Читать книгу Die mit den tausend Kindern - Clara Viebig - Страница 7

Fünftes Kapitel

Оглавление

So spät war Marie-Luise noch nie nach Hause gekommen, wie nach dem Vortrag ‚Bekenntnisschule oder Weltanschauungsschule‘. Die Mutter sass noch auf, hatte die Tochter in zitternder Angst erwartet — es ging ja schon auf eins.

»Wo bleibst du — was ist dir passiert — um Gottes willen!« Der zitternden Angst antwortete eine zitternde Freude: »Ich habe Marga getroffen.«

»Wen — was — wo denn? Wer ist Marga?« Keine Ahnung mehr hatte die Frau Professor von Marie-Luises Freundin vom Seminar. Aber sie liess die Tochter erzählen, dazwischen jammerte sie nur immer wieder: »Wenn dich nun einer angefallen, gar ermordet hätte! Man hört ja so vieles! O mein Gott, mein Gott! Wir armen einsamen Frauen — schrecklich, schrecklich!« Sie weinte noch stundenlang, so dass Marie-Luise auf ihrem Sofa im Esszimmer auch keinen Schlaf fand. Oder hatte das Wiederfinden der Jugendfreundin sie so erregt?

Für gewöhnlich schlief Marie-Luise immer gleich ein, selbst wenn die Mutter ihre Erregungszustände hatte; sie kannte so etwas ja schon seit Jahren. Diese Zustände waren freilich schlimmer geworden in der letzten Zeit und kamen häufiger. Es klappte gar nicht recht mit den Glässners.

Die Glässners waren gutmütige Leute — hatte Frau Glässner nicht die Cousine aus lauter Gutmütigkeit aufgenommen? — »Aber wenn Mathilde so ihre Tour hat, dann ist es nicht auszuhalten!« Herr Glässner verliess wie auf der Flucht die Küche, sobald die Frau Professor darin erschien, anfing mit den Töpfen zu rappeln, die Schubladen aufzog und wieder zustiess: »Wo hab’ ich denn, ach, was wollt’ ich denn? Dora, hast du mein kleines Küchenmesser nicht gesehen? Du hast es gewiss wieder weggenommen — ach nein, da ist es ja!« Und sie stiess einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und liess das Küchenmesser auf den Boden fallen, das sie schon längst in der Hand gehabt hatte.

Es stand nicht gut mit der Mutter, das sah Marie-Luise; es war schlimm, dass sie die so viel allein lassen musste, ihre Gegenwart wirkte immer beruhigend auf die nervöse Frau, aber sie musste doch in ihren Beruf. Und wenn sie’s auch nicht gemusst hätte, sie wollte. O Gott sei Dank, dass sie ihren Beruf hatte! Der gab ihr immer wieder von neuem die Freudigkeit, die sie sonst vielleicht nicht aufgebracht hätte.

Und heute war Marie-Luise besonders freudig gestimmt; es war noch ganz dunkel, als sie jetzt am Morgen zur Bahn ging. Spät erst war sie etwas eingeschlummert, um gegen sechs schon wieder aufzustehen. Nur zwei kurze Stunden Schlaf, aber sie war doch ganz frisch. Eine eisigkalte Morgenluft strich ihr ermunternd die Wangen, sie lief sich warm; um sieben ging der Zug, den sie erreichen musste, wenn sie um halb neun in der Schule sein wollte. Unter den hier draussen noch dick verschneiten Dächern flinzelte nicht überall Lichtschein, viele Häuser lagen noch im tiefsten Nachtfrieden, der Bäckerjunge, der die frischen Brötchen brachte, riss vergebens an der Klingel und warf dann schimpfend den Frühstücksbeutel über den Zaun. Aber vor dem Fräulein lüftete er höflich die Mütze: der hatte er schon öfter mal eine Semmel abgelassen. Marie-Luise verzehrte die dann mit Genuss im Laufschritt, frische Brötchen bekam sie ja nie zum Frühstück, sie verzehrte immer altbackene vom Tage zuvor. Der Kaffee wurde auch schon am Abend bereitet und in die Thermosflasche gegossen, dann war er noch heiss beim frühen Aufstehen. Das war nun einmal nicht anders, daran gewöhnte man sich rasch.

Marie-Luise spitzte die Lippen wie zu einem vergnügten Pfiff: Glück muss der Mensch haben, doch noch erreicht! Eben lief der Zug ein. Aber wie war sie auch gerannt, ebenso gerannt wie heute nach Mitternacht, als sie von Berlin zurückkam und das tiefe Schweigen einer Abgeschiedenheit sie umgab, die ihr trotzdem nicht einsam war. Neben sich fühlte sie noch die Freundin. Wenige Stunden war das jetzt her, wenige Stunden erst, dass Marga sie zum Bahnhof gebracht hatte. Die hatte sich das nicht verwehren lassen: »Ich nehme mir nachher ein Auto.« Ein Auto, welch eine Verschwendung! Aber Marga hatte gelacht: »Marie-Luischen, du bist doch noch immer das brave Kind: nur nicht ’nen Pfennig zuviel ausgeben. Ich bin längst nicht mehr so brav. Wer gibt mir was dafür, wenn ich mich nur schinde?! Ich tue mir an, was ich kann, denn ein Vergnügen ist das Lehrerin sein doch wahrhaftig nicht.« Marie-Luise war gar nicht mehr dazu gekommen, etwas hierauf zu erwidern, einen raschen, ihre Lippen fest drückenden Kuss hatte sie noch gespürt, dann war sie ins Kupee geschoben worden: »Auf Wiedersehen, aber sehr bald auf Wiedersehen!«

Der Herr neben ihr hatte dann das Fenster heruntergelassen, sich hinausgelehnt und so mit seinem breiten Rücken ihr jedes Winken unmöglich gemacht. Er sah neugierig nach der Gestalt, die schlank und elegant auf dem Bahnsteig zurückblieb, die Hände in den Taschen des Paletots und mit einem leicht amüsierten Lächeln dem Zuge nachsah. Marga Moebius dachte: Ach, ganz noch die frühere Marie-Luise, harmlos, pflichteifrig und noch so jung geblieben.

‚Nein, es ist doch die frühere Marga nicht mehr,‘ dachte Marie-Luise. Heute im kalten, nüchtern grauenden Tag erschien ihr manches anders als in der ersten Überraschung und Freude des Wiederfindens. Sie war wie in einer Verzauberung gewesen; alles war plötzlich wieder da, die Tage im Seminar, in denen man trotz alles Lernens nichts so ernst nahm, dass es einem auch nur eine Stunde das Lachen geraubt hätte. Was hatten sie doch alles für Unsinn angegeben, Marga war Anstifter, und sie hatte mitgemacht. Ach, all jene glücklichen Stunden steten Zusammenseins — gemeinsames Lernen, gemeinsames Spazierengehen! Am schönsten jene Stunden, in denen sie ihr frugales Abendbrot miteinander teilten, und Marga erst spät, nach zärtlichem Gutenacht, endlich hinüberschlich in ihr eigenes Bett. Marga hatte alles wieder hervorgezaubert — und war sie selber nicht auch bezaubernd? Marie-Luise konnte sich nicht genug wundern, wie elegant Marga geworden war; sie selber kam sich ganz altmodisch gekleidet dagegen vor. Und doch hatte Marga eigentlich nichts anderes an, als die meisten anderen auch: ein dunkles Kleid, einen Mantel mit Pelzkragen und ein kleines, tief in die Stirn gedrücktes Hütchen. Aber wie das alles sass! Und ein feiner Duft ging von ihr aus, ein Duft, der nicht aufdringlich war, und den Marie-Luise heute, selbst hier im Kupee, noch immer verspürte. Er haftete noch ihren Handschuhen an, ihren eigenen Händen, die Marga so lange in den ihren gehalten hatte.

Ah, wie sich Marga wohl in solcher Schule ausnehmen würde, wie die ihrige eine war? Marga und eine Schule im äussersten Osten! Kinder, die zum grossen Teil Proletarierkinder waren! Marie-Luise fand es eigentlich nur begreiflich, dass Marga nicht an solcher Schule war. Die hatte ihr erzählt, dass sie, nachdem sie erst zu nervös gewesen, dann doch das Examen wiederholt hatte. Und es war gar kein Wunder, dass sie, die Begabte, Interesse erregt hatte. Man hatte ihr geraten, noch einige Kurse durchzumachen, ein weiteres Examen, das sie dann zum Unterricht an höheren Schulen berechtigte. Eine reiche Familie aus Rio, deren Töchterchen sie während eines Deutschland-Aufenthaltes privatim unterrichtete, hatte ihr die Mittel dazu gewährt. Das erzählte Marga alles so nebenbei, es hatte Marie-Luise gewundert, dass sie nicht mit mehr Dankbarkeit von diesen Leuten sprach. Ein halbes Jahr war sie auch in Frankreich gewesen, und ein halbes Jahr in England. Nun unterrichtete sie schon seit ein paar Jahren an einer höheren Mädchenschule im westlichen Berlin. Freilich eine Karriere! Und schnell war es mit der gegangen. Marie-Luise wunderte sich nicht darüber: das war eben Marga, der die Zukunft schon immer mehr zu versprechen geschienen hatte als allen andern. Aber ob sie glücklich war in ihrem Beruf? »Ich hätte mir was anderes gewünscht,« hatte Marga kurz gesagt und dann geschwiegen. Und Marie-Luise hatte auch nicht weiter gefragt. Ihr Gespräch war ja so überfüllt gewesen von lauter Erinnerungen, dazwischen Händedrücke, Versicherungen der Freude, sich wiedergefunden zu haben, und Pläne, wie und wo man sich bald, recht bald wiedersehen würde. Ja, es war eine Freude, eine ungeahnt grosse, alles andere verdrängende Freude — Marga, Marga!

Es kam Marie-Luise jetzt erst zum Bewusstsein, dass ihr eigentlich immer etwas gefehlt hatte. Fräulein Ebertz war nicht so anziehend, dass man die Stunde herbeisehnte, in der man mit ihr zusammen sein konnte. Fräulein Ebertz — Herr Gott, sie musste sich gleich bei der entschuldigen, dass sie so fortgerannt war! Und sich bedanken. Denn war Fräulein Ebertz nicht eigentlich die Urheberin ihres ganzen Glückes? Wenn die sie nicht mit in den Vortrag geschleppt hätte! —

Fräulein Ebertz stand vor ihrer Klassentür und kam Marie-Luise heute noch unansehnlicher vor, noch alltäglicher als sonst. Das Zöpfchen am Hinterkopf war zu einem kleinen festen Knudel zusammengedreht; farblosgrau wie das Kleid war das Gesicht, die stumpfe Nase so klein, dass sie ganz ausdruckslos war — ach, nichts war schön an ihr, gar nichts.

Fräulein Ebertz war nicht guter Laune: das hätte sie der Büchner nicht zugetraut, dass die so rücksichtslos sein würde; nicht einmal vorgestellt hatte die sie. Als Marie-Luise etwas stammelte von Entschuldigung — ‚eine frühere Schulfreundin, plötzlich wiedergefunden‘ — sagte sie nur: »Na ja.« Aber es klang so resigniert, dass es Marie-Luise traurig berührte. Die hatte doch auch nichts, gar nichts: alt, hässlich, wie lange noch, und sie wurde auch abgebaut. Von der Höhe ihres Glückes herab flüsterte sie sehr eilig, denn die Schulglocke begann schon den Anfang zu läuten: »Liebes Fräulein Ebertz, ich danke Ihnen so sehr. Sie sind schuld — Sie müssen meine Freundin auch bald kennenlernen — eine Kollegin — die wird Ihnen ja so gut gefallen!«

»’ne Kollegin? ’ne Filmdiva, dacht’ ich.« Und Melitta Ebertz schlug die Tür ihrer Klasse rasch hinter sich zu.

Das hatte Marie-Luise verstimmt. Obgleich sie sich sagte: ‚die ist nun schon ganz verknöchert, man darf ihr weiter nichts übelnehmen, sie hat ja auch keine Ahnung von Höherem und was Marga ist‘, war von ihrer Freude doch plötzlich etwas abgebröckelt. Es war gut, dass ihre Kinder heute besonders lebhaft waren, ganz aufgeregt, und ihre Aufmerksamkeit stark beanspruchten.

Es schrien gleich mehrere bei ihrem Eintritt: »Fräulein, Lenchen Krause ihre Mutter is gestern gestorben. Die, wo so lange ins Krankenhaus war. Fräulein, wo kommt Lenchen nu hin, ins Waisenhaus?«

Ach, um Gottes willen! Lenchen Krause, das kleine bleiche Ding, das so verschüchtert sass und gleich verletzt war, selbst über ein Lachen, jetzt ohne Mutter? — »Ich will bei meine Mutti — bei meine Mutti —« Marie-Luise hatte noch das Weinen des Kindes von damals im Ohr. Eine Welle des Mitleids überflutete sie und spülte alles fort, was sie vordem erfüllt hatte. Es schoss ihr feucht in die Augen; sie setzte sich auf den Platz in der vordersten Bank, auf dem Lenchen heute fehlte, und stützte den Kopf in die Hand.

»Fräulein, sind Sie traurig? Warum?« Es war der Klasse sehr interessant, ihre Lehrerin traurig zu sehen. Warum war die traurig, die kannte Frau Krause doch gar nicht?!

»Man kann auch traurig sein, wenn man jemanden nicht persönlich kennt,« sagte Marie-Luise; aber das verstanden sie nicht. ‚Kinder sind grausam,‘ hatte die Ebertz gesagt, und das empfand Marie-Luise heute: grausame Neugier der Kinder. Sie bestürmten sie mit Fragen: Kam Frau Krause nun in einen Sarg? Kriegte Lenchen Krause nun ein schwarzes Kleid?

»Ich hab’ schon mal ’n Begräbnis gesehen,« tat eine sehr wichtig. »Da war ich mit bei. Als mein Bruder gestorben war. Denn spielten wir nachher so schön Begräbnis.«

»Still, still, ich will jetzt nichts mehr hören, kein Wort!« Marie-Luise hob abwehrend die Hand. »Setzt euch ganz ruhig hin, faltet eure Hände, legt sie so vor euch aufs Pult. Denke mal eine jede von euch jetzt ganz still bei sich nach: Wenn ich nun keine Mutter mehr hätte! Keine Mutter, die mich morgens weckt, dass ich rechtzeitig zur Schule komme, die mich wäscht und kleidet, dass ich sauber bin, die mir zu essen gibt, wenn ich hungrig bin, die mich auf den Schoss nimmt, wenn ich mir weh getan habe. Keine Mutter mehr, die mir die Tränen wischt, wenn ich geweint habe, keine Mutter mehr, die mich pflegt, wenn ich krank im Bett liege, keine Mutter mehr, die mich straft, wenn ich unartig bin, und die mir dann doch wieder verzeiht. Keine Mutter mehr, der ich alles sagen kann, keine Mutter mehr, die mich im Arm hält und mich immer behütet. Wenn ihr das alles mal bedenkt, dann wisst ihr, warum ich traurig bin, dass Lenchen Krause keine Mutter mehr hat.« Die Stimme der Lehrerin hatte weich und doch sehr ernst geklungen.

Die Gesichter der Kinder, die zuerst dumm-neugierig oder zum Teil auch unaufmerksam zugehört hatten, wurden nach und nach anteilnehmend. In manch leeres, noch gänzlich unbeschriebenes Kindergesicht kam etwas wie ein betroffener Ausdruck.

Marie-Luise fühlte sich sehr bewegt; es war das erstemal, dass der Tod ihrer Klasse nahe kam, dass sie das Rauschen schwarzer Flügel zwischen den Bänken verspürte. Es wehte sie kalt an. Armes Lenchen, armes kleines Lenchen! Hatte die Schindler damals nicht gesagt, Lenchen Krause wohne bei ihnen im Hause? Sie rief Trude Schindler auf: »Sag mal, weisst du etwas Näheres von Lenchen Krause? Ist sie zu Hause?«

Die mit dem Strubelkopf und der grossen nickenden Haarschleife hatte nur darauf gewartet, alles, was sie wusste, loszuwerden; sie brannte darauf. Ihre matten Augen begannen zu leuchten: »Na ja, wo soll sie denn sonst sein? Ihr Vater ist ja nu auch wieder da.«

Marie-Luise entsann sich: Lenchens Vater war lange nicht da — war er auswärts auf Arbeit gewesen? Sie hatte damals nicht danach gefragt, heute fragte sie.

»Aber, Fräulein, der hat doch gesessen!« Die Klatschsucht eines ganzen übervölkerten Hauses, das heimliche Geträtsch der dunklen Gänge, das aus den Kellerwohnungen die Treppen hinaufstieg von Stockwerk zu Stockwerk, bis es zuletzt selber so schmutzig war wie die Stufen, die von vielen, vielen Füssen belaufen waren, wurde jetzt laut. Die Siebenjährige mit dem Gesicht, das kein Kindergesicht mehr war, schwatzte drauflos: »Aber, Fräulein, der taugt doch nischt« — Marie-Luise war zusammengeschreckt bei dem Wort ‚gesessen‘ — »der hat fast nie Arbeit. Wenn sie nich Mäntel genäht hätte, hätten sie hungern müssen. Ja, das Leben is sehr teuer!« Trude Schindler stiess einen tiefen Seufzer aus: oh, sie wusste ja Bescheid! Aber dann fuhr sie wichtig fort, förmlich beglückt, dass sie das, was sie hinter der Türe von Krauses erhascht hatte, hier in der Schule dem Fräulein verkünden durfte: »Auf die Strasse hätt’ er ihr am liebsten geschickt. Aber weil se nich ging, da verhaute er ihr. Oh, die war nich schlecht froh, als er seine sechs Monat kriegte. ’n Pech, dass sie da gerade krank wurde, als sie ’n mal los war. Meine Mama hat ihr öfters besucht, denn nahm sie jedesmal Lenchen mit, aber denn wollte die immer bei ihre Mutti ins Krankenhaus bleiben. Sie hat jedesmal ihr Wunder mit der gehabt. Die is ja noch so dumm!« Trude Schindler lachte ein wenig.

Dumm?! Lenchen war gewiss nicht dumm, dass sie lieber bei ihrer Mutter im Krankenhaus bleiben wollte, als nach Hause gehen, in ein schreckliches, ödes, verlassenes Nachhause. Armes, verschüchtertes kleines Geschöpf! Es versetzte Marie-Luise fast den Atem, sie hätte gern noch mehr gefragt, und doch fürchtete sie sich, noch mehr zu hören. Es ging ja auch nicht an, hier vor der Klasse. Die Kinder waren ja Gott sei Dank klein, die meisten verstanden noch gar nichts davon, aber doch lauschten sie schon und blickten mit grossen Augen. »Nachher, Trude, nachher,« sagte sie hastig, als die wiederum ansetzte. »Komm nachher zu mir. Ich gehe mit dir.« Und dann klatschte sie in die Hände. Sie musste sich selber gewaltsam ermuntern, aufraffen, freimachen von etwas, das sich drückend auf sie gelegt hatte. »Nehmt eure Setzkästen vor! Flink, flink!« Das ging ja heute so langsam? Sonst griffen die kleinen Hände viel flinker unters Pult und holten den Kasten mit den grossen und kleinen Pappbuchstaben vor, mit denen sie gelernt hatten, Worte und Sätze zu bilden.

»Wird’s nun bald?!« Die Kinder schienen ihr gar nicht bei der Sache — oder bildete sie sich das nur ein? Ein Kasten krachte zu Boden, die Buchstaben lagen umher. »Was seid ihr denn so unaufmerksam? Schnell doch! So, nun schreibt mal! Erst ein grosses ‚M‘. Und nun, — was steht in eurer Fibel mit einem grossen M?«

Langsam hob sich ein Finger: »Mama — Mumu — Miau.«

Nun lachten die Kinder: Ach ja, und das Bild war so hübsch dabei, das kannten sie alle. Eine Frau, die ihrem Kind Milch einschenkt, und die Katze sitzt auch da und macht Miau, und auf derselben Seite unten steht die Mumu und leckt ihr Kälbchen.

»Miau, miau, mumu, mumumumumu,« so ging’s nun in einem fort durch die Klasse. Die Kinder fingen an, sich dafür zu interessieren, die Lehrerin aber zwang sich nur mühsam ein Lächeln auf: »Schon gut, gut. Wir schreiben jetzt nicht ‚Mumu und Miau‘, auch nicht ‚Mama‘ — wir wollen ‚Mutter‘ schreiben. Mutter, das wunderschöne Wort, das allerschönste Wort, das unsere Sprache hat. Sagt es einmal alle zusammen recht deutlich und schön: ‚Mutter‘. Und dann schreibt es hin. Und dann denkt: Mutter — o wie glücklich bin ich, dass ich eine Mutter habe! Wer kann mir etwas von seiner lieben Mutter erzählen?«

»Ich! Ich! Ich!« Arme reckten sich in die Höhe, Kindergesichter, die bleich aussahen, bekamen zartgerötete Bäckchen: »Ich! Ich! Ich!« Nun war auf einmal eine Lebendigkeit da, ein förmlicher Aufruhr in der Klasse. Nur Trude Schindler sass ohne Teilnahme da.

Die Lehrerin fühlte, jetzt war der missliche Eindruck von vorhin verwischt; sollte ein Kind doch schon etwas verstanden haben von dem, was die Trude erzählte, jetzt war es vergessen. Sie atmete auf, sie litt es, dass die Kinder durcheinander schrien; besser, dass sie jetzt zu laut waren, als dass sie still nachdenklich dasassen. Nun konnte auch sie wieder mit heiter sein. Da ging die Tür auf.

Der Rektor trat ein. Niemand hatte sein Anklopfen gehört.

»Hier geht es ja recht munter zu!« Sein von der ewigen Schulluft angebleichtes Gesicht war sehr freundlich; eine famose Lehrerin, dieses Fräulein Büchner, so ganz mit dabei, neben dem nötigen Ernst doch noch Kind mit den Kindern! So fröhlich mit den Fröhlichen. Wirklich ein Wesen voller Sonne! Mit Wohlgefallen sah er das reiche blonde Haar, die Gestalt mit der aufrechten kräftigen Haltung, die Augen, die ihn hell und offen anblickten. Das hatte er eigentlich noch gar nicht gewusst, wie hübsch dieses Fräulein Büchner war. Wenn die ihm nur keiner abspenstig machte! Ein Verlust für die Schule wäre es. Aber zu verwundern war es nicht, wenn die einer begehrenswert fand. Er reichte ihr die Hand: »Guten Morgen, ich habe Sie persönlich noch gar nicht begrüsst. Nun, sind Sie zufrieden mit Ihren Kindern? Die machen ja gute Fortschritte, wie ich sehe.«

Gute Fortschritte? Wie konnte er das denn gesehen haben? »Sollen sie Ihnen mal etwas aus der Fibel lesen, Herr Rektor? Es geht schon ganz nett.«

»Nein, nein, danke sehr. Fahren Sie nur fort mit dem, was Sie gerade vorhatten. Ich möchte nicht unterbrechen. Ich setze mich hier ein bisschen hin.« Und er setzte sich auf eins der vorderen Pulte, den Blick auf sie gerichtet, und lächelte.

Marie-Luise war erst ein wenig scheu — die Ebertz hatte ihr gesagt: ‚Der Rektor ist scharf, passen Sie bloss auf, wenn der in die Klasse kommt‘ — sie hatte eine kleine Hemmung zu überwinden, aber dann blickte sie nach ihm hin und sagte freimütig: »Die Kinder sollten mir gerade etwas erzählen, von ihrer Mutter, das tun wir denn ein anderes Mal. Kinder, aufgepasst, seht nach mir hin, nicht immer nach dem Herrn Rektor! Und ein andermal steht ihr alle auf, wenn der Herr Rektor hereinkommt; überhaupt wenn jemand hereinkommt, das gehört sich so. Also, nun nehmt eure Fibel, schlagt sie auf, Seite acht, wo das steht, was wir schon einmal gelesen haben: von ‚Husch husch‘ an!«

Und das Kind, das durchaus nicht zu den besten Schülerinnen gehörte — es lag Marie-Luise fern, sich glänzend produzieren zu wollen, eine durch schnittliche Leistung wollte sie zeigen —, las mit seiner ein wenig plärrenden Kinderstimme und nach Vorschrift jeden Laut scharf akzentuierend: »Heini, Emil, Rosa, ich hasche euch — rasch, Susi, raus!«

Die Lehrerin nickte: »So, Irma, nun lies du mal weiter: »Aä — Oö — Uü — wir sind jetzt mit den Umlauten beschäftigt, Herr Rektor.«

Und das Kind las: »Ei, so schön, feine Schäfchen — Hü, hü, hü.«

Sie hätten alle gern gezeigt, was sie schon konnten, aber der Rektor war gar nicht neugierig. Er sah mit einem Lächeln immer still nach der Lehrerin hin. O wie prächtig verstand die es, mit Kindern umzugehen! Und die Klasse mit den Bänken und Pulten, mit der grossen Tafel, auf der Buchstaben und Zahlen eingereiht standen, und mit der andern Tafel, auf der der goldene Stern von Bethlehem noch prangte und der Palmbaum neben der Hütte, verwandelte sich ihm in ein ödes Zimmer, viel öder, als diese Klasse es war — das Zimmer, in dem seine eigenen Kinder sassen. Vier mutterlose Kinder. Sie sollten verträglich sein, aber sie waren es nicht, er hörte ihr Gezänk schon auf der Treppe, wenn er müde aus der Schule kam. Seine ältliche Schwester, die ihm seit dem Tod der Frau die Wirtschaft führte, die verstand es nicht mit den Kindern — ja, hier die, die wäre die Rechte für seine armen Kinder, eine Mutter, wie er sie ihnen nicht besser wünschen könnte! Ach, und für ihn selber?! Er holte so tief Luft, dass es wie ein Seufzer klang, und in seine Augen, die unverwandt an dem blonden Mädchen hafteten, kam etwas Wünschendes, Begehrendes. Ah, wenn er die sich gewinnen könnte! Aber ob die nicht schon anderweitig gefesselt war? Sein Blick suchte ihre Hände ab: kein Ring daran, sie war wohl noch frei. Aber ob sie im Geheimen etwas Liebes hatte, einen Mann, an dem ihr Herz hing? Kaum anzunehmen, dass solch ein Mädchen, und gerade in den Jahren, die reif zur Liebe machen, unbegehrt sein sollte und selber nicht begehren. Ach, er würde sich ja schon bescheiden, er, ein nicht mehr junger und abgemüdeter Mann, würde es verstehen, dass er nicht die erste heisse Liebe dieses Herzens sein konnte. Er würde zufrieden sein mit ihrer Achtung und mit einer ruhigen, verständigen Neigung. Sie würden gut miteinander leben können. Und er konnte ihr ja auch etwas bieten, trotz seiner Vier, von denen das Jüngste erst zwei Jahre war, trotz seiner etwas düstern Amtswohnung hier in der Schule, trotz seines Gehaltes, das nicht gerade glänzend war. Mit jedem Jahr wurde er ja aber aufgebessert, er hatte als Schulmann auch einen so guten Namen, dass er wohl bald versetzt wurde in Verhältnisse, die angenehmer waren, fortkam von dieser Schule im Osten in ein anderes, besseres Stadtviertel in gesünderer, freundlicherer Lage. Und vor allem: sie hatte als seine Witwe Pension. Aber bekam sie als Lehrerin denn nicht auch Pension? Freilich, doch es war sehr schwer, so lange im Amt auszuhalten, bis das Gehalt so hoch gestiegen war, dass die Pension dem entsprach. Viele, viele Jahre müsste sie dann im Amt bleiben. Er, der Schulmann, wusste ja selber ganz genau, wie schwer es ist, immer zu unterrichten, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Zu unterrichten, ob man disponiert ist oder nicht gut aufgelegt, ob man gesund ist oder sich elend fühlt. Immer die gleiche Frische zu zeigen und das gleiche Interesse, nie für sich selber da zu sein, nur immer für andere. Für die Lehrerin war das noch viel schwerer als für den Lehrer, der Mann hat die grösseren Kräfte rein körperlich und auch geistig. Und das alles nahm er ihr ab, wenn er sie heiratete.

Rektor Volbert hatte sich so vertieft in seine Träume und blickte so versonnen, dass Marie-Luise schon ein paarmal sich nach ihm umgesehen hatte. Der sass ja noch immer da, wollte er denn die ganze Zeit hier bleiben? Aber rasch hatte sie sich wieder weggewendet, sie fühlte seinen starren Blick. Und sie war erleichtert, als er endlich ging. Er reichte ihr wiederum die Hand und sagte ihr, wie sehr er mit ihr einverstanden sei. Aber seine Anerkennung, an der es ihr eigentlich hätte doch liegen müssen, berührte sie weiter nicht — kam das daher, weil ihre Gedanken heute an anderm so viel Grösserem Anteil nahmen? Sie dachte auch immer wieder an Marga. Es war doch wie ein Wunder, dieses plötzliche Wiederfinden. Immer noch hatte sie das Sprechen von Marga im Ohr, ihre Art zu lachen, und dazwischen schob sich wieder das kleine Lenchen in ihre Gedanken, das seine Mutter verloren hatte, und zu dem sie nun nachher gleich hingehen würde. — —

Marie-Luise ging mit Trude Schindler nach Schulschluss. Ein Schweif von Kindern hinterdrein. Das war doch zu interessant, dass das Fräulein mit der Trude wegging. Auch anderen Klassen war das interessant, der Schwarm neugieriger Kinder wurde immer grösser. Da drehte die Schindler sich um, schnitt eine greuliche Grimasse, streckte die Zunge heraus und schrie: »Macht, dass ihr wegkommt! Wartet man, ihr, mein jrosser Bruder, der wird euch!«

»Pfui, Trude!«

Zum Schweigen verdammt, aber doch sehr stolz, trappelte Trude dann neben Marie-Luise her. Es war ihr noch nie passiert, dass so eine Dame mit ihr ging. Sie hätte gerne noch etwas von den Krauses angebracht — o sie wusste ja noch viel, viel mehr! — aber das Fräulein hatte streng gesagt: »Du musst nicht allen Klatsch wiedererzählen, Kind, das ist hässlich. Ich glaube den auch nicht; Klatsch ist nie wahr.«

Na, das Fräulein würde ja bald erfahren, dass alles wahr war! Und Augen machen. ‚Was die bloss an der dummen Lene gefressen hat,‘ dachte Trude etwas missgünstig. ‚Wenn ich sie wäre, denn kümmerte ich mir nich um solche Leute.‘

Und wie das Kind, so dachten auch andere im Haus. Das Haus war gross — fünf Stockwerke, und das Quergebäude im Hof auch fünf Stock hoch — alles, von ganz unten, wo es ewig feuchte, schlüpfrige Stufen hinunterging, bis oben herauf, wo es im Sommer so dörrte wie in einem Backofen, alles dicht bewohnt. Viele Parteien, an hundertsechzig Menschen im Haus, kaum anzunehmen, dass es bei so vielen, die ein und aus gingen, bemerkt werden würde, wer da mit der kleinen Schindler kam. Aber es wurde doch sofort ruchbar: ein Fräulein, ein feines Fräulein! Das war die von der Fürsorge nicht, das war die Lehrerin aus der Schule. Und nach oben zu den Krauses ging die.

Die Krauses wohnten ganz oben. Sie hatten keine Klingel an ihrer Tür und auch kein Briefkästchen, nur ein Stückchen Pappe war angenagelt, darauf stand:

Julius Krause

Bildhauer

‚Bildhauer‘, das las sich sehr vornehm, aber Trude Schindler hatte ihre eigentümlich ausdrucksvolle Bewegung mit den Achseln gemacht und den Mund dabei schief gezogen: »Er kloppt Steine bei’n Bau — wenigstens sollt’ er welche kloppen.« Und dann war sie, husch husch, lautlos wieder die Treppe hinunter.

Marie-Luise stand allein vor der Tür und hatte so etwas wie Herzklopfen: wie sollte sie sich einführen bei dem Mann? Wenn der wirklich so schlimm war, wie die Schindler ihn machte — brutal, schon gesessen hatte — dann war er vielleicht auch grob zu ihr? Sie pochte, aber es rief niemand Herein. Und doch merkte sie, dass jemand drinnen in der Wohnung war; sie hatte sogar das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Hinter der Tür bewegte sich etwas, sie spürte es wie Atmen, und jetzt glitzerte etwas an dem Spalt der schlecht schliessenden, schief in den Angeln hängenden Tür: ein Auge. Das war ihr unheimlich; schon wollte sie zur Treppe, wieder hinuntersteigen, da wurde die Tür aufgemacht: »Was wünschen Sie?«

So schlimm, wie sie sich Lenchens Vater vorgestellt hatte, war der Mann nicht, er sah ganz anständig aus und fragte auch höflich, und doch erschrak Marie-Luise. Er hatte ein Gesicht, das ihr zuwider war, ein gedunsenes bleiches Gesicht, in dem die Augen schräg standen und wie lauernd. »Sie entschuldigen,« stotterte sie, »ich — ich bin die Lehrerin von Lenchen«.

Er sah sie stumm abweisend an.

»Ich bin doch recht hier? Sie sind doch Herr Krause?«

»Mein Name ist Krause.«

Er machte es ihr wirklich schwer, er forderte sie auch nicht auf, näher zu treten, aber sie überschritt mutig die Schwelle. O dieser Mensch, ein ganz widerlicher Kerl! Eine instinktive Abneigung erfasste sie, aber sie musste sich zusammennehmen, höflich sein, sogar liebenswürdig, sie kam ja um des armen Kindes willen. Sein stummes Schielen von der Seite aus schrägen tückischen Augen mit freundlichem Blick erwidernd, streckte sie ihm die Hand hin: »Mein aufrichtiges Beileid, Herr Krause, Sie haben die Frau verloren, Lenchen die Mutter — oh, es tut mir ja so unendlich leid für das arme Kind!« Mit einer Redensart hatte sie ihren Satz begonnen: Beileid, aufrichtiges Beileid, nein, das empfand sie nicht für diesen Menschen, aber das, womit sie den Satz geschlossen hatte, das empfand sie in Wahrheit, und jetzt noch mehr als vorher, da sie Herrn Krause nur erst von Hörensagen kannte. Nein, so sah kein guter Mensch aus und auch kein ehrenwerter — die Augen schienen ja immer auf der Lauer: ‚Wer sieht, was du tust?‘ Dieser Mund mit den breiten Lippen dünkte sie gemein, unwillkürlich streifte ihr Blick seine Ohren: Verbrecherohren? Nein, seine Ohren lagen fest am Kopf an und widersprachen dem Bild, das man sich von einem Verbrechertyp macht.

»Zu traurig für Lenchen,« seufzte sie.

Er schien ihre ausgestreckte Hand nicht bemerkt zu haben; er nickte knapp: »Hm. Ja, traurig.«

»Ihre Frau war schon längere Zeit krank?«

»Lange. Tuberkulose.«

»Ach Gott!« Marie-Luise erschrak: dann musste die Schulärztin daraufhin Lenchen aber sofort noch einmal aufs genaueste untersuchen. Wie leicht konnte sie etwas geerbt haben, man musste vorbeugen. »Ist denn das Kind ganz gesund, Herr Krause?«

»Ich denke.« Der Mann erschien ganz gleichgültig; und er war es in der Tat auch. Was ging ihn eigentlich dieses Kind an? Seine Frau hatte es mit in die Ehe gebracht, wollte ihm immer einreden, es wäre von ihm. Konnte sein, konnte aber auch nicht sein. Aber das ging hier das Fräulein ja gar nichts an. Was kam ihm überhaupt diese Person auf den Hals? Am liebsten schmisse er sie wieder heraus, er war gerade in der Stimmung dazu. Aber sie war hübsch, ein stattliches Frauenzimmer, Schenkel wie gedrechselt, eine Kehle, weiss und mollig zum Anbeissen. Sein Blick fing an zu flimmern. Etwas, das beinahe wie ein Lachen aussah, verzog die breiten Lippen und entblösste ein starkes Gebiss.

Als ob sie diesen flimmernden Blick richtig gedeutet hätte, so empfand Marie-Luise unbewusst plötzlich eine heftige Abwehr. Sie knöpfte an ihrem Mantel; sie hatte den am Halse geöffnet gehabt. Nun schloss sie ihn fest. Ach, es war ja grässlich hier, diesem Mann war gar nicht beizukommen — oder fing sie es nur so ungeschickt an? Was für ein liebloser Vater, ein ganz scheusslicher Kerl! Sie hätte die grösste Lust gehabt, energisch zu werden, ihm das geradeheraus zu sagen, was sie von ihm dachte, seine Gleichgültigkeit empörte sie — aber hatte sie denn ein Recht, hier einzudringen? Vielleicht, wenn sie etwas sagte, was ihm nicht passte, wies er sie hinaus, und dann konnte sie nichts, gar nichts für das Kind tun. Er liess es womöglich dann gar nicht mehr zu ihr in die Schule. So zwang sie sich zu lächeln, lächelte in dies ihr unergründlich scheinende Gesicht, und ihre Stimme klang bittend: »Kann ich denn Lenchen nicht mal sehen?«

»Ich weiss nicht, wo sie ist. Sie kraucht immer im Hause ’rum. Das will ich aber gar nicht haben. Das is alles so ’ne Bande hier.« Er trat auf den Flur und schrie zornig: »Lene! Sofort!«

Gleich öffnete sich die Tür der am Flur gegenüberliegenden Wohnung, eine junge Frauensperson liess das Kind heraus und rief dabei schnippisch: »Sie brauchen gar nich so grob zu tuten, Sie! Ich bin nicht taub.« Und dann: »Na geh, Leneken, geh!« Das klang sanfter.

»Lenchen!« Marie-Luise war rasch auf das Kind zugeeilt, in einer Wallung ungeheuren Mitleids hob sie es empor und drückte es an sich. Der Tag dünkte ihr plötzlich so trüb, der Flur so schwarz, gleich einem Abgrund gähnte die Tiefe des Hauses. »Lenchen, mein armes kleines Lenchen!« Sie küsste das Kind.

Aber das strebte von ihr fort. Es zeigte sich nicht überrascht und auch nicht erfreut, es tat ganz fremd.

Marie-Luise fühlte sich jäh ernüchtert: mit soviel Teilnahme war sie gekommen und nun — tat das Kind denn nicht, als kennte es sie kaum? Wie ging das zu? War Lenchen stumm geworden, ganz erstarrt vor Schrecken und Leid? Oder traute das Kind sich am Ende nicht vor dem Manne, der da an seiner Tür stand und höhnisch, wie es Marie-Luise erschien, den Mund verzog?

Als Marie-Luise kaum anfing, die Treppe wieder hinunter zu steigen, hatte sich die Tür der Krauseschen Wohnung schon geschlossen. Er hatte das Kind mit hineingenommen. Sie blickte noch einmal zurück: nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören. Oder doch: wurde da nicht der Schlüssel umgedreht? Er hatte zugeschlossen. Er wollte sie sich vom Halse halten, wollte gar nicht beachtet sein. Und das Kind? Nein, das wollte auch kein Mitleid, keine Teilnahme. Wie es nach dem Vater hingesehen hatte, als sie es in den Armen hielt — oder kamen ihr diese blinzelnden, verweinten Augen nur so ängstlich vor? Ach, da war gar nichts zu machen! Ihr guter Wille scheiterte an dieser zugeschlossenen Tür. Hinter der war eine Welt, in die sie es nicht vermochte, einzudringen.

Die mit den tausend Kindern

Подняться наверх