Читать книгу Die mit den tausend Kindern - Clara Viebig - Страница 3

Erstes Kapitel

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Wer von euch kann das lesen, was hier steht?« Die junge Lehrerin lächelte in die Klasse hinein, der Zeigefinger ihrer Rechten wies auf die Tafel, die gross und schwarz von der Wand herabsah. Kleine Papptäfelchen waren wie auf Schienen in die grosse Tafel hineingeschoben, und von jedem dieser weissen Pappvierecke bohrte sich ein glänzend schwarzer, grosser Druckbuchstabe den Kindern in die Augen.

»Nun?!« Das Lächeln wurde noch stärker, die Stimme noch auffordernder, liebenswürdig zuredend: »Du, Irmchen, du kannst es gewiss lesen?«

Die Kleine mit den zwei winzigen Zöpfchen, die rechts und links hinter den Ohren abstanden, schwieg.

»Ich! Ich! Ich!« Ein Chor von Stimmen erhob sich, ein Durcheinanderschreien. Ausgestreckte Zeigefinger stachen der Lehrerin fast ins Gesicht.

Mit einer geduldigen Handbewegung schob die Blonde die ungebärdigen Kinderarme beiseite: »Wartet, wartet, ihr kommt alle dran — aber, Senta, du kletterst ja sogar auf die Bank! Ich weiss, ich weiss ja, du kannst es, aber setz dich mal schnell! Du, Hildegard, komm du mal her an die Tafel, lies du’s uns vor.«

Ein zierliches Dingelchen mit einem Stupsnäschen schob sich aus der Bank und lief nach vorn, nein, stürzte so eifrig vor, dass es fast über ein mutwillig vorgestrecktes Bein zu Fall gekommen wäre. Es erkletterte den Schemel auf dem Tritt des Katheders — nun reichte es hinauf bis zur Wandtafel, nun tippte sein Fingerchen die Buchstaben an, und nun las es strahlend mit durchdringend dünner Kinderstimme: »Haus!«

»Richtig.« Die Lehrerin nickte zustimmend. Jetzt trat sie an den Setzkasten auf ihrem Tisch, wählte ein anderes Papptäfelchen und vertauschte das mit dem H. »Was habe ich nun geschrieben?«

»Gedruckt,« verbesserte eine Vorlaute.

»Geschrieben oder gedruckt, das ist für uns ja noch dasselbe. Aber, Magdalene, nun komm du mal raus, lies du uns vor, was ich jetzt gedruckt habe!«

Die blasse Kleine stand verlegen, ihre grossen Augen blickten hilflos.

»Ich! Ich! Aber ich, Fräulein, ich weiss es!« Wieder das Durcheinander der Stimmen, das Aufspringen, das Recken der Arme, das Stechen der Zeigefinger, all das ungestüme Verlangen des Andie-Reihe-Kommens.

Und wieder dieselbe geduldige Handbewegung, die die gereckten Arme beiseite schob und die zappelnden Kinderkörper auf die Bank niederdrückte. Und wieder dasselbe Lächeln, und wieder dasselbe liebenswürdige Beschwichtigen: »Ja, ja, schon gut, ihr wisst es alle! Du weisst es ja auch, Kind, sieh nur gut hin. Ich habe das ‚H‘ fortgenommen und statt dessen — nun, was habe ich statt dessen wohl hingesetzt?«

»Ein R,« tönte es zaghaft.

»R?«

»Rrrrrrr,« schnarrte es plötzlich durch die Klasse.

»Das ist doch kein ‚R‘.« Die Lehrerin lachte gutmütig.

Da fingen sie alle gleich an mitzulachen. Ein nicht endenwollendes, ausgelassenes Gelächter: Ein R? Zum Totlachen, zum ganz Mausetotlachen! Für Minuten schien die Klasse der vierzig von einem Freudentaumel erfasst, die Sechsjährigen hüpften auf ihren Plätzen wie von Springfedern geschnellt. »Hau, Fräulein, die sagt ‚R‘! Wie dumm! Hau, was is die so dumm! Rrrrrrrr.«

Kaum dass die Stimme der Lehrerin durchdringen konnte: »Ruhe!« Der Schweiss war Marie-Luise auf die Stirn getreten: Oh, was hatte sie da gemacht! Gelacht. Sie hätte nicht lachen dürfen. Das war ja auch gar nicht zum Lachen; sie selber war viel dümmer gewesen als das dumme Kind. Aber die Stimme der Kleinen hatte so komisch geklungen, so überzeugt von der Richtigkeit und glücklich über die eigene Entdeckung.

In Marie-Luises Gesicht verschwanden schnell die zart angedeuteten Grübchen, sie mühte sich, sehr ernsthaft zu blicken: »Ruhe! Ganz schnell! Legt eure Hände zusammen. Ich zähle bis drei, und wenn ich drei gesagt habe, darf keine mehr lachen. Eins — zwei — drei!«

Nun war es endlich still. Aber das Kind, das noch immer vorne gestanden hatte, den Finger am Mund, völlig eingeschüchtert, weinte plötzlich laut auf, stürzte auf die Lehrerin zu und verbarg seinen Kopf in deren Kleid. Ach, es konnte ja den hässlichen Buchstaben nicht erkennen, wusste nicht, wie das Wort jetzt hiess. Aber sie sollten nicht lachen, nein, es nicht auslachen. »Bei meine Mutti, ich möchte bei meine Mutti!«

Ganz erschrocken beugte sich die Lehrerin nieder: »Aber, Lenchen, was ist dir denn?«

»Fräulein, sie weint, weil Sie böse mit ihr sind,« schrien welche.

»Aber ich bin doch gar nicht böse mit ihr — Ruhe, setzt euch! Mein Lenchen, nun weine doch nicht!« War das ein nervöses Kind! Und wie es schien, auch ehrgeizig und verletzt über das Lachen. Begütigend legte die Lehrerin ihre Hand auf das an ihr Kleid gedrückte Köpfchen. Ach, so ein bleiches, sehr zartes Kind! Marie-Luise fühlte etwas warm zu ihrem Herzen rinnen, in mitleidiger Regung flüsterte sie: »Musst nicht weinen, Lenchen. Komm, ich sag dir’s ins Ohr!« Und sie bückte sich zu dem kleinen Ohr: »M — mmmmmm — nun sag’s!«

Aber Lenchen Krause sagte es nicht. Es war überhaupt nichts mehr aus ihr herauszubringen. Sie sass in ihrer Bank, den Kopf aufs Pult gelegt, und weinte in sich hinein: »Mutti!«

»Fräulein, ihre Mutter is ins Krankenhaus,« wusste die Trude Schindler.

»Im Krankenhaus, es heisst: im Krankenhaus.«

Trude Schindler, ohne sich zu verbessern, fuhr geschwätzig fort: »Sie wohnen bei uns ins Haus — und ihr Vater — na, Fräulein, der —!« Sie zog die Achseln hoch, legte den Kopf, mit der grossen Haarschleife in der strubbligen Mähne, schief auf die Seite und verzog den Mund.

Sah die kaum Siebenjährige in diesem Augenblick nicht genau so aus wie die Frauen, die, Korb oder Tasche am Arm, an den Kellerausgängen und in den Vorfluren standen und klatschten? Die blonde Lehrerin machte »Pssst« und hob abwehrend die Hand: wie unangenehm dieses Kind. Aber das arme kleine Lenchen, die Mutter im Krankenhaus, und der Vater — was war bloss mit dem Vater? Doch jetzt war keine Zeit, zu fragen, das Kichern in der Klasse, das Füssescharren, die Unruhe nahmen sonst kein Ende. Man musste die Kinder wieder durch anderes fesseln, ihre Anteilnahme auf Neues lenken. Marie-Luise klatschte in die Hände: »Also, Kinder, nun wissen wir’s endlich: Das da ist ein ‚M‘, und das Wort« — wieder klatschten ihre Hände wie bei munterm Spiel — »das Wort, das erst Haus hiess, das heisst nun —?«

»Maus,« schrie es jubelnd im Chor.

»Richtig!« Die Lehrerin schien ungeheuer erfreut: »Da haben wir’s ’raus: Maus, Maus. Nun sagt mir aber mal, Kinder, wer von euch hat denn schon mal eine Maus gesehen? Du, Senta, hast du eine gesehen? Ist sie gross, ist sie klein?«

»Gross.«

»Na, na, gross kann man doch wirklich nicht sagen. Sie ist doch klein, ganz klein.«

»Aber ‚Maus‘ sagt doch immer der Herr, der bei uns wohnt, zu meine Schwester, und die is doch schon so gross.«

In das blonde Mädchengesicht stieg eine helle Röte, alle Geister des Humors spielten um die Mundwinkel. Aber ihr Lächeln bezwingend, sagte die junge Lehrerin: »Nein, solch eine Maus meine ich nicht. Ich meine die Maus, die ein graues Fellchen hat und einen langen Schwanz, und die so — husch, husch, seht, so wie ich so flink durch die Küche huscht und sich ein Krümchen holt, was am Boden liegt.«

»Fräulein, wir haben zu Haus ’ne Maus!«

»Wir auch! Wir auch!« Eifersüchtig schrie es im Chor. Sie wollten jetzt alle eine Maus haben. Oh, das war was Schönes, so eine Maus! Dann quiekte die Mutter ganz laut, und die grosse Schwester auch und sprang auf einen Stuhl, und man schrie mit, so laut man nur konnte. »Aber Vater sagte: ‚Die verfluchte Maus‘ und schlug ihr tot.«

»Schlug sie tot, schlug sie tot,« verbesserte die Lehrerin. »Aber warum denn gleich die kleine Maus totschlagen? Ach, die lebt doch auch gern; so gern wie ich, so gern wie du, Senta, wie du, Erika, wie du, Else, wie ihr alle. Und die hat vielleicht in ihrer Wohnung unter der Diele ein Nest mit Kinderchen, denen sie das Krümchen Brot bringen wollte zum Mittagessen. Soll ich euch mal die kleine Maus da an unsere grosse Maltafel malen?«

»Die Kinder auch, die Mausekinder im Nest!«

»Die hat ja gar kein Nest,« schrie die Trude mit der grossen Haarschleife, »die hat nur ’n Loch. Die muss man totschlagen. ’ne Maus is bloss Ungeziefer.«

‚O du unausstehliches Kind,‘ dachte Marie-Luise, aber ihr geduldiges Lächeln blieb. »Nun, wart mal erst ab, Trude, bis du meine kleine Maus siehst; vielleicht, dass du sie dann doch nicht mehr totschlagen willst.« Rasch die Kreide aus dem Tischfach nehmend, zeichnete sie mit energischen Strichen ein Etwas an die Maltafel, das man wohl mit einiger Phantasie für eine Maus ansehen konnte. Bunte Kreide wurde zu Hilfe genommen; die graue Maus lief zu einem roten Ziegelherd, auf dem Kochtöpfe, blaue, grüne, gelbe standen, und trug ein weisses Stück Zucker, so gross wie ihr ganzer Kopf, mit sich fort in ihr Nest unterm Kochherd.

Ein grosses Maltalent war die blonde Lehrerin nicht, andere Lehrerinnen entwarfen weit bessere Bilder, aber die Kinder erkannten doch jubelnd die Maus und den Kochherd, die Töpfe und auch den Zucker. Nun wurde eine Mutter noch hingemalt, und die sprach mit der Maus.

Es war ein Gedicht, das die Kinder gelernt hatten. Ein Kind sprach die Frau:

»Mäuschen, was schleppst du dort

Mir das Stück Zucker fort?«

Ein anderes das Mäuschen. Die kleine Gerda mit dem Stupsnäschen hatte ganz das feine Piepstimmchen dafür:

»Liebe Frau, ach vergib,

Habe vier Kinder lieb;

Waren so hungrig noch.

Gute Frau, lass mir’s doch!«

Selbst Trude Schindler war entwaffnet: das war wirklich ulkig. Sie würde das Mäuschen nun nicht mehr totschlagen wollen.

Und nun sprach die ganze Klasse — vierzig Kin- — der etwas plärrend und durchaus nicht melodisch, aber wie aus einem Munde:

»Da lachte die Frau in ihrem Sinn

Und sagte: ‚Nun, Mäuschen, so lauf nur hin!

Ich wollte ja meinem Kinde soeben

Auch etwas für den Hunger geben.‘ —

Das Mäuschen lief fort, o wie geschwind!

Die Frau ging fröhlich zu ihrem Kind.«

Draussen hub jetzt die Schulglocke an. »Oh,« machten die Kinder bedauernd, sie hätten noch gern mehr von der Maus gehört. Aber für ein Ohr, das vier Stunden lang wie taub gemacht worden ist durch die schrillen Stimmen von Kindern, die alle, alle etwas sagen wollen, war dies blecherne, schetternde Läuten Musik.

Mit einer müden Bewegung fuhr Marie-Luise sich über die Stirn, sie fühlte es da wie einen drückenden Reif. Die Luft in der Klasse war nicht schlecht, halb aufgestellte Oberlichter sorgten für Erneuerung, aber es war doch Schulluft, trocken, staubig, verbraucht. Und von draussen die Luft war die des Schulhofes, der eingebaut lag zwischen hohen Mauern, der nicht das Glück hatte, in den Aussenvierteln der Stadt zu liegen. Freie Weiten, Wiesen, Felder, unbegrenzte Aussichten, wo waren die! — Es war Marie-Luise Büchner nicht ganz leicht gewesen, sich einzugewöhnen; gerade an dieser Schule nicht. Von anderen Kolleginnen waren viele an Schulen, die neuer waren, Verbesserungen und alle hygienischen modernsten Einrichtungen aufwiesen. Und sie wohnten auch näher.

»Was?! Im westlichen Vorort wohnen Sie, Fräulein Büchner? Nicht möglich! Mein Gott, das ist ja so weit!«

Nein, nein, das machte ihr gar nichts! Sie war ja zu froh, endlich, endlich die ersehnte Tätigkeit gefunden zu haben. Andere warteten freilich noch länger: sieben, acht, neun, sogar zehn Jahre. Es grauste Marie-Luise, wenn sie an die vielen unbeschäftigten Junglehrer und Junglehrerinnen dachte: Hunderte, viele Hunderte — waren es ihrer vielleicht gar Tausende?! Seltsam fade und öde wurde es ihr ums Herz, wenn sie sich blasse, abgespannte Gesichter vorstellte, Gestalten, die wie auf der Lauer lagen, wie zum Sprung bereit auf ein Ziel, das sie doch nicht erreichen konnten. Auch sie hatte dieses Ziel kaum erwarten zu können gemeint.

Die mit den tausend Kindern

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