Grund aller voneinander abhängigen Dinge ungetrennt von einem selbst an (Sanskrit: dharmadhātu), was ein allumfassendes, unbedingtes Mitgefühl für alle Kreaturen unterstützt.

Die Leere der Welt so zu erkennen bedeutet, dass Nirvāna, die leere Essenz der Erfahrungen, von der Welt voneinander abhängiger, sich verändernder Erscheinungen auf dieselbe Weise ungetrennt ist, wie der Raum von allen Formen ungetrennt ist, die er enthält. Leere so erkennen und verwirklichen, ermöglicht daher die Freiheit, an der Welt teilzuhaben, ohne sich an sie zu klammern, und zwar mit unbedingtem Mitgefühl für alle, die deshalb leiden, weil sie sich an ihre eigenen konkretisierten Projektionen von sich selbst und anderen als selbstexistent klammern und auf sie reagieren. Wie ein Autor es ausdrückt: „[Dies] bedeutet zum Beispiel, dass ein Bodhisattva mit Übeltätern Schulter an Schulter sein kann, um sie zu erreichen und zum Guten zu ziehen, da er weiß, dass ihre schlechten Eigenschaften keine Realitäten an sich sind“ (Harvey, 1990, S. 125). So ein radikales Mitgefühl ist auch in der Psychotherapie von entscheidender Bedeutung – besonders bei Klienten, die anderen Schaden zufügen.

Nicht konzeptuelle Einsicht in die Leere (Sanskrit: shūnyatā) zu haben, jenseits aller Verdinglichung und allen Festhaltens (und daher jenseits der inneren Ursachen von Leiden), bedeutet, sehr großes Mitgefühl für alle Menschen zu empfinden, die weiter in den Ursachen von Leiden gefangen sind und die letztlich als ungetrennt von einem selbst empfunden werden. Diese tiefe Einsicht als die Basis für dieses allumfassende Mitgefühl wird die Vollkommenheit der Weisheit genannt (Sanskrit: prajñā-pāramitā).

Die sechs vollkommenheiten

In frühen Mahāyāna-Texten werden die vier unermesslichen inneren Haltungen von Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut in Übereinstimmung mit diesen Lehren neu formuliert. Tiefster Gleichmut wird jetzt mit der Vollkommenheit von Weisheit selbst identifiziert – Weisheit, die in sich stabil, ruhig und frei von Erwartungen oder Parteilichkeit ist, weil sie im unbedingten, ungeteilten, leeren naturgegebenen Wesen der Dinge jenseits von Unterscheidung gegründet ist (Conze, 1973, 1979). Liebe, Mitgefühl und Mitfreude, die von dieser Weisheit ausstrahlen – dessen bewusst, wie Wesen leiden, indem sie sich an ihre Erfahrungen klammern –, motivieren Handlungen, um ihre Bedürfnisse auf jeder Ebene zu befriedigen und sie letztlich zu vollkommener Freiheit zu weisen. Diese Aktivität wird als „großzügig, diszipliniert, geduldig, unermüdlich und tief geerdet“ beschrieben (Conze, 1973, S. 199). Diese fünf paradigmatischen Aspekte von Aktivität, die auf andere gerichtet ist, sind, zusammen mit der Vollkommenheit der Weisheit, die sie bestimmt, die sechs Vollkommenheiten, die den Bodhisattva-Weg des Erwachens in sich enthalten.

Weisheit und Mitgefühl zusammen kultivieren

Wie in Kapitel 1 erwähnt sehen die buddhistischen Traditionen Weisheit und Mitgefühl als verbunden – wie die zwei Flügel eines Vogels. Obwohl wir alle das Potential besitzen, die Vollkommenheit der Weisheit zu verwirklichen, machen unsere tief verwurzelten Tendenzen, uns an alle Dinge als an sich getrennt und für sich existierend zu klammern, es schwierig, über ein rein konzeptuelles Verständnis solcher Lehren zu einer nicht konzeptuellen, nicht dualen Erkenntnis ihrer Bedeutung hinauszugehen, die unsere Reaktionen auf andere tief transformieren kann. Da allumfassendes Mitgefühl die primäre Antwort nicht dualer Weisheit auf die Welt ist, bedeutet dies, dass man den Geist mit seinem Potential für diese Weisheit harmonisiert, wenn man sich in diesem Mitgefühl ausbildet, bevor man diese Weisheit direkt verwirklicht hat. Mit anderen Worten, wenn man universelles Mitgefühl übt, ist das eine Hilfe dabei, wenn man den Geist aus den engen Grenzen seines Klammerns an sich selbst und an einen Dualismus befreien möchte, indem man ihm den Mut und die Kraft verleiht, seine Bezugsrahmen in die grenzenlose Leere nicht konzeptueller Weisheit zu entlassen. Kultivieren von Weisheit grenzenloser, ungeteilter Leere stärkt seinerseits weiter ein analog grenzenloses, unparteiliches Mitgefühl (Harvey, 1990; Makransky, 2010). In den indischen Mahāyāna-Traditionen üben die Schüler ausgiebig Meditationen von Mitgefühl, um ihrem Geist die Kraft zu verleihen, nicht konzeptuelle Weisheit zu verwirklichen, und wenn nicht konzeptuelle Weisheit auftaucht, wird sie genutzt, um Mitgefühl zu stärken.

Die systematische Kultivierung von Mitgefühl und Weisheit wird in einem Text von Kamalashīla, einem indischen Mahāyāna-Lehrer des 8. Jahrhunderts, mit dem Titel Die Essenz der Meditation (Dalai Lama, 2005) erklärt. Er gibt Anleitungen dafür, wie man Mitgefühl für nahestehende, für neutrale und für feindliche Personen kultivieren kann, was letztlich in Mitgefühl für alle Lebewesen kulminiert. Auf jeder Stufe reflektieren wir über die Identität von uns selbst und anderen in den drei Ebenen von Leiden und ihrem Wunsch, von Leiden frei zu sein. Wir reflektieren auch über unsere Beziehung mit allen anderen durch wechselseitige Verbundenheit, und wir fangen an zu lernen, alle als Teil unserer eigenen leidenden Familie zu betrachten.

Wie Sie vielleicht bemerken, ähnelt diese Meditation der Kultivierung von Mitgefühl im Theravāda, aber in der Mahāyāna-Tradition wird die Kraft des Mitgefühls unmittelbar in einen starken Wunsch geleitet, das Erwachen eines Buddha, also die Art Erleuchtung zu erlangen, die die kunstreichen Mittel besitzt, anderen zu helfen, Freiheit von Leiden zu finden. Dieser Wunsch wird der Geist (spirit) der Erleuchtung (bodhicitta) genannt und von dem Bodhisattva-Gelöbnis bestärkt, um aller Wesen willen die geschickten Mittel (upāya-kaushalya) von Mitgefühl und Weisheit zu verwirklichen (Dalai Lama, 2005). Mit der Kraft dieses feierlichen Gelöbnisses tritt der Bodhisattva in Stufen meditativer Konzentration ein, die dem Geist genug Stabilität verleiht, die substanzlose Natur aller Aspekte der Erfahrung zu untersuchen, bis nicht konzeptuelle Weisheit aufscheint. Diese Weisheit der Leere stärkt das Mitgefühl des Bodhisattva mit allen, die dadurch leiden, dass sie an dem hängen, was leer ist (Dalai Lama, 2005). Das gibt seinem Geist die Kraft, sich tiefer in die Weisheit zu lassen. Diese Synergie von Mitgefühl und Weisheit kommt dadurch zur Wirkung, dass der Bodhisattva auf dem Weg zur Buddhaschaft die sechs Vollkommenheiten praktiziert – indem er auf jeder Stufe mitfühlend seine Zeit, Energie, Geduld, seine Ressourcen und seine Kraft der Präsenz auf jede nur mögliche Weise einsetzt, um das Leiden der Wesen zu erleichtern und aufzulösen, während er die leere Natur all solcher Aktivität anerkennt.

In Trainingssystemen des tibetischen Mahāyāna, die auf solche indischen Systeme der Praxis zurückgehen, wird Mitgefühl kultiviert, indem man sich an seine Mutter als Quelle Liebender Güte erinnert und damit bei sich eine natürliche Antwort mit Liebe hervorruft. Diese Antwort mit Liebe wird dann auf alle Wesen als frühere Mütter übertragen, deren Leiden auf allen drei Ebenen zum Gegenstand des eigenen allumfassenden Mitgefühls wird. Dieses Mitgefühl ruft den eigenen Wunsch wach, Wesen zu helfen, Freiheit von Leiden zu finden, indem man ihnen hilft, ihr Potential voll zu verwirklichen (Harvey, 2000; Makransky, 2010).

Austausch des selbst und des anderen

Ein anderer bekannter indischer Lehrer des 8. Jahrhunderts, Shāntideva, weist darauf hin, dass die Konzepte von Selbst und von anderen ihrem Wesen nach konstruiert sind, und zeigt uns damit, wie wir diese Begriffe neu verwenden können, um unsere Welt zu einem Ausdruck von Mitgefühl und Weisheit umzugestalten und uns dadurch auf den Weg eines Bodhisattva zu bringen. Selbst und andere sind rein relative, kontextuelle Begriffe, argumentiert Shāntideva, wie dieses Ufer und das andere Ufer eines Flusses. Keine Seite eines Flusses ist an sich eine „anderes Ufer“ (Harvey, 2000). In ähnlicher Weise ist es ein kognitiver Irrtum, andere Wesen für an sich „andere“ zu halten. Denn alle sind aus ihrer eigenen Perspektive „selbst“; und alle sind in ihrem tiefsten Potential, mit dem Verlangen nach Glück und den auf Täuschung beruhenden Mustern so wie man selbst; und alle sind im leeren Grund aller voneinander abhängigen Dinge ungetrennt von einem selbst (Wallace & Wallace, 1997). Wenn wir über die Identität von uns selbst und anderen und über den gewaltigen Nutzen, den es für unseren Geist hätte, wenn wir die gewohnten Konstrukte von Selbst, anderen und damit verbundenen Gefühlen rückgängig machten, in solcher Weise nachdenken, erforschen wir, wie es ist, wenn wir andere als uns selbst sehen, während wir uns selbst als einen neutralen anderen empfinden. Durch diese Übung entdecken wir, dass die große Last und das Leiden, das darin besteht, dass wir uns vorzüglich vor anderen an uns selbst klammern, leichter werden. Wir können zunehmend das Mitgefühl und die Weisheit auftauchen lassen, von denen aus wir empfinden und erkennen, dass alle Wesen wie wir selbst sind (Wallace & Wallace, 1997).

In Tibet hat diese Technik des „Austauschs des Selbst und des anderen“ die Form der Tong-len-Meditation, bei der man sich selbst an die Stelle des anderen setzt. Dabei stellt man sich vor, dass man das Leiden anderer in den leeren Grund seines Seins aufnimmt, während man anderen freigebig alle eigenen Tugenden, Wohlsein und Ressourcen anbietet (Anleitung siehe Kapitel 7). Diese Vorstellung hilft, den eigenen Geist mit der Weisheit der Leere in Übereinstimmung zu bringen, die andere Menschen als letztlich ungetrennt von uns selbst erkennt, und verleiht dieser weisen Einsicht ihren fundamentalsten mitfühlenden Ausdruck (Chödrön, 2003). Die Kraft des Tong-len besteht zum Teil darin, wie diese Form der Meditation auch verwendet wird, um den Kontext unserer eigenen Erfahrungen von Leiden zu verändern und sie zu transformieren. Wenn wir Schwieriges durchleben, spüren wir mitten durch unser eigenes Leiden das Leiden, das viele andere durchmachen, und stellen uns dann vor, dass wir mit Freude jene anderen von ihrem Leiden befreien, indem wir unser eigenes um ihretwillen auf uns nehmen. Menschen haben leicht das Gefühl, dass sie zum Beispiel der Kummer über einen Verlust von anderen isoliert. Bei dieser Praxis aber spüren wir durch unsere eigenen Gefühle von Verlust und Kummer, was viele andere fühlen, und stellen so eine starke empathische Verbindung mit ihnen her. Und diese Verbindung hilft uns, die Fixierung auf das Bewusstsein eines isolierten Selbst zu lockern, uns in die leere Essenz der Erfahrung zu entspannen und zu spüren, dass wir selbst und andere eigentlich ungetrennt sind. So werden wir für andere in Beziehung und dienender Hinwendung mehr präsent. Wenn wir uns so mit angewandter Tong-len-Meditation vertraut machen, können wir allmählich lernen, unser ganzes eigenes Leiden auf den Weg von Mitgefühl und Weisheit sogar bis zum Tod mitzunehmen (Chödrön, 2001; Makransky, 2010).

Mitgefühl im Vajrayāna

Weitere Traditionen des Buddhismus entstanden in Indien vom 8. Jh. n. Chr. an, die Vajrayāna („diamantenes Fahrzeug“) genannt wurden und die bei der Verbreitung des Buddhismus nach Tibet und in andere Regionen des Himalaya eine zentrale Rolle spielten. Zum Teil auf der Grundlage der oben beschriebenen Lehren hatten einige Schulen des Mahāyāna die Auffassung vertreten, dass eine gewaltige Fähigkeit für Mitgefühl und Weisheit und für alle damit verbundenen Qualitäten des Erwachens angeboren und schon mit der tiefsten, unbedingten Natur unseres Geistes gegeben ist. Die Traditionen des Vajrayāna legen besondere Betonung auf diese Lehre von der Buddha-Natur. Mit Bezug auf diese Lehre wurden die grundlegenden Lehren über Leiden und seine Ursachen neu gefasst.

Unsere Buddha-Natur

Nach Auffassung des Vajrayāna ist unsere fundamentale Bewusstheit vor allen Mustern selbstbezogenen Anhaftens wesentlich unbedingt, rein und unkontaminiert. Unsere grundlegende Bewusstheit ist eine grenzenlose Weite der Leere und des Erkennens, die schon mit allumfassender Weisheit und allumfassendem Mitgefühl begabt ist, wie grenzenloser Raum, der von Sonnenlicht durchdrungen ist. Individuelle und sozial konditionierte Gewohnheiten, zu verdinglichen und festzuhalten, haben viel von diesem grundlegenden Potential verschüttet. Mitgefühl und Weisheit zu kultivieren, besteht daher nicht darin, neue innere Zustände zu erzeugen und sie stärker werden zu lassen (wie es im Theravāda und in einigen früheren Traditionen des Mahāyāna gesehen wurde), sondern vielmehr darin, dem Geist zu helfen, seine auf Täuschung beruhenden Tendenzen aufzugeben, sodass sich seine angeborene, unbedingte Kraft grenzenlosen Mitgefühls und grenzenloser Weisheit, seine Buddha-Natur, spontan manifestieren kann. Ein Psychotherapeut, der diese Vision im Bewusstsein hält, kann unabhängig von den emotionalen Problemen im Vordergrund die tiefste Natur eines Patienten nähren und unterstützen.

Die tiefe ursprüngliche Natur des Geistes, heißt es deshalb im Vajrayāna, enthält als Potential alle positiven Energien und Qualitäten des Erwachens. Wenn die Aufmerksamkeit eines Menschen dauernd in Mustern selbstbezogenen Denkens und selbstbezogener Reaktionen befangen ist, werden diese angeborenen Energien zu Emotionen geformt, die auf Täuschung beruhen, wie Angst, Streben nach Besitz und Abneigung – zu inneren Ursachen von Leiden (Bokar Rinpoche, 1991). Bei der Praxis des Vajrayāna geht es darum, diese verwirrten Muster von Emotionen zu transformieren und zu befreien, indem sie die angeborene, primordiale Bewusstheit alle Erfahrungen als Ausdruck ihres eigenen leeren Wissens, jenseits von Verdinglichung oder Anhaften, erkennen lässt. Wenn angeborene Bewusstheit Gedanken und Emotionen als Muster der eigenen wissenden Leere erkennt, lösen sich Emotionen spontan von selbst in ihrer eigenen unkonditionierten Leere, wie das Schreiben auf Wasser wieder in seinem eigenen unveränderlichen Wesen des Wassers aufgeht. Dann werden die angeborenen Energien, die auf Täuschung beruhende Emotionen genährt hatten, von ihrer entstellten Prägung zu Mustern befreit, um sich als Energien allumfassenden Mitgefühls, allumfassender Weisheit und allumfassender Präsenz für andere zu manifestieren (Dilgo Khyentse Rinpoche, 1996; Makransky, 2010; Ray, 2001; Sogyal Rinpoche, 2012). Mitgefühl wird so als eine intrinsische Fähigkeit fundamentaler Bewusstheit verstanden – als eine angeborene Qualität primordialen Geistes, die automatisch entfesselt wird, wenn der Geist von seinen gewohnten Mustern selbstbezogener Konzeptualisierung und Reaktivität befreit ist.

Weil alle Menschen diese selbe angeborene Fähigkeit für spontanes Erwachen besitzen, kennt das Mitgefühl eines Schülers des Vajrayāna andere Wesen nicht nur in ihrem Leiden, sondern auch in ihrer unermesslichen Würde, in ihrer ursprünglichen Reinheit und in ihrem angeborenen Potential. Jemand, der seine Buddha-Natur verwirklicht hat, kommuniziert dann mit der Buddha-Natur in anderen Menschen, die noch nicht verwirklicht ist, spiegelt ihnen damit ihr tiefstes Potential und hilft damit, es in ihnen hervorzurufen (Makransky, 2010). Erwachen zum eigenen angeborenen Potential wird ansteckend.

Die Meditationspraxis des tibetischen Vajrayāna verkörpert diese Möglichkeit der „Ansteckung“. Man ruft sich eine Menge erwachter Wohltäter in menschlicher oder symbolischer Form ins Bewusstsein, die man als Verkörperungen tiefsten Mitgefühls und tiefster Weisheit, von verwirklichter Buddha-Natur betrachtet. Man kommuniziert intensiv mit diesen mitfühlenden Gestalten, indem man der Buddha-Natur, die sie repräsentieren, rituell alle seine äußeren und inneren Erfahrungen anbietet. Unsere Schichten von Leiden können jetzt, da sie mit dem durchdringenden Mitgefühl und der durchdringenden Weisheit dieser Wohltäter gehalten werden, in einem Bewusstsein tiefer Akzeptanz und Sicherheit wahrgenommen werden. Das hilft uns, den Zugriff und die Fixierung unserer emotionalen Prägung zu lösen und schließlich mit unseren Wohltätern im Grund ihres umfassenden Mitgefühls, der Buddha-Natur, der grenzenlosen Weite von Leere und Erkenntnis, zu verschmelzen (Thondrup, 1995). Von dieser Stelle aus kann jetzt unsere eigene angeborene Fähigkeit befreit werden – unser Mitgefühl für alle anderen in ihrem Leiden und dem darunter liegenden Potential kann sich spontan entfalten. Wenn wir auf diese sanfte Weise lernen, zur Anerkennung unserer Buddha-Natur zu gelangen und ihre mitfühlende Energie auf alle anderen auszudehnen, lernen wir, unseren eigenen Platz unter erwachten Wohltätern einzunehmen und zu einer Erweiterung oder Fortsetzung ihrer Aktivität für alle Wesen zu werden (Bokar Rinpoche, 1991; Dilgo Khyentse Rinpoche, 1996; Makransky, 2010).

Mitgefühl und Weisheit sind in den drei führenden buddhistischen Traditionen auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden. Im frühen Buddhismus und im Theravāda-Buddhismus wird Mitgefühl als eine Kraft für tiefe innere Reinigung und für Schutz und Heilung gesehen, die innere Freiheit unterstützen kann. Im Mahāyāna-Buddhismus wird Mitgefühl zu dem primären Mittel, eine nicht konzeptuelle Weisheit in Kraft zu setzen und zu vermitteln, in der man sich selbst und andere als ungetrennt erlebt. Im Vajrayāna-Buddhismus strahlt unbedingtes Mitgefühl allumfassend als ein spontaner Ausdruck der tiefsten unkonditionierten Natur des Geistes aus.

Systematische Formen, weises Mitgefühl zu kultivieren, wurden in jeder der drei Traditionen entwickelt. In unserer modernen globalen Kultur haben Therapeuten die Möglichkeit, zu untersuchen, welcher Ansatz sie selbst oder ihre Klienten am besten orientieren und nähren kann. In Zusammenarbeit mit erfahrenen Lehrern dieser Traditionen der Meditation können Therapeuten auch untersuchen, wie existierende Konzepte und Techniken vielleicht an ihre Settings angepasst werden können. Möge dieses Buch diese edlen Bemühungen fördern und unterstützen.

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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