Читать книгу BLUTBESUDELT OZ - Christopher Golden - Страница 8
ОглавлениеDrei
Jeremiah schrie herzzerreißend und wollte gar nicht mehr aufhören. Nur eins konnte ihn beruhigen: Elisa nahm das Baby in die Arme und gab sich alle Mühe, nicht zusammenzuzucken, als sie es an die entblößte Brust hob. Der Kleine zahnte und ihre Haut wurde immer empfindlicher. Das brennende Stechen war jedoch nichts im Vergleich zu den drückenden Kopfschmerzen. Es war, als ob die Faust eines Riesen im Takt ihres Herzschlags gegen ihren Schädel trommelte.
Tief durchatmen, sagte sie sich. Etwas frische Luft hilft sicher. Und ein paar ruhige Minuten … ohne sich zu zanken.
Sie liebte ihren Mann, aber Stefan war auch der Grund dafür, dass sie Kopfschmerzen hatte. Elisa hatte zwar den Streit vom Zaun gebrochen, aber dass keine Versöhnung in Sicht war, lag allein an seiner Sturheit. Sie bereute, ihn angeschrien zu haben. Jetzt konnten sie nicht einmal mehr so tun, als wäre alles in Ordnung.
Schweigend saßen sie nebeneinander auf dem Kutschbock. Stefan hielt die Zügel in der Hand und vermied es, sie anzusehen.
Manchmal wusste sie gar nicht mehr, wie es vor ihrer Ankunft in Amerika gewesen war. Bevor seine Träume und die Geburt ihres Sohnes alle Hoffnung auf ein ruhiges und friedliches Leben zunichtegemacht hatten. Elisa liebte Jeremiah von ganzem Herzen – und sie liebte auch Stefan, trotz allem. Doch das Leben, das sie führten, machte sie zutiefst unglücklich. Jedes Mal wenn sie sich darüber beschwerte, gerieten sie sich in die Haare. Stefan wollte sich einfach nicht eingestehen, dass seine Träume sie auf einen trügerischen Pfad geführt hatten. Dass das alles ein großer Fehler gewesen war … dass es das Beste war, wenn sie Kansas verließen und woanders von vorne anfingen.
Elisa zuckte, als Jeremiahs Zähne ihre Brustwarze streiften. Sie sah auf sein Gesicht hinab, und die zufriedene Müdigkeit darin war das größte Glück, das ihr in dieser Welt beschieden war. Solange sie Jeremiah hatte, konnte sie alles ertragen.
Sie beugte sich vor und drückte einen Kuss auf die Stirn des Babys. Als sie den Kopf wieder hob, bemerkte sie, dass Stefan sie mit liebevoller und gleichzeitig reumütiger Miene beobachtete. Doch dann schüttelte er nur stumm den Kopf und ließ den Blick zum immer dunkler werdenden Horizont schweifen.
Als er einen Moment später doch etwas sagte, tat er das mit tonloser, gepresster Stimme. »Da braut sich was zusammen. Wahrscheinlich ein Staubsturm. Wir müssen irgendwo Schutz suchen.« Der Wagen, auf dem sie saßen, schlingerte knarrend über den unebenen Boden wie ein Schiff auf stürmischer See.
Elisa biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte ihn ja gerne darauf hingewiesen, dass sie wohl leichter einen Unterschlupf finden würden, wenn er nicht ausnahmslos alle Farmer in der Umgebung übers Ohr gehauen hätte, verkniff sich die Bemerkung jedoch und betrachtete stattdessen die hohen Wolkenberge am Himmel. Schon musste sie die ersten Staubkörner aus den Augen blinzeln. Sie umklammerte Jeremiah an ihrer Brust noch fester. Ihm zuliebe war es das alles wert. Sogar die Betrügereien.
Sich darüber zu ärgern war sinnlos, und doch stieg Wut in ihr auf. Sie stammte aus einer Roma-Familie, die in genau solchen Wagen durch ganz Europa gezogen war. Das war allerdings schon drei Generationen her, und sie wollte nicht mehr so leben wie ihre Vorfahren. Sie war auf die Schule gegangen und hatte sich – mit den Worten ihrer Mutter – zivilisieren lassen. Das war bei Gott nicht das Leben, das sie sich wünschte.
Alles, was Stefan tat, tat er um der Familie willen. Sogar wenn er sein Gebräu aus Kampfer und Alkohol mit den absurdesten Versprechen unter die Leute brachte, tat er dies um der Familie willen. Das konnte sie ihm verzeihen. Doch ohne seine verdammte Rastlosigkeit, die sie überhaupt erst in diesen gottverfluchten Landstrich geführt hatte, wären diese Lügen gar nicht erst notwendig gewesen. Als Fischverkäufer in Boston war er zwar nicht reich geworden, doch sie hatten ihr Auskommen gehabt und in einem richtigen Haus gewohnt. Stefan dagegen war jedoch nach wie vor der festen Überzeugung, dass er es als fahrender Händler zu Wohlstand bringen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen konnte.
Der dem Sturm vorauseilende Wind peitschte Elisa dicke, lockige Haarsträhnen ins Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Der Staub tanzte in geisterhaften Wolken auf dem viel befahrenen Weg.
Stefan zog an den Zügeln und rief den Pferden etwas zu. Der Wagen hielt an.
»Elisa! Bring Jeremiah nach hinten!«
Seine Stimme klang angespannt. Nicht aus Wut. Sondern aus Furcht.
Dichte Wolken rollten wie eine dunkle Flutwelle langsam auf sie zu. Schwarze Finger streckten sich aus dem Himmel nach dem Boden aus. Sie hatte selbstverständlich schon Tornados gesehen, war ihnen aber noch nie so nahe gekommen. Vier dünne Säulen aus Staub und Schmutz stoben in alle vier Himmelsrichtungen davon, und wo sie die trockene Erde berührten, hinterließen sie eine Spur von Tod und Zerstörung.
Der Sturm heulte. Elisa stieg mit Jeremiah an der Brust vom Kutschbock, umrundete den Wagen, schlug die Segeltuchplane vor dem hinteren Einstieg zurück und kletterte hinein. Stefan rief den Pferden etwas zu. Sie setzten sich wieder in Bewegung, und er lenkte den Wagen von der Straße auf ein brachliegendes Feld.
Eilig zurrte sie die wenigen Gegenstände fest, die noch nicht gesichert waren. Stefans Elixiere dagegen hätte sie am liebsten aus dem Wagen geworfen. Die vielen Kruzifixe, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte, baumelten an Ketten und Haken von der Decke und den Wänden. Durch das kleine Fenster war ein wild tanzender Mann zu sehen, der mit rudernden Armen im Kreis lief.
Jeremiah nahm den Mund von ihrer Brustwarze, machte ein Bäuerchen und sah sie mit so viel Vertrauen und Liebe an, dass sie unweigerlich lächeln musste, bevor sie erneut den Kopf hob und aus dem Fenster blickte. Der tanzende Wahnsinnige taumelte direkt auf den Wagen zu. Der Schrei, der auf Elisas Lippen lag, verwandelte sich in ein erleichtertes Seufzen, als sie merkte, dass es sich nur um eine Vogelscheuche handelte, die der Wind aus dem Boden gerissen hatte. Das Leinwandgesicht wurde gegen die Scheibe gedrückt. Einen Augenblick lang starrten zwei schwarze Knopfaugen in den Wagen, dann forderte der Wind seinen Tanzpartner zurück.
Elisa musste das Kind mit beiden Händen festhalten, als der Wagen ins Schlingern geriet und sich gefährlich nach links neigte. Durch das Fenster erhaschte sie einen Blick auf ein Farmhaus, das im nächsten Moment von einem gewaltigen schwarzen Tornado dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Stefan hatte die Zügel fest umklammert und schrie den ängstlich wiehernden Pferden einige saftige Flüche zu. Er musste seine Familie in Sicherheit bringen. Elisa schloss die Augen und hielt den Atem an. Lose Bretter und Dachpappe wurden durch die Luft geschleudert – mehr war von dem Haus, das der Wut des Sturms zum Opfer gefallen war, nicht geblieben.
Elisa legte sich flach auf den Boden des Wagens und schützte ihren Sohn mit ihrem Körper. Sie glaubte nicht an Gott – doch genauso wenig glaubte sie, dass es das Schicksal ihrer Familie war, diese beschwerliche Reise auf sich genommen zu haben, nur um auf einem verödeten Acker zu sterben.
Ein Schauer aus Trümmerteilen, Steinen und Staub prasselte auf den Wagen nieder. Sie hörte Stefan beten. »Lieber Gott«, rief er in den heulenden Sturm, »bitte gib auf Elisa und Jeremiah acht. Schütze uns und halte deine Hand über uns und errette uns vor dieser und allen Gefahren. Amen.«
Elisa würde nicht beten.
Trichterwolken versperrten ihnen den Weg, schienen sie förmlich zu umzingeln. Doch sie würde nicht beten.
Wenn es denn einen Gott gab, dann war er sicher vor langer Zeit taub geworden.