Читать книгу BLUTBESUDELT OZ - Christopher Golden - Страница 9
ОглавлениеVier
Gayle Franklin schluckte den heißen Staub auf ihrer Zunge herunter und blickte mit großen Augen zum Himmel auf. Noch war es windstill. Durch das Fenster sah sie, dass der sich setzende Staub so dicht wie Mitternachtsnebel in der Luft hing.
Der Sturm kam direkt auf sie zu. Die gewaltige Wand aus wirbelndem Staub und Wind in Hurrikanstärke drohte sie zu verschlingen. Sie musste von hier weg, doch ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Ihr Vater rannte so schnell, wie er konnte, durch das Feld auf das Haus zu. Dabei hielt er sich ein Taschentuch vors Gesicht, damit er inmitten der dichten grauen Schleier überhaupt Luft bekam. Jeder seiner Schritte wirbelte eine kleine Staubwolke auf. Gayle sah seine vor Entsetzen aufgerissenen Augen.
»Pa …«, rief sie mit zitternder Stimme.
Früher war er groß und stark gewesen, jetzt nur noch so klapperdürr wie die Vogelscheuche, die der Wind mitgerissen hatte. Der Sturm hatte Beute gewittert und war ihrem Vater auf den Fersen. Wieder rief sie nach ihm, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Die mitternachtschwarzen Wolken näherten sich. Noch bevor sie den Boden berührten, schienen schattenhafte Gestalten daraus aufzusteigen, doch das war natürlich Einbildung. Oder hatte sie etwa Fieber? Jedes Kind – zumindest jedes Kind, das in Kansas aufgewachsen war – wusste, dass ein Tornado nichts mit sich reißen konnte, wenn er den Boden noch nicht berührt hatte.
»Lauf, Pa … schneller …« Gayle legte eine Hand auf die Fensterscheibe. Gerade eben war sie noch warm gewesen, jetzt fühlte sie sich eiskalt an. Sie sah von ihrem Vater, der jetzt schon viel näher gekommen war und mit wirbelnden Beinen auf das Haus zurannte, zur Farm von Lorenzo und Enid Yancey hinüber. Die beiden hatten ebenso hart gearbeitet wie Gayles Eltern, wenn auch mit weniger Erfolg. Plötzlich fuhr der Tornado wie der Finger Gottes auf das Dach des ihr so vertrauten Gebäudes nieder.
Starr vor Schreck trat Gayle vom Fenster zurück. Die Yancey-Farm löste sich einfach auf, wurde vom Tornado verschluckt. Das gerade noch so dünne Ende der Windhose hatte sich in einen wirbelnden Derwisch verwandelt, der brüllend und zuckend das Heim der Yanceys dem Erdboden gleichmachte.
Gayle sah zum Himmel auf und rechnete halb damit, in eine wütende Fratze mit einem abscheulichen Mund und Augen aus Blitzen zu blicken, aber in den schwarzen Wolken war nichts zu erkennen. Das war nur ein schwacher Trost. Dass der rasende Sturm kein Gesicht hatte, machte es auf gewisse Weise sogar noch schlimmer.
Die Haustür wurde aufgerissen. Der Wind knallte sie wieder und wieder gegen die Wand. Dumpfe Trommelschläge, die ihr beinahe ebenso große Angst machten wie das Gebrüll des Tornados.
»Gayle! Mach, dass du da runterkommst! Ein Tornado ist im Anmarsch!«
Als sie die Stimme ihres Vaters hörte, atmete sie tief aus. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Es war ihr unmöglich, die Augen von dem gewaltigen Trichter abzuwenden, der zuckend durch die Luft tanzte. Einen kurzen Augenblick lang glaubte sie sogar, Engel am Himmel zu sehen, die sich gegen die Wolken stemmten und vergeblich versuchten, das Unwetter aufzuhalten.
Doch das war unmöglich. Was waren das für Engel, die nicht mit einem Sturm fertigwurden? Trotzdem, sie hätte schwören können, dass da gerade Männer mit Flügeln aus gewaltigen Höhen zu Boden gestürzt waren. Gefallene Engel – oder Dämonen, die im Gefolge des Tornados das Land nun restlos ausplündern und verwüsten wollten.
»GAYLE!«
Der Ruf ihres Vaters riss sie aus ihrer Schockstarre. Gayle lief aus ihrem Zimmer und in den Flur. Im Haus war es nicht sicher, es konnte nicht sicher sein. Dessen war sie sich genauso bewusst, wie sie auch wusste, dass der Blick aus dem Fenster nicht mehr derselbe sein würde.
Die Treppe knarrte und schien unter ihren Füßen zu schwanken, als sie nach unten rannte. Ihre Augen brannten von dem Staub, der durch die geöffnete Haustür wehte. Ihr Vater wartete im Türrahmen auf sie.
»Nun mach schon, Schatz! Schnell!«
Pa war so viel dünner als früher, trotzdem hob er sie auf, als wäre sie noch ein kleines Kind, und trug sie über den Hof zur Falltür hinüber, die in den Sturmschutzkeller führte. Ihre Mutter wartete bereits davor. Sie hatte einen der hölzernen Türflügel geöffnet und musste sich förmlich dagegenstemmen, damit ihn der Wind nicht wieder zuschlug. Die Falltür führte in die Tiefe der Erde hinab. Gayle war es dort unten immer unheimlich gewesen.
Hinter ihrer Mutter ragte jene grauenerregende Finsternis auf, die den Tag verschluckt hatte. Gayle hörte nichts bis auf das ohrenbetäubende Brüllen des Tornados, der sich aus den Wolken gelöst hatte und nun, eine Spur der Verwüstung hinter sich herziehend, auf ihr Haus zukam.
Sie taumelte die Holztreppe hinunter und lief zitternd in die vollkommene Dunkelheit des Sturmschutzkellers. Ihre Mutter, eine starke Frau, die vor der Zeit gealtert war, folgte ihr auf dem Fuß. Ihr Vater kam als Letzter. Er blieb kurz stehen, um die Falltür zu schließen und sie mit einem Querbalken zu sichern, der dicker war als sein Oberschenkel.
Dann kauerten sie sich im kühlen, dunklen Kellerraum eng aneinander. Gayle fragte sich, was von der Farm wohl übrig bleiben würde, wenn die Wut des Sturms nachließ. Sie schloss die Augen und klammerte sich in der Finsternis an ihre Eltern. Über ihnen heulte der Sturm und rüttelte an den hölzernen Türflügeln. Sie kniff die Augen fest zusammen, um die Albträume und die Nacht auszusperren.