Читать книгу Blechbrezel - Christopher L. Ries - Страница 7
Elsbot
Оглавление»Da vorne ist es.« Fips flog auf eine Reihe alleinstehender Kiefern zu. Dahinter ging es steil bergauf, bis sie schließlich keuchend auf einer Anhöhe standen. Von dort aus sahen sie hinunter auf einen erdbraunen Hügel. Riesig aber für das ungeübte Auge recht unauffällig, war es mehr eine Anhäufung von alter Erde, frischem Laub und vermorschten Ästen. In der Mitte dieses Haufens war eine dunkle Öffnung zu sehen, aus dem weißgraue Nebelschleier strömten.
»Da unten befindet sich sein Versteck.«
Karl blieb stehen und rümpfte die Nase. »Was ist da drin, Fips, tonnenweise faule Eier? Igitt, das stinkt erbärmlich.«
»Ihr würdet es mir nicht glauben, wenn ich es euch sage«, antwortete Fips und krachte gegen eine Wand aus totem Gebüsch. Er hatte nicht aufgepasst. »Ihr braucht Waffen. Hm .... Stöcke, Steine, alles was man einsetzen kann um jemanden sehr wehzutun.«
»Wie sieht es damit aus?«, fragte Karl. Er hatte sein Taschenmesser gezogen. Die Augen des Totenkopfes blitzten rot im Dämmerlicht. Fips war entzückt. Er nickte. »Du wirst es damit nicht umbringen können, aber es ist besser als gar nichts. Und nun kommt schon.«
Als sie auf dem Weg bergab in ein Gebüsch eindrangen, schnappte sich Karl einen herumliegenden Stock. Er hatte die Form einer Keule. Noch im Laufen begann er, das Ende der Keule anzuspitzen, sodass eine Art Speer daraus entstand. Mit sich zufrieden, folgte er Fips damit durch die Öffnung, hinein in den Bauch der Erde. Der Eingang war winzig, führte jedoch in einen Tunnel, in dem sie sich recht gut vorwärtsbewegen konnten. Alle zwanzig Meter kamen von links und rechts dunkle Abzweigungen, Gänge, die in alle Richtungen verliefen. Fips jedoch schien sich seiner Sache sicher. Zielstrebig flatterte er voran. Es schien, als würde er hier unten jeden Stein, jede Kurve und jeden einzelnen der Gänge beim Namen kennen.
Lisa blieb urplötzlich stehen. »Ich kann mich nicht mehr bewegen. Meine Füße stecken bis zu den Waden im Schlamm fest.«
Karl gab Fips ein Zeichen. Der wäre vor Aufregung fast wieder an die Wand geflogen.
»Das ist kein Schlamm, ihr Dummköpfe, das ist Elsbots Schleim.«
»Elsbot?«
»Elsbot, richtig. Aber deswegen sind wir doch hier. Er hat sich euren Freund geschnappt und hierher gezerrt. Er weiß sicher auch schon, dass er verfolgt wird. Was tut er also?«
»Nun sag schon, Fips. Lange herumzuraten, dafür haben wir keine Zeit.«
»Er sondert Schleim ab, ist doch einfach. Mich würde es nicht wundern, wenn in ein paar Minuten alle Gänge voll damit sind. Gerät der Schleim in unsere Augen, erblinden wir und aus die Maus. Und wenn ...!«
»Lass mich los, du Biest.«
»Das war Tassilos Stimme« entfuhr es Lisa. »Ihr müsst los. Ich komm schon alleine zurecht.«
»Dich hier alleine zu lassen, kommt gar nicht in Frage«, sagte Fips. Er flatterte auf und vollbrachte auf ihren Kopf eine perfekte Landung. »Halt dich an meinen Krallen fest.« Keine drei Sekunden später war Lisa von Elsbots Schleim befreit.
Wieder hörten sie Tassilos Hilfeschreie. Sie klangen verzweifelt.
»Wo bist du, Tassilo?« Blechern hallte Karls Stimme von den kalten Wänden wider. Es war mit einem Male so dunkel, dass er kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Ratlos starrte auch Fips in die Finsternis, aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte weder Tassilo noch das Monster im Dunkeln ausmachen. Schließlich zuckte er resigniert mit der Schulter. »Sie können überall und nirgends sein.«
Lisa schnappte Fips bei den Flügeln, hob ihn hoch und schüttelte ihn kräftig durch. »Tu was, Phillipenius oder wir machen Suppe aus deinen alten Knochen. Hörst du?«
Völlig außer sich, riss Fips seine Augen weit auf. Er war jedoch zu überrascht, um sofort zu antworten. Lisa jedoch schüttelte ihn wieder und wieder.
»Ist ja schon gut. Und nun lass mich gefälligst runter, du Göre. Ansonsten könnt ihr sehen, wie ihr allein hier unten zurechtkommt. Elsbot reibt sich jetzt schon die Hände ... äh die Tentakel.«
»Tentakel? Welche Tentakel?«
»Jesusmaria, muss man euch denn wirklich alles erklären? Tentakeln, Tentaculata, Fangarme ihr Vollpfosten.«
»Lass Fips r-runter«, sagte Karl zu Lisa. Und an Fips gewandt. »Ist Elsbot etwa eine fleischfressende P-P-Pflanze?«
Fips zog eine Schnute und schüttelte sichtlich beleidigt den Kopf.
»Eine Krake?«, riet Lisa.
»Ein Tintenfisch«, gab Fips ihr Recht. »Er haust schon seit hunderten von Jahren hier unten. Er ist Meister der Unterwelt, Meister der Schatten. Aber was erzähl ich euch. Wir sollten versuchen, euren Freund zu befreien. Nur er kann Jenny von ihren üblen Gedanken abbringen. Wenn Jenny nämlich was passiert, zieht Jonathan mir das Gefieder über die Ohren und fragt mich jetzt bitte nicht, wer Jonathan ist.«
Karl zog ein trotziges Gesicht. »Wer ist Jonathan?«
»Blitzbirne«, antwortete Fips und sprach weiter. »Wir müssen Elsbot stellen, bevor er in seine Schattenwelt eintaucht. Dort hätte euer Freund keine Chance auch nur eine einzige Minute zu überleben.«
Er sah sich noch einmal um und zeigte schließlich nach rechts, auf einen winzigen Tunnel. »Dort entlang würde ich sagen.«
Während sie weiter hasteten, löcherte Karl Fips mit Fragen, welche dieser jedoch geflissentlich überhörte. Nur bei der letzten Frage schien er verwirrt. Im Fliegen drehte er seinen Kopf und sah Karl schräg von oben her an.
»Wer Jonathan ist? Ich hatte dir doch ...«
»Ich weiß. Jonathan ist Jennys V-V-Vater. So viel kann ich mir selbst zusammenreimen. Aber ich meine, wer ist er wirklich?«
»Jonathan ist der Weihnachtsmann!«
Karl dachte gar nicht daran, auf diese ungeheure Feststellung einzugehen, sondern rannte unbeirrt weiter. Währenddessen bemerkte Lisa zu ihrem Entsetzen, dass der Schleim dicker und zäher wurde, doch nicht nur das. Er stieg von Minute zu Minute höher, reichte ihnen jetzt schon bis an die Knie. Das Vorwärtskommen wurde mit jedem Schritt schwieriger. Auch Karl hatte seine liebe Mühe, mit Fips mitzuhalten. Immer öfter blieb er nach Atem ringend stehen.
»Das schaffen w-w-wir nie.«
Fips flog hinter ihn, stupste ihn an. »Der Eingang zu seinem Loch ist ganz nahe. Ich weiß es. Macht ran.«
»Hiiiilfe!«
Lisa drängte nach vorne. »Das war Tassilo. Fips hat recht, wir haben keine Sekunde mehr zu verlieren.«
Unweit davon sträubte sich Tassilo mit verzweifelter Kraft gegen Elsbots Fangarme. Es schienen immer mehr zu werden. Gnadenlos wickelten sie sich um seine Arme und Beine und um seinen Kopf. Er konnte längst kaum mehr schreien. Sogar das Atmen fiel ihm schwer. Das Loch, in das Elsbot ihn zerren wollte, war nur noch ein paar Meter entfernt. Plötzlich spürte Tassilo, wie das Monster all seine Kräfte mobilisierte. Blut schoss in seinen Kopf, der zu bersten drohte. Das letzte was er hörte war die mokierende Stimme seines Peinigers. »Genieße die letzte Sekunde in deiner eigenen scheiß Welt. Wo ich jetzt mit dir hingehe …«
»Lass ihn los!«
Mit einem mächtigen Satz sprang Lisa auf Elsbots Rücken. Gleichzeitig attackierte Fips das Monster aus der Luft. Tief trieb er seine scharfen Krallen in dessen spöttische Augen. Karl hatte inzwischen sein Messer gezückt. In der Linken hielt er den selbstgemachten Speer. Wieder und wieder stach er mit seinen Waffen in den schwarzen Rücken der Bestie, die sich unter dem Ansturm wütend aber auch verblüfft und irritiert drehte und wandte. Sie bäumte sich auf, heulte vor Schmerz und Wut. Eine Sekunde lang löste das Monster die tödliche Umklammerung. Diese eine Sekunde genügte.
»Halte durch, Tassilo, halte durch. Er kann dir nichts mehr anhaben.«
Wie durch einen Berg von Watte gelang Karls Stimme an Tassilos Ohr. Ihm gelang es einen Arm freizubekommen und so begann auch er mit letzter Kraft auf Elsbot einzuschlagen. Was diesem am meisten zu schaffen machte, war Fips. Seine Augen, von dessen scharfen Krallen zu Matsch reduziert, glichen nur noch blutigen Seen. Mit einem allerletzten Kraftakt schlug Karl einen von den Tentakeln ab. Kaum hatte er das getan, wuchs eine andere an derselben Stelle. Verzweifelt versuchte er, in der dunklen Tintenwolke Lisa auszumachen.
»Wie viel Fangarme siehst du?« Er brüllte aus Leibeskräften
»Tausend«, stöhnte Lisa und kämpfte mutig und beherzt weiter. »Pass auf seine Saugnäpfe auf. Erwischt er dich damit, kannst du einpacken.«
Einer der Fangarme schlang sich plötzlich um Karls Körper, einmal, zweimal, dann drückte das Monster mit voller Kraft zu. Karl löste den Griff um das Messer, das sofort im Schleim versank. Als Fips erkannte, dass es nun ein Kampf um Leben und Tod sein würde, wurde ihm angst und bange.
»Das Messer, Lisa. Versuch es zu finden. Elsbots sämtliche Nerven laufen an einer Stelle an seinen Hinterkopf zusammen. Wenn du die Stelle findest, könnten wir dem Spuk ein….«
Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn ein Saugnapf stülpte sich mit einem Flutsch fest um seinen Schnabel. Er wurde auf der Stelle ohnmächtig. Die Augen geschlossen, tauchte Lisa in den zähen Schleim. Blind tastete sie nach dem Messer, was sie auch ziemlich schnell fand. Nur war es glitschig und sie schaffte es einfach nicht, es festzuhalten.
»Mit beiden Händen, Lisa«, rief Tassilo ihr zu. »Nimm es mit beiden Händen. Ich versuche, ihn abzulenken.«
Um Atem ringend verdoppelte er die Anstrengung und versuchte Elsbot so gut es ging davon abzuhalten, Lisa mit Fangarmen und Saugnäpfen anzugreifen. Von Tassilos Worten beflügelt, griff Lisa mit zwei Händen zu, schnappte sich das Messer und gerade, als das Monster Karl den Rest geben wollte, stieß sie voller Elan zu. Sie stemmte ihr ganzes Körpergewicht hinter den Stoß, der Elsbots Leben ein Ende bereitete. Noch bevor er tödlich getroffen im eigenen Schleim versank und darin erstickte, öffnete er ein letztes Mal die kugelrunden Augen.
...du wirst von mir hören, zischte er und verpuffte im Nichts.
»Das war verdammt knapp«, keuchte Tassilo. Er rieb sich eine wunde Stelle am Hals und rappelte sich heftig atmend auf. Dann beugte er sich über Karl, der im selben Augenblick zur Besinnung kam.
»Du hast mir Angst gemacht, Karlie. Ich dachte, du wärst hinüber.«
»D-d-dachte ich auch«, sagte Karl und schnappte nach Luft. »Wo ist Fips?«
Fips hob einen seiner Flügel. »Hier, Kumpel.« Er tat, als wäre nichts geschehen, schaffte sogar ein Grinsen. »Na also. Raus aus den Kartoffeln, rein in die Kartoffeln. Jetzt müsst ihr nur noch Jenny finden. Doch das könnt ihr auch ohne mich.«
Er schüttelte sich kurz, stieß sich vom Felsen ab und verschwand laut schimpfend in der Dunkelheit. Lisa blickte fassungslos zunächst auf das Messer in ihren Händen und dann an die Stelle, an der Elsbot im Schleim versunken war.
»Scheint, als hättest du das B-B-Biest getötet.«
»Gott sei Dank«, meinte Tassilo. »Sonst wären wir jetzt alle tot. Außerdem hat Fips recht. Wir müssen Jenny finden, koste es, was es wolle. Ich habe so ein Gefühl, dass sie uns dringend braucht.«
Karl kam eine Idee. »D-d-das Böse mit dem Bösen bekämpfen, sagte Paps immer«, stotterte er und kramte in seinen Taschen herum. Im Nu hatte er eine kleine leere Flasche geöffnet, in der vorher Schnaps, guter Krabbel-di-Wand-Nuff, war. Er füllte sie bis zum Hals mit Elsbots stinkenden Schleim. »Für alle F-Fälle!«, sagte er zufrieden.
»Was willst du denn damit?«
»Sagte ich d-d-doch. Bekämpfen. Das Böse. Sag mal, muss ich dir das erst noch in Zigeunerdeutsch übersetzen?«
Ohne auf die verständnislosen Blicke der anderen zu achten, drehte er sich herum und lief wie von einer fremden Kraft gesteuert zielstrebig los. Einige Minuten später erreichten sie den Eichenwald in dem sich in einer der riesigen Baumkronen das Baumhaus befand.
»Jenny!«
Tassilo erhielt keine Antwort, er hatte auch keine erwartet. Er wusste, wie dickköpfig Teenager sein konnten. Jenny bildete dabei keine Ausnahme. Einmal, zweimal lief er um eine besonders große Eiche herum und blieb dann an der Stelle stehen, an der sie eine Markierung angebracht hatten. Es war ein kleines Schild. Auf dem stand: Einhorn-Erde. Ein Pfeil daneben zeigte schlängelnd nach oben. Darunter las er Realität. Das Wort Realität war fett und rot durchgestrichen. Jenny hatte doch tatsächlich ein neues Schild angebracht, schmunzelte er.
Er sah hoch. Die Strickleiter, die hinauf zum Baumhaus führte, war nach oben gezogen. Entmutigt sah er zu Karl und Lisa, doch diese waren genauso ratlos. Karl sank zu Boden. Auch Lisa lehnte sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Eiche. Ihre Beine trugen sie nicht mehr.
»Geh du zu ihr, Tassilo. Wir schaffen es nicht. Aber beeil dich.« Sie bedachte ihn, während sie dies sagte, mit einem merkwürdigen Blick. »Ich hoffe, es ist nicht schon zu spät.«
Tassilo nickte. »Das hoffen wir alle, Lisa. Das hoffen wir alle«, wiederholte er leise. Wieder sah er am Stamm der Eiche hoch. Ein Gefühl sagte ihm, dass Jenny nur darauf wartete, mit jemandem reden zu können.
»Jenny. Wenn du nicht sofort da herunter kommst, rede ich nie wieder auch nur ein einziges Wort mit dir. Zigeunerehrenwort.«
Insgeheim hoffte er, dass Jenny von da oben nicht sehen konnte, wie er hinter seinem Rücken Zeige- und Mittelfinger kreuzte. Als keine Antwort kam, zuckte er nur mit der Schulter.
»Okay, Kampffusel. Du hast gewonnen.« Seine Stimme war eine Mischung aus Enttäuschung und Wut. »Und ich hatte gedacht, wir wären Freunde.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Das ist es also!«
Tobias grinste über beide Ohren und versetzte Frank, der neben ihm im Gebüsch lag, einen recht unsanften Stoß in die Rippen. »Sieh einer an«, stieß er leise zwischen seinen Zähnen hervor. »Hier oben verbarrikadiert sich also die Zigeunerratte mit seiner Gruselute, ei, ei, ei.«
»Wenn du willst, dass sie uns hören, dann brüll noch etwas lauter«, warf Frank ein. Von ihrem Versteck aus beobachteten sie, wie Tassilo zum Baumhaus hinauf starrte.
Frank zeigte aufgeregt nach vorne. »Jetzt wird es spannend.« Vom Stamm der Eiche baumelte plötzlich wie hingezaubert eine Strickleiter.
»Es geht los. Die Prinzessin empfängt ihren charmanten Prinzen«, stieß Tobias zwischen seinen Zähnen hervor. »Ich könnte kotzen.«
Tassilo, der nicht ahnte, dass er beobachtet wurde, atmete einmal tief durch und kletterte dann flink und agil wie ein Wiesel nach oben. Bevor er in die enge Behausung huschte, begutachtete er ihr Versteck, über dessen Eingang der Kopf eines Wildschweins hing. Der Boden des Baumhauses bestand aus einer kreisrunden Plattform aus grob zusammen gehauenen, robusten Holzbrettern. Die nach oben gebogenen und in mühevoller Arbeit geflochtenen Zweige und Äste formten Wände, die sich in zwei Metern Höhe zu einer Kuppel vereinten. Um vor dem eisigen Wind und dem Regen geschützt zu sein, hatte Tassilo mit Jennys Hilfe eine Plastikplane über das Astgerüst geworfen und diese von innen mit Draht befestigt. Um alles perfekt zu machen, hatten sie alles mit Laubwerk so geschickt von außen getarnt, dass das Versteck kaum zu sehen war. Es war ein Meisterwerk der Architektur. Innen drin war es ziemlich geräumig und sehr behaglich. Es gab einen kleinen Tisch, einige Stühle, (auf den Kopf gestellte Obstkisten), einen Ofen und mehrere mit Heu und Stroh gefüllte Jutesäcke. Sie dienten als Sofa. Als Tassilo eintrat, saß Jenny auf einer der alten Obstkisten und starrte ihn über den fackelnden Schein einer fackelnden Kerze unverwandt an.
»Keiner von euch nimmt mich ernst.«
»Wie auch«, konterte Tassilo und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Immerhin benimmst du dich wie eine sechsjährige Rotzgöre.«
»Muss ich jetzt auch blöde Sprüche kommentieren?«
»Jenny, bitte. Bleib cool und vergiss das Atmen nicht.«
Jenny lachte, doch nur für einen Augenblick. »Was würdest du sagen, wenn ich behaupte, dass mein Vater der Weihnachtsmann ist?«
Tassilo verdrehte die Augen und änderte dann seine Taktik.
»Erzähl.«
»Du glaubst mir also?«
»Ich sagte, erzähl«, wich Tassilo geschickt aus. »Was genau geht denn bei euch nun wirklich ab?«
»Ich weiß es nicht wirklich«, sagte Jenny beschwörend. »Es geschehen einfach merkwürdige Dinge bei uns im Haus.«
»Welche Dinge?«, beharrte Tassilo.
Jenny stöhnte dankbar auf. »Neulich hab ich Papa dabei erwischt, wie er sich heimlich mit Smilla unterhielt.«
»Smilla? Wer ist das?«
Jenny sagte es ihm.
Tassilo verdrehte die Augen. »Was den Weihnachtsmann angeht«, überlegte er scharf, »so haben wir das gleich.« Er zog sein Smartphone, machte ein- zwei Eingaben und lächelte dann. »Hier. Der Duden ist formell. Da wird der Weihnachtsmann als trotteliger, einfältiger und dummer Mensch beschrieben.«
»Papa hat mehr Grips im kleinen Zeh als die letzten drei Generationen sämtlicher deiner Freunde im Kopf«, begehrte Jenny auf, »aber soll ich nun erzählen oder nicht?«
»Also?«
»Ein paar Tage vor Weihnachten verschwindet Paps. Jedes Jahr. Er hätte zu tun. Wo er hingeht und was er in seiner Abwesenheit so alles treibt, darüber verliert er niemals auch nur ein Wort. Fakt ist auch, dass er vor seinem Verschwinden so in Gedanken versinkt, dass er alles um sich herum vergisst. Im Schlaf erzählt er seltsame Geschichten. Von einem geheimnisvollen Ort ist da die Rede. Und von einem versteckten Buch. Er verschließt aber die Schlafzimmertür, so dass ich nur die Hälfte mitkriege. Papa ist eben ein besessener, emotionaler Perfektionist.«
Oder ein trotteliger, einfältiger und dummer Mensch, dachte Tassilo ehe er unvermittelt aufsprang. Was er gerade gehört hat, war alles in allem eine recht verrückte Geschichte. Er resümierte.
»Unverständliches Gebrabbel seitens deines Vaters?«
»Joop.«
»Irgendwas einem geheimen Ort?«
Jenny nickte.
»Vater kaum mal da zu Weihnachten?«
»Nie«, korrigierte Jenny ihn.
»… spricht mit einem Rentier über Philosophie?«
»Jeden Tag«, bestätigte Jenny.
Tassilo, obwohl einigermaßen von den Socken, glaubte ihr kein Wort. Das aber behielt er zunächst für sich. »Jenny. Nur weil dein Vater sich Weihnachten aus dem Staub macht, denkst du, er sei der Weihnachtsmann? Ganz schön mager deine Analyse. So wird aus einer Kampffusel ein Emo. Was denkst du übrigens, wie viele Männer es gibt, die einfach mal abhauen. Sie fliehen vor der Familie, vor den Kindern, vor den Pflichten und der Routine. Dein Vater hat vielleicht einfach die Nase voll« fügte er hinzu.
Jenny betrachtete den Boden zu ihren Füßen. »Papa liebt mich.«
»Na klar doch«, mokierte sich Tassilo. »Deswegen spannte er auch jedes Jahr den ich-bin-dann-mal-weg Schlitten hinters philosophisch angehauchte Rentier. Schon kapiert.«
»Jetzt erzählst du Blödsinn«, sagte Jenny.
»Hm?«
»Es ist eine Kutsche, kein Schlitten!«
Tassilo atmete hörbar ein. »Du willst ernst genommen werden?«
»Will ich.«
»Also hilf mir dabei. Sag mal endlich was, was auch Hand und Fuß hat. Mit reiner Gefühlsduselei komm ich nicht weiter.«
»Ich halt am besten mal ganz geschickt die Klappe«, antwortete Jenny und versank tief in Gedanken. Tassilo stöhnte. Er dachte daran, dass Jenny nun fast schon vierzehn war, also kein kleines Kind mehr, sondern ein Teenager. Ihr Babyspeck war geschmolzen und die Pubertät nagte längst mit scharfen spitzen Zähnen an ihr. In so einem Alter glaubte niemand mehr an den Osterhasen, geschweige denn an den Weihnachtsmann. Sie hatte obendrein ein Alter erreicht, in dem Mädchen zum ersten Mal küssten, sich im Leben orientierten und ihren eigenen Charakter formten. Einige Teens in Jennys Klasse rauchten. Andere waren angesichts der harten Realität des Lebens schon mal betrunken. Tassilo bedauerte das. Drogen, Alkohol und Zigaretten zählte er dazu, waren so ziemlich das uncoolste, was er kannte. Jenny hatte also den Körper einer jungen Frau, glaubte aber an den Weihnachtsmann? Schwere Zeiten, dachte Tassilo! Doch andererseits, und das brachte ihn gehörig ins Wanken, hatte er nicht gerade vor einer Stunde erst einen Riesenkraken gesehen, den es gar nicht geben dürfte? Und eine Eule, die reden konnte? Dennoch. Jennys Verhalten irritierte ihn. Er wollte sich aber um keinen Preis mit ihr überwerfen. Er wollte ihr Freund sein. Freunde, so sagte er sich, dürfen gerne mal an der Oberfläche der Emotionen ihrer Gefährten kratzen. Er wollte herausfinden, was es mit all dem Weihnachtsfirlefanz auf sich hatte. Sicher hatte Jenny daheim Probleme. Einen ständig betrunkenen Vater möglicherweise oder eine gewalttätige Mutter. Vielleicht beides. Geduld und Fingerspitzengefühl waren also angesagt.
Jenny starrte immer noch vom einzigen Fenster hinaus in die beginnende Nacht. In Gedanken war sie weit weg, was Tassilo einmal mehr die Gelegenheit gab, ihre feine Silhouette, das eigensinnige Grübchen am trotzigen Kinn und ihren zierlichen Hals zu bewundern. Als sie ihn dabei ertappte, wurde sie rot wie eine reife Tomate.
»Schau woanders hin«, sagte sie scharf. »Ich lass mich nicht von dir anbaggern.«
»Ich bagger dich nicht an, sondern versuche dich zu verstehen. Deine Geschichte, wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, ist nämlich ein ganz schöner Brutzler. Zumindest aber ein Fall, für einen guten Psychiater. Oder …« Äußerlich wirkte er ziemlich gelassen, doch in seinem Inneren arbeitete es fieberhaft. Ganz gegen seine Überzeugung formte sich ein Gedanke. Eine Idee keimte in ihm. Ein Plan, dessen Umrisse selbst für ihn noch verschwommen waren, nahm Form an, nur: Wer würde ihm dabei helfen? Die Geschichte war so unwahrscheinlich, dass alle ihn für verrückt erklären würden, bevor er auch nur die ersten Worte heraus hätte.
Alle außer ...
Auch Tobias, der heimlich wie ein Dieb in der Nacht das Gespräch von seinem Versteck aus mit verfolgte, hatte einen Plan. Einen teuflischen Plan. Im Gegensatz zu Tassilo wusste er aber ganz genau, wer ihm dabei helfen würde, ihn in die Tat umzusetzen. »Ich werde es ihnen heimzahlen«, stieß er zwischen seinen vor Kälte zusammengepressten Zähnen hervor. »Von wegen Zigeuner sind ehrenwerte Bürger und so. Ihr werdet noch verfluchen, dass ihr überhaupt geboren wurdet, so wahr ich Tobias heiße.«
Drohend hob er seine geballte Faust.