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Eins

Im Sommer des Jahres 1933 blieb den braven Bürgern von Hawley in Kansas nichts anderes übrig, als ihre Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft auf Dachböden, in Kellern und in Abstellkammern zu verstauen – wie etwas, von dem man sich einredet, dass man es irgendwann einmal gebrauchen kann, obwohl man in Wirklichkeit nur zu sentimental oder zu geizig ist, um es wegzuwerfen. Das Leben war nicht nur hart, es war eine staubige Hölle; doch das hieß nicht, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte. Zumindest diese Lektion hatten die Einwohner von Hawley in den letzten beiden Jahren gelernt: Es konnte immer noch schlimmer kommen.

Die zwanziger Jahre waren eine Zeit des Aufschwungs gewesen. Durch die große Nachfrage nach Weizen war der Preis in die Höhe geschnellt. Die Great Plains hatten sich in ein viele Millionen Hektar großes Getreidefeld verwandelt. Wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte, wurden bei der Rekordernte von 1931 über drei Millionen Tonnen Weizen eingefahren. Bei dieser riesigen Menge fiel der Weizenpreis, der im Vorjahr noch achtundsechzig Cent pro Bushel betragen hatte, auf fünfundzwanzig.

Farmen wurden aufgegeben, Felder lagen brach, und viele verloren den Mut und zogen fort.

Die meisten Einwohner Hawleys jedoch hatten Vertrauen in ihr Land. Viele konnten sich noch an die alten Zeiten erinnern, als sie in Kansas angekommen und mühsam ihre Siedlungen und Häuser in der Prärie errichtet hatten. Der Pioniergeist war ihnen geblieben, und genau wie die Pioniere wussten sie, was man tun musste, um zu überleben: Man betete frühmorgens und abends, und dazwischen arbeitete man den lieben langen Tag im Schweiße seines Angesichts.

Die Bauern vergrößerten ihre Kuhherden, verkauften die Sahne und fütterten die Hühner und Schweine mit der entrahmten Milch. Doch es war nicht der Weizenpreis allein, der dem Land zum Verhängnis wurde.

Es war der Zorn Gottes.

Das behauptete jedenfalls Gayle Franklins Daddy. »Ganz recht, mein Schatz, der Zorn Gottes. Wir hätten auf das Land achtgeben müssen, hat er uns nicht deshalb hierhergeführt? Aber die Leute sind gierig geworden.«

Gayle hatte große Angst vor Gott.

Schon 1932 war ein trockenes Jahr gewesen, und es wurde immer schlimmer. Staub bedeckte die brachliegenden Felder. Noch nie habe er so einen Wind erlebt, wie er jetzt übers Land pfiff, erzählte Bart Franklin seiner kleinen Tochter, noch nie solche Stürme, wie sie von Zeit zu Zeit über sie hinwegzogen. Biblisches Wetter, so nannte er es. Sengende Hitze, Dürre und Windböen, die die wenigen Feldfrüchte, die noch wuchsen, unter einer Staubschicht begruben.

Diese endlose trockene Ödnis wurde als Dust Bowl bekannt. Die Staubschüssel.

Als Gayles Daddy einmal einen Whiskey zu viel getrunken hatte, sagte er, dass dieser Ausdruck zu niedlich und beinahe heimelig klang. Das hier sei keine Staubschüssel, sondern die Hölle. Gayle war sich sicher, dass er das nicht ernst gemeint hatte.

Obwohl …

Als der Boden zu trocken wurde, um Weizen und anderes Getreide darauf anzubauen, verlegten sich die Bauern auf Disteln. Als auch die Disteln eingingen, packten viele, die bisher durchgehalten hatten, ihre Sachen und zogen weg. Gayles Mutter und Vater blieben. Sie ließen sich nicht unterkriegen. Dann gruben sie eben Seifenwurz aus der kreidigen Erde, stopften sie in die Futtermühle und gaben sie den Tieren zu fressen. Mr. Yancey, ihr nächster Nachbar, bemühte sich ebenfalls nach Kräften, über die Runden zu kommen. Irgendwann fand ihn sein Sohn Chester tot in der grellen Sonne liegend. Herzinfarkt.

Blizzards, Tornados und Staubstürme suchten das Land heim, als wäre das Ende der Welt gekommen, und entwurzelten einen Großteil der Pflanzen. Große schwarze Wolken machten den Tag zur Nacht. Viele kapitulierten vor den Elementen und verzweifelten. Doch die Pioniere überlebten.

Die Bauern der Dust Bowl im Allgemeinen und die Bewohner von Hawley in Kansas im Besonderen waren der festen Überzeugung, dass sie alles, was ihnen aufgebürdet wurde, überstehen konnten, und auch Gayle Franklin zweifelte insgeheim nicht daran. In dieser Hinsicht war Gayles Daddy ein leuchtendes Vorbild.

Egal wie schlimm es noch werden mochte: Alles ließ sich überstehen, wenn sie den Glauben nicht verloren. Den Glauben an das Land und an sich selbst.

Eine törichte Vorstellung.

An einem glühend heißen Julinachmittag saß die neun Jahre alte Gayle auf der Veranda ihres Elternhauses und betrachtete ihre schmutzigen Füße. Sie hielt ein mit Wasser gefülltes Glas in der Hand, nahm einen Schluck, fuhr mit der Zunge über die gesprungenen Lippen und genoss die Feuchtigkeit. Das Wasser war zwar warm, im Vergleich zur Hitze des Tages aber immer noch kühl. Sie sah sich um, ob jemand sie beobachtete, dann ließ sie ein paar Tropfen auf ihren linken Fuß fallen und betrachtete fasziniert die dunklen Schmutzstreifen, die sie auf ihrer Haut hinterließen. Es hatte seit fast einem Monat nicht mehr geregnet, und wenn Daddy mitbekam, dass sie Wasser verschwendete, würde er ihr den Hintern versohlen. Aber es fühlte sich gut auf der Haut an und sah interessant aus.

Ein Windstoß rüttelte an der Haustür. Das kleine Mädchen runzelte die Stirn und sah nach Westen, in die Richtung, aus der der Wind gekommen war.

Der Horizont war pechschwarz. Schwarze Wolken fraßen den blauen Himmel. Ein Sturm war im Anzug. Endlich Regen, dachte Gayle. Doch wenn der Sturm zu heftig wurde, gab es zwar Wasser, aber keine Pflanzen mehr.

Eine weitere Bö fuhr in ihr Haar. Staub brannte in ihren Augen. Sie hob die Hand, um ihn abzuwischen. Der Wind schlug die Tür immer wieder auf und zu.

Dann ließ der Wind einen winzigen Augenblick lang nach. Sie sah ihren Daddy, der in einiger Entfernung durchs Maisfeld ging. Die Pflanzen waren von der Trockenheit welk, trotzdem konnten sie sich glücklich schätzen: Den meisten Bauern in Hawley war der Mais in diesem Sommer eingegangen. Eine dunkle, steife Gestalt pendelte zwischen den Stauden hin und her – die Vogelscheuche, die Daddy aufgestellt hatte, sobald die Pflanzen einigermaßen gewachsen waren.

»Ein frommer Wunsch«, hatte Momma dazu gesagt. Gayle wusste nicht so recht, wie sie das gemeint hatte, aber besonders nett hatte es nicht geklungen.

Daddy drehte sich um und ging mit dem stärker werdenden Wind im Rücken auf sie zu. Plötzlich fegte eine heftige Bö über sie hinweg, und ein Krach ertönte, so laut wie Daddys Schrotflinte. Die Vogelscheuche kippte um und purzelte über das Feld. Der Wind hatte die Holzstange, an der sie befestigt war, glatt auseinandergebrochen.

Noch hatte der Sturm das Farmhaus nicht erreicht.

Gayle beobachtete gespannt, wie die schwarze Wand auf sie zukam.

Dann flaute der Wind ab. Ihr Haar fiel wieder auf ihre Schultern und die Tür schlug nicht länger auf und zu, aber sie ließ sich nicht täuschen.

Der Sturm war noch längst nicht vorüber, und er brachte die Finsternis mit sich.

BLUTBESUDELT OZ

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