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KAPITEL 1 AUF DEN SPUREN VON NEMO

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Ich war noch ein Kind und strotzte nur so vor Energie, als ich zum ersten Mal die Gezeitentümpel an der südkalifornischen Küste für mich entdeckte. Jeden Tag, wenn sich das Meer bei Ebbe zurückzieht, bleibt eine ganze Menagerie von gestrandeten Meerestieren in jedem Winkel und jeder Vertiefung zurück, die dann beim nächsten Gezeitenwechsel wieder fortgespült wird. Wie ein Schauspiel, bei dem alle zwölf Stunden die Besetzung ausgetauscht wird. Mal sehen wir Seeigel oder einen kleinen Oktopus, der versucht, sich vor uns zu verstecken, dann wieder eine Ansammlung von Schnecken und kleinen Fischen. Vielleicht auch eine Krabbe, die erbitterten Widerstand leistet, wenn man sie aufheben möchte, oder eine Seeanemone, die sich im sanften Spiel des Wassers verführerisch auf und ab wiegt.

Ich liebte es, an der Küste entlangzulaufen und dabei Muscheln oder auch mal eine von Seepocken bedeckte Fischerkugel aufzuheben – bis heute sammle ich gern Strandgut. In der Grundschule überlegte ich mir, wie ich einen Kleiderbügel so zurechtbiegen könnte, um Rasiermessermuscheln aus dem Sand zu fischen. Ich brannte darauf zu entdecken, wie weiter entfernte Strandabschnitte aussehen könnten – vielleicht wartete ja schon hinter der nächsten Landspitze etwas Geheimnisvolles auf mich.

Bei einem Strandausflug mit meinem Vater und meinem älteren Bruder Richard fand ich im zarten Alter von zwei Jahren das erste Mal Geschmack am Meer – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit großen Augen bestaunten wir den Ozean, als sei es das Tollste, was wir je gesehen hätten, so erzählte Dad später. Und noch ehe er uns aufhalten konnte, stürzten wir uns auch schon kopfüber in die Brandung. In Sekundenschnelle hatten uns die Wellen herumgewirbelt; während Dad uns zurück auf den trockenen Sand schleifte, lernte ich so die erste Lektion, die das Meer für mich bereithielt.

Zu dieser Zeit ging man als Kind in Südkalifornien nur zum Essen und Schlafen ins Haus, und kaum war ich wieder zur Tür hinaus, konnte mich nichts und niemand mehr aufhalten. Ich war ein echtes Energiebündel, und wenn Richard und ich unsere Zeit nicht am Strand verbrachten, war ich draußen im Garten und setzte mich über alle möglichen Einschränkungen hinweg. Hinter dem Haus, in dem ich meine ersten Jahre verbrachte, befand sich ein Garten mit einem 1,80 Meter hohen Zaun und einem alten Hühnerstall. Eines Tages erhielt meine Mutter, die mich hinter dem Haus vermutete, den Anruf eines Lebensmittelhändlers aus der Nachbarschaft, der erklärte, ich sei gerade in seinem Laden aufgekreuzt. Ich wurde abgeführt, bekam den Hintern versohlt und landete wieder draußen im Garten. Bald rief der Händler erneut an, inzwischen etwas verärgert. Ich war schon wieder bei ihm. Es stellte sich heraus, dass ich in der Seitenwand des Hühnerstalls ein Astloch entdeckt hatte, über das ich aufs Dach und von dort aus über den Zaun klettern konnte.

Das nächste Mal plumpste ich dabei jedoch direkt in die Arme meiner Mutter, die mich bereits erwartete.

Aber so schnell gab ich nicht auf; ein anderes Mal baumelte ich, als sie mich entdeckte, an den Hosenträgern vom Zaun herab. Da band sie mich mit einem Seil am Wäscheständer fest. »Wie ein Hündchen«, jammerte ich. Ich war hyperkinetisch, so nannte man das damals. Meine Mutter unterstützte mich immer, doch manchmal verzweifelte sogar sie bei dem Versuch, mit mir Schritt zu halten. Ich erinnere mich noch, wie sie augenzwinkernd sagte: »Hätte ich zwei von deiner Sorte, dann würde ich euch beide ertränken.«

Es heißt, das Meer ruft nach dir. Melville und Conrad haben ganze Bücher darüber verfasst. Vielleicht waren es bei mir die ständig wechselnden Lebewesen in den Gezeitentümpeln oder der Klang und Geruch der Brandung, die mich anzogen. Ich weiß nur, dass meine Liebe zum Meer schon sehr früh begann und dass es mir – einem Jungen, der kaum still sitzen konnte – mit seiner hypnotischen Wirkung die Möglichkeit bot, zur Ruhe zu kommen.

Ich war das mittlere von drei Kindern. Richard, mein Bruder, war zwei Jahre älter und meine Schwester Nancy Ann vier Jahre jünger als ich. Richard und ich standen immer im Wettbewerb miteinander – worin unser Vater uns noch bestärkte. Aber während Richard schlicht genial war, fiel mir schon das Lesen schwer und ich fühlte mich in der Schule eingeengt. Ich lernte weniger durch Texte und Übungen als durch Anschauung und Praxis. Irgendwann zog mich ein mythischer Tiefseeforscher in seinen Bann und ich absolvierte ein Praktikum, das mir einen ersten Eindruck vom Leben an Bord eines wissenschaftlichen Forschungsschiffs erlaubte. Mit jedem dieser Schritte fühlte ich mich stärker zum Meer hingezogen. So war mein Lebensweg vorgezeichnet, noch bevor ich die Highschool abgeschlossen hatte.

ICH WURDE IN KANSAS GEBOREN – und weil man dadurch zwangsläufig als Landratte gilt, lachen die meisten, wenn ich ihnen erzähle, dass alle Meeresforscher von dort stammen. Ich kam während des Kriegs auf die Welt, knapp sieben Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor, kurz bevor mein Vater einen verantwortungsvollen Posten in einer Boeing-Fabrik in Wichita antrat, die B-29-Langstreckenbomber produzierte. Als ich zwei Jahre alt war, zogen wir für seine nächste Stelle in einen Vorort von Los Angeles und danach wohnten wir für kurze Zeit in der Mojave-Wüste, wo Dad mit Chuck Yeager und anderen tollkühnen Testpiloten zusammenarbeitete. Dort machten Richard und ich Erkundungstouren in der Wüste. Manchmal kletterten wir in Flugzeugwracks herum und spielten Pilot. Nachts gingen wir mit der Taschenlampe auf Vogelspinnenjagd, in der Gegend wimmelte es nur so von den giftigen Tieren. Das war sicher nicht ungefährlich – doch schon als Kind ließ ich es gern einfach drauf ankommen.

Dad war Testflugingenieur und saß mit im Flugzeug, wenn die Piloten sich auf die Jagd nach Geschwindigkeitsrekorden machten. Da die Arbeit gefährlich war, verschwieg er meiner Mutter die Details. Wenn sie anrief, während er in der Luft war, sagte man ihr nur, er sei gerade »oben« – und sie ging dann davon aus, dass es im zweiten Stock keine Telefone gab.

Als meine Mutter schließlich erfuhr, was »oben« wirklich bedeutete, bestand sie darauf, dass Dad kündigte und wir zurück nach Kansas zogen. Schweren Herzens willigte er ein, doch schon bald waren wir zurück in Kalifornien, und seit meinem sechsten bis kurz vor meinem elften Geburtstag wohnten wir in Pacific Beach, dem palmengesäumten Teil von San Diego nördlich der Mission Bay – wo ich dann meine Gezeitentümpel entdeckte. Von da an sollte ich nie wieder weit vom Ozean entfernt leben.

In vielerlei Hinsicht waren wir eine klassische Ozzie-and-Harriet-Familie, so wie in dieser amerikanischen Sitcom aus den 1950er-Jahren. Meine Mutter hieß sogar Harriet. Mein Vater hatte etwas Geheimnisvolles an sich und beim Abendessen lag neben Liebe immer auch ein Hauch von Anspannung in der Luft.

Über die frühen Jahre meines Vaters wussten wir nie viel, außer dass sein Vater, ein Polizist in Kansas, einen Kopfschuss erlitten hatte und verstorben war, als Dad fünf Jahre alt war. Als er zwölf war, starb seine Mutter und er wurde in den Zug nach Montana gesetzt, um fortan bei einer Tante und derem gefühlskalten Ehemann auf einer Ranch zu leben. Uns erzählte er nur, er sei als Cowboy aufgewachsen; mehr erfuhren wir über seine Kindheit nicht. Er hatte das College nach etwa einem Jahr abgebrochen – was er uns erst verriet, als wir selbst bereits aufs College gingen. Trotzdem hatte er einen Weg gefunden, Ingenieur zu werden, bis hin zum leitenden Ingenieur beim Flugzeughersteller North American Aviation, betraut mit dem Leitsystem der Minuteman-Interkontinentalraketen.

Für einen Jungen, der eigentlich schon abgeschrieben war, hatte er eine Menge erreicht, und unsere Familie bedeutete ihm alles. An den meisten Wochenenden machte er Ausflüge mit uns: zum Campen, Fischen oder einfach an den Strand. Jeden Sommer fuhren wir in die Sierra Nevada, um Forellen zu angeln, oder in die Monterey Bay, wo es Makrelen und weißen Thunfisch gab. Doch ehrlich gesagt hatte ich nicht viel Gelegenheit, Zeit mit ihm zu verbringen. Meinen Bruder nahm Dad mit ins Büro, um ihm die anderen Ingenieure vorzustellen, mich jedoch nie. Ich glaube heute, dass er in Richard etwas sah, was ihm selbst immer verwehrt geblieben war.

Sicher habe ich einen Teil meiner Entschlossenheit und Hartnäckigkeit von meinem Vater geerbt, doch insgesamt kam ich viel eher nach meiner Mutter. Sie war gesellig und lebensfroh, wir nannten sie eine Quasselstrippe. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin gewesen, hatte aber keinen Collegeabschluss. Stattdessen heiratete sie meinen Vater und blieb zu Hause bei den Kindern. Sie war meine Beschützerin und setzte sich stets heldenhaft für mich ein. Wann immer ich stolperte, war sie sofort zur Stelle und bereit, mich in die Arme zu nehmen. Sie brachte emotionale Intelligenz und Menschlichkeit in die Familie.

Über ihren Hintergrund wusste ich deutlich mehr. Ihr deutscher Großvater hatte im Bürgerkrieg für die Nordstaaten gekämpft und sich dann in Kansas niedergelassen. Sie kam aus einer dieser grundsoliden Familien aus dem Mittleren Westen, von der ich viel über Disziplin und Lebensziele lernte. Meine Großmutter war eine tiefgläubige Lutheranerin. Als wir im Unterricht die Evolution durchnahmen, war ihr Kommentar: »Jetzt habe ich meinen Enkel an den Teufel verloren.« Sie steckte voller Weisheiten. »Wahrhaft groß ist, wer Bäume pflanzt, obwohl er weiß, dass er nie in ihrem Schatten sitzen wird«, sagte sie zu mir. Solche Gedanken regten mich zur Auseinandersetzung mit Dingen an, die weit größer waren als ich selbst. In unserer Familie fühlte ich mich immer schon den Frauen mehr verbunden als den Männern und meine Wurzeln in Kansas sind bis heute ein wichtiger Bestandteil meiner Identität.

Sobald ich dem Kleinkindalter endgültig entwachsen war, gestand mir Mom weitreichende Bewegungsfreiheit zu. »Sei einfach zu Hause, bevor es dunkel wird«, sagte sie – und weg war ich. Von San Diego aus konnte ich mit dem Rad zu einem Angelsteg fahren, an dem sich Weiße Umbern, Brandungsbarsche, Makrelen und Corbinas, mein liebster Speisefisch, tummelten. Mom setzte mich oft mit dem Auto an der La-Jolla-Bucht ab, wo ich den Tag mit Angeln und Schwimmen verbrachte. Gleich nördlich davon konnte ich den langen Steg der Scripps Institution of Oceanography ausmachen, des ältesten und größten Zentrums für Meeresforschung in den Vereinigten Staaten.

Von meiner Mutter ermutigt, baute ich schon bald den Fischfang zu einer Einkommensquelle aus. Dafür konstruierte ich eine Reuse aus Hühnerdraht und mein Freund Johnny Binkley und ich bestückten sie mit Brotstücken. Nach weniger als einer Stunde war unser Wagen voll frischer, noch zappelnder Stinte. Ich war freundlich zu den Leuten, als Händler ein Naturtalent und es machte mir Spaß, auf dem Heimweg von Tür zu Tür zu gehen und Fisch zu verkaufen – wobei ich stets darauf achtete, dass genug für unsere Familien übrig blieb.

Die Dynamik am heimischen Esstisch war kompliziert. Auf der einen Seite saßen Richard und mein Vater, die sich in ihrer Ernsthaftigkeit glichen wie ein Ei dem anderen; das Gegengewicht bildeten meine Mutter und ich, zwei Dauerquassler, und mittendrin saß Nancy Ann. Bis heute bin ich der Meinung, dass Richard der klügste Mensch ist, dem ich je begegnet bin – und das, obwohl ich mein Leben lang von klugen Menschen umgeben war. Ihm nachzueifern war alles andere als einfach. Immer glaubte ich, etwas beweisen zu müssen – dieses Gefühl hat mich mein ganzes Leben lang angetrieben. Bei Schulnoten ist zwischen einer Eins plus und einer Mischung aus Einsen und Zweien durchaus ein Unterschied. Die Lehrer, die schon Richard unterrichtet hatten, erwarteten von mir ebensolche Glanzleistungen und manche gingen hart mit mir ins Gericht, wenn ich das nicht erfüllte. In Sozialverhalten – damals die beschönigende Bezeichnung für Betragen – erhielt ich mittelmäßige Noten und Anmerkungen, ich müsse lernen, nicht dazwischenzureden und größere Selbstbeherrschung an den Tag zu legen.

Beim Lesen konnte ich schon in der Grundschule nicht mithalten. Doch was tun, wenn es einem einfach nicht gelingt, schneller zu lesen? Für jeden Text brauchte ich doppelt so lange. Richard war längst im Bett, während ich noch an meinen Hausaufgaben saß. Genauso war es mit dem Schreiben. Wenn wir Streit hatten, verlangte Dad, wir sollten aufschreiben, was uns nicht passte. Richard hatte in Nullkommanichts eine Seite oder mehr zu Papier gebracht, während ich mich mit einem einzigen Satz abquälte. Ich hasste diese Übung so sehr, dass ich mich oft mit meinem Bruder »außergerichtlich« einigte, nur um mir die Tortur zu ersparen. Meine Mutter arbeitete mit mir an meiner Selbstorganisation und Konzentrationsfähigkeit. Sie erklärte mir immer, dass mir Lesen und Schreiben deswegen so schwerfielen, weil ich während eines Umzugs eine Unterrichtseinheit über das Alphabet verpasst hatte. Das reichte mir als Erklärung. Okay, gut, sagte ich mir. Dann muss ich mich eben einfach mehr anstrengen.

Meine Schwester hatte gesundheitliche Probleme, die unser Familienleben massiv beeinflussten. Aufgrund einer Genmutation kam sie mit einem ungewöhnlich kleinen Unterkiefer zur Welt und konnte trotz dessen Rekonstruktion niemals sprechen. Auch schriftlich konnte sie sich nur rudimentär verständigen; sie war jedoch clever genug, um Sportteams im Blick zu behalten und nicht zuletzt die hochverzinsten Darlehen, die sie mir und Richard von ihrem Taschengeld gewährte. Meine Eltern zogen mit ihr von einem Facharzt zum nächsten. Um ihren Hirndruck zu senken, bohrte einer von ihnen ein Loch in ihren Schädel – die reinsten Voodoo-Methoden. Aber kein Arzt fand eine Erklärung, die Mischung von dem, was sie beherrschte oder eben nicht, war zu ungewöhnlich. Schließlich sprach mein Vater ein Machtwort: Wir würden es auf sich beruhen lassen und sie nicht länger mit Untersuchungen quälen. Er behandelte sie nie von oben herab und unsere Wochenendausflüge führten immer an Orte, die auch Nancy Spaß machten. Erst spät in ihrem Leben konnte ich mittels einer DNA-Analyse die Ursache ihrer Behinderung in Erfahrung bringen: Eine Mutation zum Zeitpunkt der Empfängnis hatte dazu geführt, dass sich zusätzliche Aminosäuren an ihr 15. Chromosom hefteten und so ihren Körper umprogrammierten.

Trotz ihrer Beeinträchtigungen wurde Nancy nie wütend und verlor fast nie ihr Lächeln. Zu sehen, was sie bewältigen musste, half mir, meine eigenen Unsicherheiten besser einzuordnen. Dann wurde mir auch klar, wie unbedeutend meine Probleme waren und dass ich keine Sekunde meines Lebens verschwenden wollte.

Auf der Suche nach Aufmerksamkeit von meinem Vater entwickelte ich mich zum Familienclown, zum Witzbold. Richard war eher introvertiert, also wurde ich zum drittklassigen Schauspieler und übernahm im Grundschultheater die Rolle des Peter Pan. Richard war auch nicht einfach nur Pfadfinder, sondern ein hochrangiger Eagle Scout und sammelte Abzeichen wie andere Briefmarken. Meine Interessen waren breiter gefächert; meine Hyperaktivität kanalisierte ich im Sport, durch Engagement in der Schülervertretung und als Verkäufer. Meine Mutter schickte mich mit Weihnachtsmännern aus Bastelschaum und Schwimmkerzen von Tür zu Tür zu meinen alten Stint-Kunden.

Als ich elf war, zogen wir in eine Vorstadt von Los Angeles, nach Downey. Nach wie vor hatte ich Schwierigkeiten mit dem Lesen – in meinem ersten Zeugnis dort erhielt ich eine Vier – und meine Eltern schickten mich nun jeden Tag zur Nachhilfe. Ein bisschen hat das schon geholfen, schätze ich. Trotzdem waren mir Kinofilme lieber als Bücher. Ich sehe heute noch, wie ich mich mit zwölf Jahren in den Kinosaal zwängte, um den neuesten Kassenschlager von Disney anzusehen – eine Verfilmung von Jules Vernes 20 000 Meilen unter dem Meer. Ich war vollkommen überwältigt.

In einer Szene stößt Kirk Douglas zufällig auf Kapitän Nemos Unterseeboot, die Nautilus, die scheinbar verlassen im offenen Wasser treibt. Er erkundet das Innere des eigenartig prunkvollen U-Boots und beobachtet durch ein Bullauge Taucher, die in einem Wald von Seetang eine Unterwasserbestattung vornehmen. Sie wandeln auf dem Meeresboden umher in ihren grandiosen Tauchanzügen. Bei diesem Anblick war es um mich geschehen.

So viel Zeit ich auch am Wasser verbracht hatte – nie war mir der Gedanke gekommen, dass da ein gewaltiger dreidimensionaler Raum unterhalb der Meeresoberfläche lag, in dem alle nur erdenklichen Arten von wundersamen Wesen lebten. Ich wollte Kapitän Nemo sein. Ich wollte auf dem Meeresboden umherwandeln! Meinen Eltern rechne ich hoch an, dass sie mich niemals auslachten, wenn ich davon sprach.

Meine schulischen Leistungen verbesserten sich allmählich. Jetzt hatte ich einen Traum und brauchte gute Noten, um ihn zu verwirklichen. Schlank und bald 1,88 Meter groß, war ich auch ein guter Sportler; ich spielte Fußball, Basketball und Tennis. Mein gesellschaftliches Leben fand in Klubs statt, die von der christlichen Jugendorganisation YMCA gefördert wurden und Namen trugen wie »die Kreuzritter« oder »die Westgoten«.

Es war eine schöne Zeit. In Downey gab es damals eines der allerersten McDonald’s-Restaurants. Ein Burger kostete fünfzehn Cent, eine Portion Pommes frites zehn Cent. Der Benzinpreis lag bei etwa sieben Cent pro Liter. Das amerikanische Jahrhundert war in vollem Gange und wer jung war und in Kalifornien lebte, profitierte davon. Dad kaufte einen zehn Meter langen Kabinenkreuzer aus Holz und taufte ihn Nancy Ann; fast jedes Sommerwochenende stachen wir damit in See.

Als ich in der Mittelstufe war, begann Richard sein Studium in Berkeley, Dads Firma verschaffte ihm ein Stipendium; sein Hauptfach war Physik. Allerdings erlitt er auf dem College einen schweren gesundheitlichen Schlag: Wegen einer Entzündung im Darm mussten ihm Teile davon entfernt werden. Zwar meisterte er trotzdem seinen Abschluss bravourös, doch deuteten sich hier schon Probleme an, mit denen er den Rest seines Lebens zu kämpfen haben würde.

Nun, da Richard aufs College ging, hatte Dad mehr Zeit für mich. Das fühlte sich großartig an. Er legte sich sogar mit meinem Deutschlehrer an: Auslöser war eine schlechte Note in Sozialverhalten, die mir eine Mitgliedschaft in der kalifornischen Stipendienorganisation CSF hätte verwehren können – und die war wichtig für meinen Lebenslauf. Außerdem veranlasste Dad einen Besuch bei Scripps, dem Meeresforschungszentrum, das ich beim Angeln in La Jolla schon aus der Ferne gesehen hatte.

DIE FORSCHUNGSEINRICHTUNGEN AM SCRIPPS-INSTITUT, das heute zur University of California gehört, erstrecken sich entlang der Küste vor der schäumenden Brandung des Pazifiks. Da mein Vater den Direktor, Roger Revelle, von einem seiner Militärprojekte kannte, erhielten wir eine VIP-Tour. Ich erzählte Dr. Revelle von meinem Traum, Meeresforscher zu werden. Er riet mir, zunächst ein Grundlagenstudium in einem naturwissenschaftlichen Fach – Mathematik, Chemie, Geologie oder Physik – abzuschließen und dann den Aufbaustudiengang Meeresforschung an einer Hochschule wie dem Scripps zu absolvieren. Ich war so begeistert, dass wir erneut hinfuhren, um auch den Dekan, Norris Rakestraw, kennenzulernen. Zu Hause dann bewarb ich mich für ein von der Wissenschaftsstiftung gefördertes Sommerprogramm am Scripps und mit einem Brief von Dr. Rakestraw erhielt ich die Einladung zur Teilnahme. Im Juni schließlich – es war der Sommer vor meinem letzten Jahr an der Highschool – fand ich mich am Institut ein, um als Nachwuchspraktikant an drei Exkursionen teilzunehmen. Meinen 17. Geburtstag feierte ich auf See. Zunächst trugen wir mit unserer Arbeit zu einer Studie bei, die untersuchte, warum Sardinen – unsterblich gemacht durch John Steinbecks Die Straße der Ölsardinen – vor der kalifornischen Küste verschwunden waren.

Meine erste offizielle Seefahrt – von meinen bis heute 157 – dauerte sechs Tage und war auf einem früheren Frachtschiff der U.S. Army. Um Strömungen zu kartieren, warfen wir sogenannte Treibflaschen ins Wasser. Die darin enthaltene Nachricht stellte jedem, der eine Flasche fand und einsendete, eine Belohnung in Aussicht. Neuankömmlingen spielte die bunt zusammengewürfelte Besatzung gern Streiche, wovon auch ich nicht verschont blieb. Einmal sollte ich die Larven und anderen Kleinlebewesen, die uns ins Netz gegangen waren, in den stickigen Maschinenraum bringen und in eine ganz bestimmte Flasche legen. Natürlich sagten sie mir nicht, dass die mit Formaldehyd gefüllt war – einem Konservierungsmittel, das so stechend riecht, dass es Erbrechen auslösen kann. Wie ich es schaffte, mein Mittagessen bei mir zu behalten, weiß ich nicht mehr, aber von da an war ich wachsam.

Meine zweite Seefahrt in diesem Sommer – an Bord des Forschungsschiffs R/V Orca, eines alten Schleppers der Navy – war deutlich abenteuerlicher. Wir sollten drei Wochen auf See verbringen und uns entlang der Küste hoch nach Oregon vorarbeiten. Sehr viel Zeit verbrachte ich festgeschnallt im »Heldeneimer«, wie der seitlich vom Schiff hängende offene Metallkorb direkt oberhalb der Wasseroberfläche genannt wurde. Während die Wellen über mir zusammenschlugen, befestigte ich eine Reihe von Flaschen an einem Draht, der ins Meer hinabgelassen wurde, um Wasserproben zu entnehmen und die Temperatur in verschiedenen Tiefen zu messen.

Wir hielten einen 24-Stunden-Betrieb aufrecht, indem jeder vier Stunden arbeitete und dann acht Stunden Zeit hatte, sich zu erholen, soweit möglich. Die Orca war klein und rollte in den Wellen unentwegt hin und her, dennoch machte mir das Ganze unglaublich viel Spaß. Besonders gern fing ich Weißen Thunfisch, was bei voller Fahrt schnell ein Kunststück werden kann. Ich war darin so gut, dass die Besatzung mir fortan keine Streiche mehr spielte.

In Santa Barbara dann wurden wir von Robert Norris begrüßt, einem Professor des örtlichen Campus der University of California, UC. Er war eine herausragende Persönlichkeit und seine Doktorarbeit am Scripps hatte Francis Shepard betreut, der »Urvater« der modernen Meeresgeologie. Als ich ihm von meinen Interessen erzählte, ermutigte er mich, ein Studium der Meeresgeologie an der UC Santa Barbara in Erwägung zu ziehen.

Bald schon waren wir wieder die Küste hinauf unterwegs. Wogenartige Wolken standen Spalier, während die Sonne im Meer versank, und in der gleichen Nacht zwang uns ein Sturm, an einem kleinen Hafen anzulegen. Da ich noch keinen Alkohol trinken durfte, blieb ich an Bord, während der Rest der Besatzung einen nächtlichen Landgang genoss. Sturzbetrunken wieder an Bord gerieten der Koch und der Windenführer in einen Streit, der in einer Schlägerei mündete. Der Koch verlor dabei seine Brille – mit Gläsern dick wie Flaschenböden – und er stolperte in die Kombüse. Als er wieder herauskam, fuchtelte er mit einem Fleischermesser herum und richtete es auf den Erstbesten, der ihm über den Weg lief – und das war zufälligerweise ich. Ich sprang auf den Esstisch und hangelte mich an den Rohren unter der Decke hoch, bis man ihn überwältigt hatte.

Als wir einige Hundert Meilen auf offener See waren, gerieten wir in einen Sturm, der für fast alle an Bord der mächtigste ihres Lebens war; der Wind kam in heftigen Böen und riesige Wellen brachen über dem Bug. Wir richteten das Schiff auf die Wellen aus und ritten jede Woge bis zum Gipfel, nur um wieder in ein Wellental zu fallen und uns erneut nach oben durchzukämpfen. Der Windenführer wurde durch den Wellengang aus seiner Koje geworfen und brach sich dabei die Hüfte. Wir konnten ihm nur Morphium gegen die Schmerzen verabreichen. In Richtung Küste abzudrehen war unmöglich – die Wellen hätten das Schiff überrollt – und so blieb uns nichts übrig, als die Augen offen zu halten und auf Hilfe zu warten. So verging ein Tag, dann der zweite.

Endlich entsandte die Küstenwache ein Boot. Während es sich näherte, beobachtete ich mit dem Fernglas, wie eine Monsterwelle seine Steuerbordseite mit solcher Kraft traf, dass das Boot um ein Haar gekentert wäre. »Oh Gott, schau …« – mehr bekam ich nicht heraus, bevor dieselbe Welle auch uns mit einer derartigen Wucht erwischte, dass um mich herum die Fenster auf der Brücke zersplitterten, mehrere Bullaugen auf dem Mannschaftsdeck barsten und ein weiteres Besatzungsmitglied verletzt wurde. Wir liefen wie wild herum, stopften Rettungswesten in jedes erkennbare Loch und bauten dann aus Matratzen einen provisorischen Damm um eine Öffnung zum Maschinenraum. Endlich beruhigte sich das Wetter, wir konnten umkehren und unseren Heimathafen ansteuern; doch das Schiff war so stark beschädigt, dass die Exkursion damit vorüber war.

Die Macht unseres Planeten Erde mitzuerleben löste Staunen und auch Demut in mir aus. An ein Gefühl von Angst kann ich mich jedoch nicht erinnern. Dieser Sturm lehrte mich, dass es Kräfte gab, die ich zu achten hatte. Ich konnte nicht einfach mit meiner Energie über alle Hindernisse hinwegrollen.

Als ich nach diesem Abenteuer wieder zu Hause ankam, erwarteten mich ein Heldenempfang und eine stürmische Umarmung von meiner Mutter. Das Abendessen verlief sehr angenehm, bis ich ganz unüberlegt jemanden bat, mir »die Scheißbutter« zu reichen. Stille im Esszimmer. Schließlich sagte meine Mutter, betont heiter: »Nun, offensichtlich wird mein Sohn allmählich zum gestandenen Seemann.«

DIE LETZTE SCRIPPS-EXKURSION wurde von Carl Hubbs geleitet, einem Inbegriff des zerstreuten Professors. Er hatte eine Feldstation errichtet, um das Meeresleben nahe Punta Banda auf der mexikanischen Halbinsel Niederkalifornien zu erforschen. Ich kletterte in seinen Pickup und wir machten uns auf in Richtung Grenze. Als wir uns einer Militärkontrollstelle näherten, blickte er mich an: »Du hast kein Visum, oder?« Ich wusste noch nicht einmal, was das war. In Mexiko war ich schon einmal gewesen, damals hatte ich nur meinen Führerschein dabei, doch um dort zu arbeiten, brauchte man ein Visum. Dr. Hubbs riss das Steuer herum und steuerte direkt in ein Feld, mähte eine Pflanzenreihe um und umging den Checkpoint. Ich war kurz davor, mich zu übergeben. Immerhin landeten wir nicht in einem mexikanischen Gefängnis.

Die Feldstation war dürftig ausgestattet und bestand nur aus ein paar Armeezelten auf einer felsigen Klippe, mit Blick auf eine Siedlung aus Strandhütten. Da die Zelte sich wie Öfen aufheizten, schliefen wir unter freiem Himmel. Die Arbeit war monoton und anstrengend. Ich stapfte umher und maß Windgeschwindigkeit und Wassertemperatur. Einmal zog ich los zum Angeln, um den alltäglichen Konservendosen zum Essen zu entgehen. Doch als ich mit meinem ersten Fang zurückkam, wurde er sofort von Dr. Hubbs beschlagnahmt und in Formaldehyd versenkt.

Kurze Zeit später musste Dr. Hubbs für eine andere Studie nach Alaska reisen und ließ mich in der Obhut von zwei frisch promovierten Scripps-Forschern zurück. Noch am selben Abend fuhren sie mit mir in die Stadt – um, wie sie sagten, sich endlich ein echtes Abendessen zu gönnen. Ehe ich mich versah, fand ich mich in der ersten Reihe eines mexikanischen Stripklubs wieder. Meine Begleiter waren vermutlich nicht unschuldig daran, dass irgendwann eine der Oben-ohne-Damen mit wackelndem Oberkörper auf mich zutanzte. Ich verfiel in Schockstarre. Na ja, ich war einfach ein argloser Junge, der einen ersten Eindruck davon erhaschte, wie es in der Welt da draußen wirklich zuging. Egal wie sehr sie sich auch bemühte – mein Blick blieb fest auf ihr Gesicht gerichtet, während die beiden anderen ihr einen Geldschein nach dem anderen in den Stringtanga steckten.

Noch etwas anderes brachten mir die beiden bei. Ich erzählte, dass ich im Hauptfach Meeresbiologie studieren wollte, genau wie sie, doch sie zerrissen meine Idee förmlich in der Luft: »Alles, nur nicht das!«, sagten sie. »Es gibt in diesem Gebiet einfach überhaupt keine Jobs.«

Das spukte noch in meinem Kopf herum, nachdem sie mich allein im Lager zurückgelassen hatten, um wieder nach San Diego zu fahren. Es herrschte schreckliche Hitze und ich kippte rund um die Uhr Wasser in mich hinein. Einmal auch aus einem offenen Fass, auf dem »Quellwasser« stand. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich wieder zu mir kam, musste ich mich pausenlos übergeben. Phasenweise halluzinierte ich. Ich hatte Angst zu sterben; dann Angst, nicht zu sterben. Später stellte sich heraus, dass das Wasser nicht für Menschen gedacht war, sondern als Kühlwasser für den Jeep. Damit nicht genug, hatte ich mir auch noch einen Kaktusdorn in den Fuß gerammt, der sich dort entzündete.

Endlich kehrte Dr. Hubbs zurück. Er entfernte den Dorn aus meinem Fuß und brachte mich nach Hause. Als ich dort ankam, sagte ich: »Dad, ich will ganz bestimmt kein Meeresbiologe werden.«

Doch für irgendeine Universität und irgendein Hauptfach musste ich mich entscheiden. Unaufhaltsam kam die Collegezeit auf mich zu. Trotz all der schlechten Erlebnisse wusste ich, welche Zukunft mir vorschwebte. Ich wollte da draußen sein, im praktischen Einsatz, das Gebiet hinter der nächsten Landspitze erkunden, wissenschaftliche Leistung mit körperlicher Betätigung verbinden.

Ich wollte Kapitän Nemo sein. Nach Hollywood würde ich es vielleicht nicht schaffen; doch auf dem Meeresboden umherzuwandern, das war mein Ziel.

Abenteuer Tiefe

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