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Der Madagaskarplan

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Die Idee, die europäischen Juden in eine Kolonie auf einem anderen Kontinent umzusiedeln, war nicht neu, und kein anderes der potentiellen Umsiedlungsgebiete übte eine solche Anziehungskraft aus wie die französische Kolonie vor der Küste Afrikas, die Insel Madagaskar.1 Nazigrößen wie Streicher, Göring, Rosenberg und Ribbentrop (sowie der Sympathisant Schacht) hatten sich zwischen 1938 und 1940 mit dieser weit verbreiteten Idee beschäftigt, doch einen konkreten Plan für die Zwangsdeportation der europäischen Juden nach Madagaskar unter Leitung eines siegreichen Deutschland gab es noch nicht. Dies sollte Franz Rademachers erster Beitrag zur deutschen Judenpolitik sein.

Am 3. Juni 1940, noch nicht einmal einem Monat im Amt, bereitete Rademacher eine weit ausholende Mitteilung mit dem Titel „Gedanken über die Arbeiten und Aufgaben des Ref. D III“ an Luther vor:2

„Nach dem kurzen Einblick, den ich in diesen Tagen in die Arbeit des Referates tun durfte, stellt sie sich mir im wesentlichen als die Beschäftigung mit 1000 einzelnen Entscheidungen über – ich möchte sagen – Schicksale einzelner Juden dar (Ausbürgerung, Entschädigungen an Juden ausländischer Staatsangehörigkeit – wegen Schaden in Zusammenhang mit dem Mord an Rath, Auswanderung einzelner Juden); daneben Mitwirken in grundsätzlichen Fragen, wie innerdeutsche Gesetzgebung der ‚Judenfrage‘, Erlass ähnlicher Bestimmungen im Protektorat, im Generalgouvernement, usw.

Für die Bewältigung dieser Arbeit läuft der Apparat an sich reibungslos, ein bester Beweis für die Unmenge Arbeit, die bisher das Referat und seine Leiter aufgewendet haben, was sicher nicht einfach war bei den vielen, verschiedenartigen innerdeutschen Dienststellen, die unter einen Hut zu bringen waren, und bei der Bedeutung, die diese Einzelfragen in der Zeit vor dem Kriege hatten, insbesondere mit Rücksicht auf die Greuelpropaganda der westlichen Pseudodemokratien über Judenverfolgungen in Deutschland.

Durch den Krieg selbst und die dadurch heraufbeschworene endgültige Auseinandersetzung mit den westlichen Imperien und den dort herrschenden überstaatlichen Mächten ist die aussenpolitische Bedeutung der jeweils zu entscheidenden Einzelfragen in Judensachen zurückgetreten. Dafür steht m. E. die Frage nach dem deutschen Kriegsziel in der Judensache zur Entscheidung. Es muss die Frage geklärt werden, wohin mit den Juden? Denkbares Kriegziel in dieser Beziehung könnte sein:

1 alle Juden aus Europa,

2 Trennung zwischen Ost- und Westjuden; Ostjuden, die den zeugungskräftigeren und talmudischeren Nachwuchs für die kämpferische jüdische Intelligenz stellen, bleiben z. B. im Bezirk Lublin als Faustpfand in deutscher Hand, damit die Juden Amerikas in ihrem Kampf gegen Deutschland lahmgelegt bleiben. Die Westjuden dagegen werden aus Europa entfernt, beispielweise nach Madagaskar.

3 In diesem Zusammenhang Frage eines jüdischen Nationalheims in Palästina (Gefahr eines 2. Roms!). Für die Klärung dieser Fragen ist bisher im Ref. D III keinerlei sachliche Vorarbeit möglich gewesen.

Als Vorarbeit schwebt mir dabei vor: Aufnahme engerer Besprechungen mit den interessierten innerdeutschen Partei-, Staats- und wissenschaftlichen Stellen. Feststellen der evtl. dort vorliegenden Pläne, Abstimmen dieser Pläne auf die Wünsche des Herrn Reichsaussenministers, Erfassen der sachlichen Unterlagen (schätzungsweise Zahl der zu verpflanzenden Juden, der dazu notwendigen Mittel geldlicher und sachlicher Art, wieviel Geld und wieviel Schiffe soll für diesen Zweck Frankreich, wieviel England stellen? Feststellen der Evakuierungsfristen, die beiden Ländern im Friedensvertrage auferlegt werden können, usw.).

Für die Bearbeitung dieser Fragen ist m. E. Ref. D III berufen. Die Bearbeitung muss sofort einsetzen, damit die Abteilung nicht bei evtl. aufkommenden Friedensverhandlungen der politischen Abteilung gegenüber ins Hintertreffen kommt; denn es besteht die Gefahr, dass bei der politischen Abteilung sich ein aus der Sache bedingtes imperialistisches Denken durchsetzen wird, und dass dabei leicht übersehen werden kann, Gross-Deutschland im Friedensvertrag soweit nur irgend möglich gegen die überstaatlichen Mächte zu sichern.

Der jetzige Krieg hat eben ein doppeltes Gesicht: ein imperialistisches – die Sicherung des für Deutschland als Weltmacht politisch, militärisch und wirtschaftlich notwendigen Raumes –, ein überstaatliches – Befreiung der Welt aus den Fesseln des Judentums und der Freimaurerei.“

Rademacher bat dann Luther herauszufinden, welches grundlegende Kriegsziel in der „Judenfrage“ der Außenminister verfolge; außerdem wünschte er, das Personal von D III aufzustocken, damit er die Möglichkeit habe, die notwendigen Verhandlungen mit anderen Stellen aufzunehmen.

Diese Mitteilung Rademachers war bezeichnend. Obwohl das Referat für andere Fragen zuständig war, insbesondere die Behandlung nationaler Bewegungen im Ausland, erwähnte Rademacher nur die Aufgabe der „Judenfrage“, die ihn offenkundig faszinierte. Er wollte seinen neuen Chef als jemand beeindrucken, der sich von der eintönigen Alltagsroutine fernhielt; er wollte die großen Probleme angehen, durch Verhandlungen mit anderen Abteilungen Bürokratie abbauen. Als neuer Mitarbeiter in der nazifiziertesten Abteilung des Auswärtigen Amtes prahlte er gerne mit seiner mühelosen Beherrschung des Nazijargons („überstaatlichen Mächte“ und „Fesseln des Judentums und der Freimauerei“). Er hatte bereits erkannt, dass es die beste Möglichkeit war, das Gespenst der Rivalität in Form einer politischen Abteilung heraufzubeschwören, um sich Luthers Unterstützung zu sichern. Eine Kurzzusammenfassung dieser Mitteilung wurde – ohne derartige Verweise – zu Verwaltungszwecken in Umlauf gebracht.3 Obwohl Rademacher in Kategorien von großen „Lösungen“ wie der Vertreibung aller Juden aus Europa oder Judenreservaten in Lublin oder Madagaskar dachte, hatte er in dieser Hinsicht noch keinerlei Anweisung von oben erhalten. Die Initiative für eine Beteiligung des Auswärtigen Amtes an einer wahren „Lösung der Judenfrage“ – und nicht nur an Papierkram am Rande – ging von ihm aus, doch Rademacher wollte ein richtungweisendes Kopfnicken von Luther und Ribbentrop; noch hatte er keine definitiven Pläne außer dem dringenden Wunsch, bei seinem Chef einen positiven Eindruck zu hinterlassen.

Woher hatte Rademacher seine Ideen? Die Gestapo hatte dem Auswärtigen Amt nie alle Einzelheiten ihrer Pläne für ein Reservat in Lublin mitgeteilt. Doch in den Akten des Referats Deutschland gab es genügend Zeitungsberichte und Korrespondenz, aus denen Rademacher rasch folgerte, dass dies eine der elegantesten der damals erwogenen Lösungen war. Im Falle von Madagaskar existierte jedoch keine jüngere Akte. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass Rademacher als Geschäftsträger in Montevideo in den vorhergehenden zwei Jahren in der Lage oder interessiert genug war, die vereinzelten Anspielungen auf Madagaskar aus dem Mund prominenter Nazi-Anführer aufzuschnappen. In diesem Fall stammte Rademachers Motivation aus einer Publikation des holländischen Antisemiten H. H. Beamish aus den 1920er Jahren, die den Transport aller Juden nach Madagaskar empfahl. Rademacher behauptete, sie in den Akten des Referats Deutschland gefunden zu haben.4

Rademachers Präferenz für Madagaskar als Judenreservat verstärkte sich, als er am 4. Juni 1940 – dem Tag nach seiner ursprünglichen Mitteilung – auf eigene Einladung Paul Wurm traf, den Auslandsredakteur des „Stürmer“. Während sie offensichtlich verschiedene Aspekte der „Judenfrage“ erörterten, muss Madagaskar mehr als nur beiläufig erwähnt worden sein. Zwei Tage später schrieb Wurm an Rademacher, um ihm für die Einladung zu danken. Er fügte einen Artikel bei, den er das Jahr zuvor geschrieben hatte und der in typischer „Stürmer“-Manier Madagaskar als Heimat für 15 Millionen jüdische „Blutsauger“ vorschlug. Wurm erkundigte sich, ob die Zeit für seine Veröffentlichung schon gekommen sei. Rademacher antwortete ihm am 12. Juni. Er entschuldigte sich für die späte Antwort, doch habe er versucht, verschiedene grundlegende Fragen, „die wir neulich in unserem Gespräch berührten“, zu klären. Die Situation sei jedoch noch immer unklar; daher bat er Wurm, vorläufig von einer Veröffentlichung abzusehen.5

Wenn die Situation auch am 12. Juni noch unklar war, so dauerte es nicht lange, bis Klarheit herrschte. Luther legte Ribbentrop Rademachers Vorschlag vor, das D III im Rahmen des Friedensvertrags mit der Vorbereitung einer „Lösung der Judenfrage“ zu beauftragen. Ribbentrop war einverstanden.6 Von den verschiedenen Möglichkeiten, die Rademacher aufgelistet hatte, war das Lublin-Reservat bereits im Frühjahr 1940 für unzulänglich befunden worden. Doch der Gedanke, alle europäischen Juden zu deportieren, insbesondere in ein Reservat auf Madagaskar, wurde positiv aufgenommen. Da man mit einem baldigen Sieg Deutschlands über Frankreich und Großbritannien rechnete, spekulierte man auf die Verfügungsgewalt über die französischen Kolonien und die britische Handelsflotte. Sowohl Ribbentrop als auch Hitler erwähnten den Plan, Madagaskar als Judenreservat zu nutzen, in ihren Gesprächen über die Zukunft des französischen Reiches mit Ciano bzw. Mussolini am 17./18. Juni in München.7

Das genaue Datum, an dem Rademacher mit der Arbeit am Madagaskarplan autorisiert wurde, ist nicht aktenkundig. Auf jeden Fall erfuhr der gut informierte Heydrich sehr bald entweder aus Ribbentrops Bemerkungen gegenüber Ciano oder von Rademachers Vorarbeit und schrieb dem Außenminister am 24. Juni.8 Heydrich wies darauf hin, dass er seit Januar 1939 für jüdische Emigration verantwortlich sei, und behauptete, dass seitdem 200 000 Juden das Reichsgebiet verlassen hätten. Doch nach den jüngsten Siegen gäbe es nun 3,25 Millionen Juden in den Gebieten unter deutscher Kontrolle. Durch Auswanderung sei diese Zahl unmöglich zu bewältigen. „Eine territoriale Endlösung wird daher notwendig.“ Für den Fall, dass etwas in dieser Richtung im Auswärtigen Amt geplant sei, wäre die Teilnahme des Amtes an einer in Kürze anstehenden Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ erwünscht. Heydrichs Brief war somit nicht der Ursprung des Madagaskarplans, wenn auch manche Historiker behaupten, er habe schon 1938 mit dem Gedanken gespielt.9 Vielmehr war der Brief ein strategischer Schachzug: Heydrich wollte sichergehen, nicht von einem Projekt ausgeschlossen zu werden, das unabhängig innerhalb des Auswärtigen Amtes entstand und Auswirkungen auf seinen Zuständigkeitsbereich jüdischer Auswanderung hatte.

Heydrich setzte sich durch, und Rademacher wurde angewiesen, seinen Plan in Übereinkunft mit den Stellen der Reichsführer-SS vorzubereiten.10 Das oben genannte Treffen fand nicht statt, doch Rademacher setzte sich mit Beamten im Ministerium des Innern und verschiedenen anderen Parteistellen in Verbindung; sie alle genehmigten seinen anfänglichen Plan, der Anfang Juli bekannt wurde. „Der bevorstehende Sieg gibt Deutschland die Möglichkeit und meines Erachtens auch die Pflicht, die Judenfrage in Europa zu lösen“, schrieb Rademacher. „Die wünschenswerte Lösung ist: Alle Juden aus Europa heraus.“11 Im Friedensvertrag solle Frankreich daher die Insel Madagaskar als Mandatsgebiet an Deutschland abtreten. Strategische Punkte würden als Militärbasen genutzt; der Rest der Insel würde unter Leitung eines Polizeigouverneurs gestellt, der direkt dem Reichsführer-SS unterstellt sei. „Die Lösung Madagaskar bedeutet vom deutschen Standpunkt aus gesehen, Schaffung eines Grossgettos. Nur die Sicherheitspolizei hat die nötigen Erfahrungen auf diesem Gebiet.“12 Die Juden sollten für den auf Madagaskar zur Verfügung gestellten Grund und Boden finanziell haften; ihr gesamtes europäisches Vermögen sei einer speziellen Bank zu übertragen, die davon das zum Wiederaufbau der Insel nötige Land und Vorräte kaufen sollte. Sollte ihr europäisches Vermögen dafür nicht ausreichen, würde die Bank den Juden einen Kredit gewähren!

Ungeheuerlicherweise hatte Rademacher das Gefühl, dieser Plan zur totalen Enteignung der europäischen Juden und ihrer Zwangsdeportation in ein insulares Super-Ghetto unter Kontrolle der SS könne genutzt werden, um den Ruf Deutschlands im Ausland aufzubessern. Neben dem Polizeigouverneur solle keine Kolonialverwaltung eingerichtet werden, denn dies brächte nur ein „unnützes Überschneiden der Gewalten“ mit sich; darüber hinaus würde unter den amerikanischen Juden ein Sturm der Entrüstung drohen, wenn man die europäischen Juden wie ein Kolonialvolk behandle. Stattdessen sollten die Juden auf ihrem eigenen Territorium Autonomie besitzen – mit eigenen Bürgermeistern, Polizei, Postverwaltung und so weiter: „Propagandistisch kann man die Großmut verwerten, die Deutschland durch Gewährung der kulturellen, wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und justizmäßigen Selbstverwaltung an den Juden übt, und dabei betonen, dass uns unser deutsches Verantwortungsbewusstsein der Welt gegenüber verbietet, einer Rasse, die Jahrtausende keine staatliche Selbständigkeit gehabt hat, sofort einen unabhängigen Staat zu schenken; dafür bedürfte es noch der geschichtlichen Bewährung.“13

Kaum war sein erster Entwurf des Madagaskarplans von den anderen Behörden anerkannt worden, stürzte sich Rademacher mit diesem Rückhalt in die „wissenschaftlichen“ Aspekte des Problems und begann, statistische Daten zu sammeln. Ein Neuzugang in seiner schnell wachsenden antisemitischen Bibliothek war Zanders „Die Verbreitung der Juden in der Welt“. Rademacher sandte Zanders Statistiken für jedes europäische Land an die entsprechende Deutsche Botschaft mit der Bitte, die Zahlen zu überprüfen und alle relevante Literatur zu schicken, die man nur beschaffen könne. Rademacher wollte insbesondere herausfinden, wie viele Juden es in dem Land gab, auf welchen wirtschaftlichen Gebieten sie eine entscheidende Rolle spielten und wie viel Gesamtkapital sie schätzungsweise besaßen.14 Man antwortete ihm vorschriftsgemäß, aber oberflächlich.

Rademacher wandte sich mit der Bitte um Statistiken auch an seinen neuen Freund Paul Wurm. Nach dessen Einschätzung gab es knapp unter 10 Millionen nicht getaufte Juden sowie drei bis vier Millionen Halbjuden. Letztere würden wahrscheinlich für eine Deportation nicht in Betracht gezogen, „da sie sonst eine Blutauffrischung für das jüdische Volk abgeben würden. Die Sterilisierung der Mischlinge kann dieses Problem lösen.“15

Die detailliertesten Statistiken erhielt Rademacher von dem bekannten Demographen und Präsidenten des Bayerischen Statistischen Landesamtes, Dr. Burgdörfer. Seinen Berechnungen zufolge gab es 9,8 Millionen Juden in Europa, von denen genau die Hälfte, 4,9 Millionen, unter russischer Kontrolle seien. Daher bräuchten für eine Umsiedlung nur die übrigen 4,9 Millionen Juden berücksichtigt werden. Er schlug allerdings vor, 1,6 Millionen Juden aus anderen Teilen der Welt – mit Ausnahme der USA und Russland – ebenfalls umzusiedeln, so dass sich ihre Zahl auf insgesamt 6,5 Millionen belaufen würde. Selbst wenn man diese Zahl zu den 3,8 Millionen Einwohnern Madagaskars hinzufüge, erhielte man eine Bevölkerungsdichte von nur 16 Menschen pro Quadratkilometer, was in etwa der durchschnittlichen globalen Bevölkerungsdichte entspreche und nur ein Zehntel der deutschen Wertes ausmache. In völliger Verkennung der Realitäten auf Madagaskar schlussfolgerten Dr. Burgdörfer und Rademacher, dass sich diese Zahl innerhalb der natürlichen Kapazität der Insel selbst erhalten könne.16 Dr. Schumacher von der Freiberger Bergakademie versicherte Rademacher, dass es außer Graphit keine bedeutenden Mineralvorkommen auf Madagaskar gäbe.17 Aus „Meyers Lexikon“ erfuhr Rademacher, dass das heiße und feuchte Küstenklima Madagaskars „für Europäer sehr ungesund“ sei, es im Bergland jedoch kühler und angenehmer sei.18

Zusätzlich zu den statistischen Aspekten begann Rademacher, sich für die wirtschaftliche Seite des Madagaskarplans zu begeistern. Er nahm sich die Zeit, „Gedanken über die Gründung einer intereuropäischen Bank für die Verwertung der Judenvermögen in Europa“ anzustellen und sie Helmut Wohlthat von Görings Büro für den Vierjahresplan vorzulegen. Grundidee war, den wirtschaftlichen Einfluss der Juden in Europa mit einem Schlag durch denjenigen Deutschlands zu ersetzen, ohne dabei die Wirtschaft auch nur eines einzigen Landes durch die Schließung von jüdischen Geschäften zu stören. Der jüdische Besitz in Europa sollte von der neuen Bank treuhänderisch verwaltet und nach und nach liquidiert werden, um für die Kosten des Transports und des Grund und Bodens in Madagaskar aufzukommen. Die SS, die bereits die nötige Erfahrung besaß, solle jüdisches Vermögen in Deutschland einziehen und an die Bank überweisen. Die Verträge, die man mit anderen europäischen Ländern zur „Lösung der Judenfrage“ aushandeln wollte, sollten ähnlich fungierende Organisationen außerhalb von Deutschland vorsehen. Die Bank würde dann die SS in bar auszahlen, um die Umsiedlung der Juden nach Madagaskar zu übernehmen. Anschließend solle die Bank als wirtschaftlicher Vermittler zwischen dem Judenreservat auf Madagaskar und der Außenwelt fungieren, da direkte wirtschaftliche Kontakte zwischen den Juden und dem Rest der Welt nicht gestattet sein würden.19

Rademacher war nicht der einzige, der sich intensiv mit dem Madagaskarplan beschäftige. Die Judenexperten der Gestapo, Adolf Eichmann und Theodor Dannecker, waren in Heydrichs Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ebenso eifrig bei der Arbeit, um die bedrohte Macht der SS in Sachen jüdischer Emigration zu festigen. Rademachers Plan sah zwar wichtige Aufgaben für die SS vor, was insbesondere die Konfiszierung jüdischen Vermögens, die Organisation des Transports und die Überwachung der Sicherheit des Super-Ghettos anging. Doch Heydrichs Experten entwarfen ihre eigene Version des Madagaskarplans, die die Existenz oder Beteiligung anderer Stellen nicht zuließ.

Am 15. August 1940 übersandte Theo Dannecker Rademacher eine Zusammenfassung des Plans der SS. Es handelte sich um eine sorgfältig gedruckte Broschüre mit Inhaltsverzeichnis und Landkarten mit dem Titel: „Reichssicherheitshauptamt: Madagaskar Projekt“.20 Der Plan sah die Deportation von vier Millionen europäischer Juden vor, schloss jedoch Juden aus Spanien, Portugal, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien und Jugoslawien nicht in seine Berechnungen mit ein (Die Zahlen des RSHA für die jüdische Bevölkerung in Polen und Deutschland waren weitaus höher als die des Experten Burgdörfer). Ebensowenig war von einer Umsiedlung nicht-europäischer Juden die Rede. Die Pragmatiker der SS beschäftigten sich ausschließlich mit den Juden, die tatsächlich unter ihrer Herrschaft standen. Der Plan des RSHA enthielt keine unsinnigen Theorien darüber, dass Deutschland der Welt seine Großzügigkeit zeige, indem es den Juden Autonomie gewähre. Intern wäre das Mandatsgebiet ein Polizei-Staat. Jüdische Organisationen sollten zwar geschaffen werden, doch ihre einzige Funktion würde darin bestehen, die Befehle der SS so schnell wie möglich durchzusetzen. Noch wichtiger war, wie der Plan betonte, dass die gesamte Leitung des Projekts von Reinhard Heydrich übernommen werden sollte, der von Göring im Januar 1939 zum Sonderbeauftragten für jüdische Auswanderung ernannt worden war. Er sollte alle Aspekte des Projekts von Transport- und Sicherheitsmaßnahmen bis zur Finanzierung steuern. Die Beteiligung des Auswärtigen Amtes wurde nur indirekt durch Verweise auf bestimmte erforderliche Klauseln im Friedensvertrag angedeutet.

Bereits am 2. August 1940 hatte Luther Rademacher informiert, dass der Außenminister den Vorbereitungen für die Vertreibung der europäischen Juden prinzipiell zustimme; die Planung müsse jedoch in engem Einvernehmen mit der SS vor sich gehen.21 Mitte August erhielt Rademacher Bestätigung, dass nicht nur Ribbentrop, sondern auch Hitler Pläne für die Vertreibung der europäischen Juden weiter unterstütze. Luther leitete außerdem einen Bericht von Otto Abetz, dem deutschen Botschafter in Paris, an Rademacher weiter, in dem von den Diskussionen Abetz’ mit dem „Führer“ Anfang August in Paris die Rede war. Laut Abetz beabsichtige Hitler, alle europäischen Juden nach Ende des Krieges zu evakuieren.22 So bestärkt setzte noch nicht einmal der Mangel an Gegenseitigkeit seitens der SS Rademachers Begeisterung einen Dämpfer auf.

Ende August bereitete Rademacher für Luther einen Zwischenbericht über den Madagaskarplan des D III vor.23 Trotz der Versicherungen Rademachers, er hielte engsten Kontakt mit dem RSHA, hatte dieser jüngste Bericht noch weniger mit dem RSHA-Plan gemein als je zuvor. Während letzterer ein Soloprojekt war, war Rademachers Plan ein Vorhaben mit verschiedenen Akteuren. Das Auswärtige Amt sollte dafür zuständig sein, Verhandlungen über den Friedensvertrag mit den besiegten Feinden sowie Verhandlungen über Sonderverträge mit anderen europäischen Ländern zur Regulierung der „Judenfrage“ zu führen. Die SS sollte weiter für die Sammlung der Juden in Europa und die Verwaltung des Insel-Ghettos verantwortlich sein. Doch das Einziehen, die Verwaltung und Verwendung jüdischen Vermögens, die Gründung einer intereuropäischen Bank sowie die Finanzierung der Umsiedlung übertrug Rademacher Wohlthat vom Vierjahresplan. Die Propaganda im Innern sollte Dr. Eberhard Taubert von der Antisemitischen Aktion übernehmen, die nach außen die Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes. Die Organisation der Judentransporte von Europa nach Madagaskar wollte Rademacher Viktor Brack, einem Mitarbeiter von Philippe Bouhler in der Führerkanzlei, übertragen. Nach Rademachers Informationen hatte Brack einen Sonderauftrag zur Organisation des Transports vom „Führer“ erhalten, und er hielt es für klüger, eine bestehende, erfahrene Organisation zu nutzen, als eine neue zu schaffen. Rademachers Ansicht nach war es an der Zeit, die verschiedenen beteiligten Stellen zu einer Konferenz im Auswärtigen Amt einzuladen und eine Vorbereitungskommission einzusetzen, die im Rahmen eines ein- oder zweimonatigen Besuchs auf Madagaskar Untersuchungen vor Ort anstellen sollte. Bezeichnenderweise sollte das Auswärtige Amt diese Konferenz organisieren, denn Rademacher betrachtete sich selbst als Koordinator des Madagaskarplans.

Auf diesen letzten Vorschlag von Rademacher gab es keine Reaktionen. Schließlich kam es jedoch weder zu einer solchen Konferenz im Auswärtigen Amt noch zur Bildung einer Vorbereitungskommission. Stattdessen wurde die Arbeit am Madagaskarplan im Auswärtigen Amt eingestellt. Rademachers Gegenspieler in der Gestapo, Adolf Eichmann, hatte ebensowenig Erfolg, bei seinem Vorgesetzten Heydrich die endgültige Zustimmung zu erwirken wie Rademacher bei Ribbentrop. Noch im Dezember 1940 klagte Eichmann dem Judenexperten im Innenministerium, Bernhard Lösener, der Madagaskarplan liege noch immer unerledigt auf Heydrichs Schreibtisch.24 Ursprung wie Scheitern des Madagaskarplans resultierten aus der militärischen Situation. Aufgrund der Niederlage Frankreichs und des scheinbar bevorstehenden Siegs über Großbritannien schienen die nötigen Voraussetzungen für eine groß angelegte Vertreibung der europäischen Juden nach Übersee gegeben. Doch als Großbritannien nicht besiegt werden konnte, scheiterte seine Umsetzung, und die Entscheidung, Russland anzugreifen, machte den Weg frei für eine neue Art von „Endlösung“, die nicht mehr territorialer Art war.

Obwohl der Madagaskarplan eine Totgeburt war, ist die Episode höchst lehrreich. Sie verweist klar auf die neue Stellung, die das D III bei der Gestaltung der Judenpolitik im Auswärtigen Amt einnahm. Mit der Macht Luthers und seinem Zugang zu Ribbentrop sollte die Judenpolitik von nun an innerhalb seiner eigenen Abteilung – und nicht von der alten Garde um Weizsäcker – bestimmt werden. Der Plan zeigt ebenso, wie naiv, dilettantisch und pseudowissenschaftlich Rademachers Antisemitismus war. Er zog Schlussfolgerungen aus Bevölkerungsstatistiken, die in Anbetracht des Bodens und Klimas auf Madagaskar widersinnig waren. Er produzierte Mitteilungen am laufenden Band in der glühenden Überzeugung, Lösungen auf dem Papier könnten die physischen Gegebenheiten überwinden. Und bei alledem begeisterte er sich für den Gedanken, dass Deutschland der Welt seine „Großzügigkeit“ beweisen würde. Vor allem aber akzeptierte das Auswärtige Amt den Grundsatz, eine „Endlösung“ der europäischen „Judenfrage“ sei eine Verpflichtung für das siegreiche Deutschland. Als schließlich eine ebenso abstruse, leider jedoch eher umsetzbare Version der „Endlösung“ entstand, drückte sich das Auswärtige Amt nicht vor der Verantwortung.

Die Planungen um das Madagaskarprojekt weisen schließlich auf die Spannungen hin, die in der Zusammenarbeit mit der SS in Judenangelegenheiten aufkamen. Rademacher erschien eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Behörden selbstverständlich und wünschenswert. Für die SS bedeutete Kooperation jedoch das Ende der fast totalen Macht, die sie in Judenangelegenheiten erlangt hatte. Für sie war Kooperation daher Konkurrenz. Da der Madagaskarplan nie umgesetzt wurde, wurden die Differenzen zwischen Rademachers und Eichmanns Version des Plans nie gelöst. Rademacher stellte für die Kontrolle der SS keine wirkliche Bedrohung dar, und seine bereitwillige Kooperation hätte die Arbeit der SS sogar erleichtern können. Die SS sträubte sich jedoch dagegen, als Preis für diese Zusammenarbeit irgendeine Zuständigkeit an das Auswärtige Amt abzutreten. Diese unbestimmte Haltung der SS gegenüber Rademacher prägte die Arbeit des D III im gesamten ersten Jahr seines Bestehens.

Die

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