Читать книгу Die "Endlösung" und das Auswärtige Amt - Christopher R. Browning - Страница 22
Frankreich
ОглавлениеDas besiegte Frankreich war durch das Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 in besetzte und unbesetzte Zonen aufgeteilt worden. Eine deutsche Militärverwaltung regierte die besetzten Gebiete, während die neue französische Regierung von Vichy aus die unbesetzten Gebiete verwaltete. Das Auswärtige Amt hielt seine Präsenz in Frankreich durch die Pariser Botschaft unter Otto Abetz aufrecht. Auf ausdrückliche Anweisung des „Führers“ war er für die Behandlung aller politischen Fragen in den besetzten und unbesetzten Gebieten verantwortlich, wenn er sich auch mit der Militärverwaltung beraten musste, falls seine politischen Aufgaben militärische Interessen berührten.57 Abetz, einer der ersten Mitarbeiter im Büro Ribbentrop, war nicht einer der Alten Kämpfer, die er angeblich als „Lumpen, Balkantypen, rassische Untermenschen“ bezeichnete. Obwohl Ehrenoffizier der SS, war er kein Liebling von Himmler, wie dieser gegenüber Ribbentrop erklärte: „Ich sehe Abetz im Gegensatz zu Dir nicht als einen guten, sondern als einen schlechten und gefährlichen Mann an.“58 Das Auswärtige Amt schien mit Abetz jedoch einen Mann zu haben, der sich durchzusetzen wusste.
Es war nämlich Abetz – und nicht die SS –, der von sich aus die Initiative ergriff und die „Judenfrage“ in Frankreich in Angriff nahm. Ende August 1940 bat er das Auswärtige Amt um die Erlaubnis, die Judengesetze, die als Grundlage der späteren Ausweisung der Juden aus Frankreich dienen sollten, mit sofortiger Wirkung umzusetzen. Juden sollten nicht länger das Recht haben, die Demarkationslinie vom unbesetzten ins besetzte Frankreich zu überschreiten. Alle Juden im besetzten Gebiet sollten der Zwangsregistrierung unterliegen, alle jüdischen Geschäfte im besetzten Frankreich gekennzeichnet werden. Für jüdische Geschäfte, deren Besitzer geflohen waren, sollten Treuhänder bestellt werden. Abetz wollte diese Maßnahmen von den französischen Behörden umsetzen lassen und sie später auf das unbesetzte Frankreich ausweiten.59
Luther und Rademacher erteilten Abetz nicht die sofortige Genehmigung, um die er gebeten hatte. Stattdessen zogen sie Himmlers und Görings Mitarbeiter zu Rate.60 Rademacher und Reichsoberbankinspektor Hoppe vom Vierjahresplan diskutierten Abetz’ Vorschläge und kamen überein, dass diese nicht ratsam seien. Eine Erklärung für ihre Entscheidung gaben sie nicht ab.61 Nach einmonatigem Warten erhielt Luther schließlich Heydrichs Stellungnahme. Er habe weder gegen die beabsichtigten Maßnahmen noch gegen ihre Ausführung durch die französischen Behörden etwas einzuwenden. Es sei jedoch „unerlässlich“, die deutsche Sicherheitspolizei in Frankreich mit ihrer umfangreichen Erfahrung in Judenangelegenheiten hinzuzuziehen. Die Maßnahmen könnten von der französischen Polizei umgesetzt werden, sollten jedoch von der Sicherheitspolizei, mit der die französische Polizei in engem Kontakt stand, kontrolliert werden.62
Rademacher verfasste eine sehr vorsichtige Antwort, die Luther an Abetz senden sollte; er gab Abetz Entscheidungsfreiheit, ermunterte ihn jedoch nicht. Die Zweckmäßigkeit der Maßnahmen gegen die Juden im besetzten Frankreich, so schrieb er, könne von Berlin aus nicht beurteilt werden. Wichtig sei die psychologische Vorbereitung derartiger Maßnahmen, um nicht das Gegenteil des gewünschten Effekts zu erzielen. Vor allem sollten die Maßnahmen von der Vichy-Regierung ausgeführt werden, damit diese im Falle des Scheiterns die Verantwortung trüge. Dass Heydrich auf einer erweiterten Rolle der Sicherheitspolizei bei diesen Maßnahmen bestand, erwähnte er nicht.63
Abetz und die Militärverwaltung in Frankreich hatten jedoch Luthers Antwort vom 28. September nicht abgewartet. Am Tag, bevor sie abgeschickt wurde, erließ der Chef der Militärverwaltung – offenbar mit Abetz’ Zustimmung – die beabsichtigten Maßnahmen, die keine Ausnahmeregelung für ausländische Staatsbürger vorsahen. Die Feldkommandanturen wurden jedoch insgeheim angewiesen, amerikanische Juden von der Regelung auszunehmen. Rudolf Schleier, Abetz’ Stellvertreter, bat das Auswärtige Amt um Stellungnahme zu den ergriffenen Maßnahmen und um Instruktionen zur Behandlung ausländischer Juden.64 Der völlig unvorbereitete Luther leitete mit Verspätung Heydrichs Forderung nach maßgeblicher Beteiligung der Sicherheitspolizei weiter.65
In der Slowakei hatte Killinger einen Berater für die „Judenfrage“ angefordert. In Frankreich hatte Abetz die Initiative ergriffen und Judengesetze eingeführt. Dennoch nutzte das Auswärtige Amt diese Gelegenheiten nicht, um die Judengesetze in dem sich ausweitenden Einflussbereich Deutschlands stärker mitzugestalten. Luther leistete Heydrich gegenüber keinen Widerstand, als dieser den Judenberater in der Slowakei instrumentalisierte, um das Auswärtige Amt zu umgehen und direkten Einfluss des RSHA auf antijüdische Maßnahmen in der Slowakei auszuüben. Luther reagierte gleichfalls äußerst zögerlich auf Abetz’ Initiativen in Frankreich, so dass Militärverwaltung und Sicherheitspolizei die Federführung bei der Gestaltung der Judengesetze übernahmen. Dass Rademacher keine Anstrengungen in diesen Fällen übernahm, überrascht weniger. Verglichen mit seinen Plänen für das Madagaskarprojekt waren ihm lokale legislative Fragen zu banal. Luthers Passivität überrascht jedoch angesichts seiner Sensibilität gegenüber Fragen von Geltungsbereichen und Zuständigkeiten. Vielleicht war er noch immer so damit beschäftigt, den Grundstein seines Imperiums innerhalb des Auswärtigen Amtes zu legen, dass ihm weder Zeit noch Kraft für Auseinandersetzungen außerhalb seiner Behörde blieb.