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Einleitung

CHRISTOPHER GERMER

RONALD SIEGEL

Welche persönlichen Eigenschaften und Qualifikationen sollte ein Psychotherapeut haben? Wenn jemand emotional leidet, wird es ihm wahrscheinlich nicht um akademisches Wissen, Ausbildung in einer bestimmten Methode und nicht einmal um Lebenserfahrung gehen. Vielmehr wird man einen Begleiter wollen, der mitfühlend (fähig ist, sich Leiden gegenüber empathisch zu verhalten, und sich Mühe gibt) und weise ist (ein tiefes Verständnis davon besitzt, wie man gut lebt). Man kann sich nur schwer vorstellen, dass man von einem Therapeuten profitieren kann, der nicht weise oder nicht mitfühlend ist. Obwohl Angehörige heilender Berufe auf dem Gebiet psychischer Gesundheit Mitgefühl und Weisheit im Allgemeinen nicht thematisieren und diese Qualitäten auch nicht ausdrücklich in sich oder ihren Patienten zu entwickeln versuchen, gehen wir dennoch von der Annahme aus, dass sie wichtige Elemente jeder guten Behandlung sind.

Aber was genau ist Mitgefühl? Was ist Weisheit? Im Mai 2009 fand an der Harvard Medical School eine bahnbrechende Tagung – Cultivating Compassion and Wisdom in Psychotherapy – mit dem Dalai Lama und prominenten Therapeuten, Wissenschaftlern und Gelehrten aus den ganzen USA statt. Es war ein faszinierender Austausch, der von Momenten der Verwirrung und tiefen Einsichten, wie man mit Leiden leben kann, wie auch gelegentlich von herzhaftem Lachen gekennzeichnet war. Bei diesem Treffen wurden viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Einige Beispiele:

• Sind Mitgefühl und Weisheit wirklich wertvolle Attribute eines Psychotherapeuten?

• Kann man Mitgefühl und Weisheit wirklich bewusst entwickeln und kultivieren? Wenn ja, wie?

• Haben uralte Traditionen, die behaupten, Mitgefühl und Weisheit zu entwickeln, modernen Therapeuten etwas zu sagen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit wichtig für seelisches Wohlsein? Sollten sie, wenn das so ist, in die Planung der Behandlung integriert und bei der Formulierung der Therapieziele berücksichtigt werden?

• Ist es möglich, dass Patienten im Verlauf der Therapie Mitgefühl und Weisheit lernen?

• Wie ist der Stand der Forschung über Mitgefühl und Weisheit und was können Therapeuten aus ihr lernen?

• Gibt es erkennbare neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl und Weisheit?

• Ist es möglich, Mitgefühl und Weisheit objektiv zu messen oder diese Qualitäten im Behandlungszimmer zu erkennen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit Wirkmechanismen therapeutischer Veränderung? Und wie geschieht das, falls das so ist?

• Was hindert Therapeuten daran, bei ihrer Arbeit Mitgefühl und Weisheit auszudrücken oder mit Mitgefühl und Weisheit zu handeln? Was hindert Patienten daran, diese Qualitäten in ihrem Leben zu kultivieren?

• In welcher Beziehung stehen Mitgefühl und Weisheit zu bestimmten Störungen wie Depression, Angst, Trauma, Substanzmissbrauch oder Beziehungskonflikten?

Diesen Fragen ist dieses Buch gewidmet. Die Autoren, kompetent und führend auf ihren jeweiligen Gebieten, standen vor der Aufgabe, ihre Einsichten über Mitgefühl oder Weisheit in einem relativ kurzen Kapitel darzustellen. Viele haben sich bemüht, ihre Ideen und Vorstellungen zu vermitteln, ohne als „Experten“ für Mitgefühl oder Weisheit aufzutreten – wofür sich im Geist des Themas niemand qualifiziert fühlte. Als Herausgeber hoffen wir, dass Sie auch der Meinung sein werden, dass die Autoren ihre Ziele auf bewundernswerte Weise erreicht haben.

Mitgefühl und Weisheit sind seit mindestens 2500 Jahren für die buddhistische Psychologie und andere introspektive Traditionen zentral, sowohl als wesentliche Konzepte als auch als praktische Wege zur Befreiung von Leiden. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte konvergiert besonders die buddhistische Psychologie in einem beachtlichen Ausmaß mit der modernen Psychologie, vor allem in Form empirisch unterstützter achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen. In dem Maß, in dem die persönliche und professionelle Praxis von Achtsamkeit für viele Therapeuten an Bedeutung gewinnt und reift, wächst auch das Interesse daran, neue Möglichkeiten zu finden, unseren Weg durch komplexe und komplizierte Lebensumstände zu verstehen und zu sehen (Weisheit) und unser Herz für Leiden zu öffnen (Mitgefühl).

Der Dalai Lama hat sowohl die Tagung in Harvard als auch dieses Buch inspiriert. Er ist nicht nur ein brillanter Lehrer von Weisheit und Mitgefühl, sondern er verkörpert diese Qualitäten auch in seinem Leben. Dieser Satz fiel während der Tagung: „Seine Heiligkeit macht uns stolz, Menschen zu sein.“ Und der Dalai Lama arbeitet unermüdlich mit Wissenschaftlern aus aller Welt an der Erforschung der Möglichkeiten, wie Weisheit und Mitgefühl dabei mitwirken können, individuelles und kollektives Leiden in der modernen Zeit zu verringern. Sein Ansatz ist für einen religiösen Führer unkonventionell, wie eine Bemerkung in einem Vortrag im Jahr 2005 verrät:

… empirische Beweise sollten über die Autorität von Schriften triumphieren, gleich, wie sehr eine Schrift verehrt wird. Auch wenn Wissen durch Vernunft oder auf dem Weg von Schlussfolgerungen erlangt wurde, muss seine Gültigkeit letztlich von beobachteten Erfahrungstatsachen abgeleitet sein.

Dieses Buch ist von den Einsichten der buddhistischen Psychologie und Praxis sowie von psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Entdeckungen geprägt. Wie wir auf der Tagung erlebt haben, kann der Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Weltsichten zugleich aufregend, verwirrend und fruchtbar sein.

Psychotherapie und buddhistische Ausbildung des Geistes haben ein gemeinsames Ziel: emotionales Leiden überwinden. Mitgefühl und Weisheit sind Qualitäten des Geistes, die möglich machen, Leiden zu ertragen und anzunehmen und sogar durch Leiden zu wachsen. Wenn man zum Beispiel Empathie mit dem Schmerz eines Patienten empfindet, aber nicht zugleich die positive innere Haltung von Mitgefühl nährt, oder wenn man sich selbst aus dem Kreis derjenigen, mit denen man Mitgefühl hat, ausschließt, kann es leicht dahin kommen, dass man in das gerät, was wir Erschöpfung des Mitgefühls (compassion fatigue) nennen.

Und auch Weisheit hilft. Sie erlaubt uns, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, zu erkennen, dass die Umstände sich ständig verändern, und zu verstehen, dass sich auf unser Gefühl von Wohlsein noch mehr als unsere Lebensbedingungen auswirkt, wie wir uns zu unserer Erfahrung verhalten (zum Beispiel empfindsam und zart oder gleichgültig, annehmend oder mit Widerstand, neugierig oder vermeidend). Mit Mitgefühl und Weisheit gibt es immer Hoffnung.

Weisheit und Mitgefühl sind auch nicht zu trennen, das eine kann einfach nicht ohne das andere sein. Die meisten nehmen wahr, dass sich ihr Herz öffnet, wenn sie das Problem eines Patienten auf mehreren Ebenen verstehen. Umgekehrt sieht man mehr Behandlungsmöglichkeiten, wenn man gegenüber einem Klienten warme Gefühle empfindet. In diesem Buch wird beschrieben, wie sich Weisheit und Mitgefühl auf der relativen Ebene – Tag für Tag in der Erfahrung der Psychotherapie – wie auf der absoluten Ebene – in unserer fundamentalen, nicht konditionierten Natur – mischen. Je nach unserer Perspektive können wir sagen, dass Mitgefühl aus Weisheit oder dass Weisheit aus Mitgefühl entsteht. In jedem Fall aber sind diese zwei Qualitäten auf der tiefsten Ebene der Erfahrung und des Verstehens nicht zu unterscheiden.

Die überraschendste Entdeckung besteht für viele Menschen darin, dass Weisheit und Mitgefühl eigentlich Qualitäten sind, die man bewusst entwickeln und kultivieren kann. Wenn wir bei der Achtsamkeitsmeditation still in unser inneres Leben schauen, können wir Weisheit und Einsicht entwickeln: Wie unser Geist und unsere Psyche und unsere Abneigungen und Empfindlichkeiten funktionieren und arbeiten. Wir nehmen wahr, wie bestimmte Gedanken und Emotionen unser Bewusstsein vereinnahmen und uns zu unbewusstem, häufig mit Stress verbundenem Grübeln verleiten. Wir können auch Mitgefühl entwickeln – das innere Gespräch von entwertender Selbstkritik zu Selbstermutigung verändern –, und zwar mithilfe bestimmter Übungen, von denen viele in diesem Buch beschrieben werden. Interessanterweise entstehen in der intimen therapeutischen Beziehung Weisheit und Mitgefühl oft zugleich im Geist und im Herzen des Therapeuten und des Klienten, wenn sie empathisch aufeinander eingestimmt sind. Wenn wir das Wesen dieser Qualitäten erforschen und erkennen, wie sie sich entwickeln, können wir lernen, sie in unserem persönlichen und professionellen Leben weiter zu kultivieren.

Ein besonderer Zug buddhistischer Ausbildung des Geistes ist das Bodhisattva-Ideal. Ein Bodhisattva ist eine Person, die sich dem Wohlergehen anderer widmet. Die meisten Psychotherapeuten fallen in diese Kategorie, wenigstens zeitweise. Das traditionelle „Gelöbnis“ eines Bodhisattva ist eine Verpflichtung, Erleuchtung nicht nur für sich selbst anzustreben, sondern die Bemühungen darum so lange fortzusetzen, bis alle Wesen von Leiden befreit sind – denn wie kann man frei von Leiden sein, wenn man jemandem begegnet, der noch damit ringt? Der Weg von Mitgefühl und Weisheit ist daher eine gemeinschaftliche Anstrengung. In diesem Geist übergeben wir unseren Freunden und Kollegen in der ganzen Welt dieses Buch.

Mögen wir mit Mitgefühl und Weisheit offen für Leiden sein.

Mögen wir uns selbst und andere annehmen, wie sie sind.

Mögen wir unsere tiefste Natur erkennen.

Mögen wir frei sein.

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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