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Viertes Kapitel

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Kommen Sie mit zur Lehrerinnenversammlung, Büchner?« fragte die Kollegin. Nun unterrichtete Marie-Luise fast ein Jahr schon Tür an Tür mit Fräulein Ebertz, aber ein Miteinander war es noch immer nicht geworden. Und das lag an Marie-Luise.

»Gehören Sie denn immer noch nicht unserm Verband an?« hatte Fräulein Ebertz gesagt. Und dann, als Marie-Luise verneinend den Kopf schüttelte, ziemlich spitz: »Wir sind Ihnen wohl nicht gut genug?«

»Ach Gott, nein!« Die Jüngere hatte nach der Hand der Älteren gefasst: »Wie käme ich wohl dazu, so etwas zu denken! Aber ich — wahrhaftig, ich — offen gesagt, ich habe daran noch gar nicht gedacht.«

Die Ebertz biss die ältere Kollegin heraus: »Im übrigen sind Sie verpflichtet, beizutreten. Wir Volksschullehrerinnen müssen zusammenhalten. Erstens mal gegen die männlichen Kollegen. Die meinen immer, sie können’s doch besser als wir, es ist immer Krach wegen unserer Gleichberechtigung im Gehalt: wir hätten ja keine Familie, keine Kinder. Als ob nicht viele von uns alte Eltern zu erhalten hätten! Und überhaupt, leisten wir denn nicht dasselbe? Mehr sogar. Das soll mir einer von denen mal nachmachen, fünfunddreissig Jahre Aufnahmeklasse! Der wäre längst vor Ungeduld eingegangen; nicht drei Jahre hätte der ausgehalten, oder er sässe vielleicht im Irrenhaus. Und überhaupt unsere Kleinen, die könnten mir leid tun — ein Mann und die! So was kann nur ’ne Frau.«

Fräulein Ebertz war aus ihrer Ruhe herausgegangen, ihr stubenfarbenes Gesicht hatte sich gerötet.

Fräulein Ebertz wurde Marie-Luise auf einmal sympathischer: die hatte doch wohl viel Herz für die Kleinen, wenn sie das auch verbarg hinter einer wenig liebenswürdigen Art. Fräulein Ebertz war streng, sie sollte ab und zu mal einen Klaps geben, sie war eben noch von der alten Richtung; eine Volksschule ohne Stock hatte es vormals nicht gegeben. Es musste doch recht schwer sein für alte Lehrerinnen, so ganz auf neu umzulernen! Marie-Luise sah in die alltäglichen stumpfen Züge der Kollegin, und die erschienen ihr heute gar nicht so ausdruckslos: da waren Falten auf der Stirn und um Mund und Nase, die bei näherem Hinsehen manches verrieten. Wie konnte die hier immer noch die Heiterkeit, die Frische aufbringen, die jetzt durchaus verlangt wurden? Man soll dem Kind stets ein freundliches Gesicht zeigen, ein fröhliches Lächeln, damit das Kind nicht denkt, was wir hier tun ist Arbeit, eine Arbeit mit Seufzen. Was wir hier tun ist auch nicht blosses Spiel, es ist Freude. Und Freude ist alles.

»Und dann,« fuhr Fräulein Ebertz fort, »müssen wir Volksschullehrerinnen, in Gesamtheit geschlossen, zeigen, wer wir sind. Was wäre denn unser Volk, unser Schulwesen ohne uns? Einpacken könnten sie!« Sie schlug sich auf die flache Brust: »Wir, wir sind die Wurzel, durch die der Baum Nahrung saugt und Kraft bekommt. Herrje, und da bilden die an den höheren Lehranstalten sich ein, sie könnten auf uns herabsehen?! Gucken Sie sich mal so ’ne Oberlehrerin an, die auf der Universität ihre Semester hinter sich hat, wie’s jetzt Mode ist — schon so ’n kleines Fräulein Studienreferendar trägt uns gegenüber die Nase hoch — Josef mit ’m bunten Rock, der dünkte sich auch mehr als seine Brüder. Ich hätte ja auch studieren können, Sie auch, wir alle, wenn wir’s Geld dazu gehabt hätten. Keine von uns ist dümmer als die. Aber, wissen Sie, –« und sie nahm, wieder ruhig geworden, den Arm der jüngeren Kollegin — »Gott sei Dank, bloss aufs Studierthaben kommt es nicht an in der Schule; auf das am wenigsten!«

Für die Volksschule sicherlich nicht. Über Marie-Luises Gesicht war ein Schatten geflogen: sollte es wirklich so sein, wie Fräulein Ebertz sagte, gab es Missgünstigkeit bei den Lehrern gegen die Lehrerinnen, und eine vielleicht noch grössere Missgünstigkeit bei der Volksschullehrerin gegen die Lehrerin der höheren Schule? Sie sah in ihr eigenes Innere: ehrlich, wie sah’s da aus?! Sie senkte nachdenklich den Blick: ja, sie hätte lieber an einem Mädchenlyzeum unterrichtet als hier an der Gemeindeschule im proletarischen Osten. Es könnte ihr das auch gelingen, wenn sie nebenher noch weiter arbeiten würde, Sprachen trieb und Vorlesungen hörte, sie würde es erreichen, wenn sie das durchaus erreichen wollte, aber — und jetzt nickte sie der anderen lächelnd zu — »wir sind die Wurzel, durch die der Baum Nahrung saugt und Kraft zieht«. Ein Gefühl, das fern jeder Eitelkeit, aber nicht fern von Stolz war, stieg in ihr auf: ‚ich bin nun einmal Volksschullehrerin, ich bleibe es auch, und ich bleibe es gern.‘ Hier waren Kinder, so viele Kinder, unendlich viel mehr Kinder, als es Kinder in höheren Ständen gibt, Kinder, die das Volk ausmachen, das Deutschland, das wieder gross werden soll und auch wieder gross werden wird in der Welt, wenn diese Kinder, Früchte des Baumes, der in der Volksschule wurzelt, so erzogen werden, wie sie erzogen werden müssen. Oh, hier lag eine Aufgabe, eine weit grössere, eine weit lohnendere als jede andere! Wenn diese kleinen Mädchen mit den Strubelköpfen und Hängezöpfchen, einst Frauen, Mütter waren, musste man ihnen so viel mitgegeben haben, dass sie fest in ihren Schuhen standen, Kraft genug in sich hatten, dem Mann eine stützende Hand zu reichen. Und dass sie die Fähigkeit besassen, selber ihre Kinder so zu erziehen, wie sie erzogen werden mussten.

»Ich werde dem Verband der Volksschullehrerinnen selbstverständlich beitreten,« sagte Marie-Luise, wie um Entschuldigung bittend. »Es war eine grosse Gedankenlosigkeit von mir, das nicht gleich zu tun.«

Melitta Ebertz nickte versöhnt: »Na ja, das ist ja auch für Sie selber von Vorteil. Alle für eine — man ist durch den Verband persönlich sehr gestützt. Unsere Zentrale berät uns jederzeit und tritt für uns ein: Ruhegehalt und so weiter. Und Abfindungssumme bei ’ner Heirat — na?!« Sie blinzelte dabei.

Hatte Fräulein Ebertz etwa noch vor, sich zu verheiraten? Marie-Luise lachte auf einmal hell auf.

»Was lachen Sie denn?« sagte die Ältere ärgerlich. »Ich denke ja an so was nicht mehr, aber Sie — für Sie kommt doch so was noch in Betracht.«

»Ich würde meinen Beruf nicht aufgeben,« sagte Marie-Luise rasch. »Ich heirate nicht.«

»Na, na!« Fräulein Ebertz lächelte.

Und dieses Lächeln erboste Marie-Luise fast: musste denn doch eine Heirat so gewissermassen als Schlussstein des Lebens gesetzt werden, das man sich erbaut hatte? — – –

Mit Spannung sah Marie-Luise heute dem Vortrag entgegen. Ein öder Saal; vorn im Haus waren Restaurationsräume, warm und hell erleuchtet, man hatte durch sie hindurchgehen und dann über einen düsteren Hof tappen müssen. Es war schlechtes Wetter; Frau Professor hatte lamentiert, dass die Tochter sich noch einmal zur Stadt aufmachte: »Solch ein Unsinn! Das lohnt doch sicher nicht. Hast du auch Überschuhe an? Und ich sitze wieder allein, immer allein — es ist wirklich grässlich!«

Die Mutter tat Marie-Luise leid. In dem Kuss, den sie ihr rasch auf die Stirn drückte, lag es wie eine Bitte um Entschuldigung, aber sie hatte es ja der Kollegin fest versprochen, und das Thema des Vortrages interessierte sie auch: »Bekenntnisschule oder Weltanschauungsschule« — warum das »Oder?« Der bekannte Schulmann, der diesen Vortrag zu halten versprochen hatte, sollte ein ausgezeichneter Redner sein — wie würde er das »Oder« begründen? Müsste es eigentlich nicht heissen: »Bekenntnisschule und Weltanschauungsschule?« Jedes Bekenntnis war doch Weltanschauung. Das hatte sie heute morgen auch dem Fräulein Ebertz gesagt, aber die hatte sie ganz verwundert angesehen: »Na, kümmern Sie sich denn um gar nichts? Es ist doch so viel die Rede davon. Jede Eltern können verlangen, dass ihr Kind nur katholisch unterrichtet wird oder nur protestantisch, und wenn es man bloss vierzig katholische Kinder an einem Ort gibt oder vierzig evangelische, oder noch weniger, eine eigene Schule müssen die kriegen. Das nennt sich dann Bekenntnisschule. Weltanschauungsschulen, die haben nichts mit Religion zu tun.«

»So,« hatte Marie-Luise kurz gesagt. Und das Bild ihres Vaters stieg plötzlich vor ihr auf. Wie warm hatte er sie an seiner Brust gehalten, wie hatten seine Augen geleuchtet, als sie auf seinen Knien sass, und er ihr von dem Geist Gottes sprach, der in uns wohnt, der all unsere Gedanken kennt und dem Kinde helfen will, böse Gedanken zu überwinden, damit es gut wird. Gut sein, gut, das ist alles. Ein guter Mensch — das höchste Ziel für alle! Er hatte nie von »Bekenntnissen« gesprochen. Ach, ihr Vater, der wäre sicher nicht damit einverstanden: »Bekenntnisschule oder Weltanschauungsschule«.

Freilich, leicht war es nicht, Kindern, so jungen Menschen, den Geist, den man Gott nennt, nahezubringen. Aber dafür war man ja auch ein Lehrer, zum Lehren geschaffen. Marie-Luise erinnerte sich immer noch mit Entzücken an ihre allerersten biblischen Einführungen. Alle Wunder des Morgenlandes hatte der Vater in der Dämmerstunde, als sie auf seinen Knien sass, vor ihr ausgebreitet. Sie wunderten mitsammen im Garten des Paradieses, sie hörten die Stimme Gottes: »Adam, wo bist du?« — Sie sahen die ersten Menschen, ausgetrieben vom Engel mit dem flammenden Schwert, sich mühend auf dem Acker voll Dornen und Disteln. Sie sahen den hochsteigenden Opferrauch des guten Abel und den bösen Kain, auf dessen Stirn Gott das Zeichen des Mörders eingebrannt hatte, sahen die Sintflut alles verschlingen und nur die Arche des Noah treiben, in die dann die Taube das Zweiglein des Ölbaumes brachte — der Regenbogen stand leuchtend, als Zeichen der Versöhnung von Himmel und Erde. Sie sahen den kleinen Moses im Schilf des Nil, sahen ihn dann die Kinder Israel durch die Wüste führen, sahen Josua und Kaleb, die Riesentraube heranschleppen aus dem gelobten Land, sahen den Riesen Goliath und den Hirten David mit seiner Schleuder, sahen den Knaben Absalom an den Haaren im Baume hängen und den König Salomon in all seiner Herrlichkeit. Märchen, wundersame Märchen, aber voll von Symbolen und wunderbaren Erziehungsmöglichkeiten.

Und so wie Marie-Luise damals gelauscht hatte, lauschten ihr jetzt ihre Kleinen in der Klasse. Nun gerade, zur nahenden weihnachtlichen Zeit, erzählte sie ihnen von dem Stern, der am Himmel aufzieht und mit langem strahlendem Schweif wie mit einem Finger nach Bethlehem weist. Alle Leute laufen dahin, junge und alte, arme und reiche, Hirten und Könige. Und im niederen Stall, in der armen Krippe bei Öchslein und Esel, da liegt das Kind, ein König, mächtiger als alle Könige je auf Erden: das Christkind. Und es winkt: »Ihr Kinderlein kommet!«

Merkwürdig, wie wenig die Kinder vom Christkind wussten! Sie kannten nur den Weihnachtsmann. Den kannten sie von Wertheim und Tietz her und aus anderen grossen Geschäften. »Fräulein, meine Tante geht heute mit mir Läden besehen!« — »Meine Mutti is schon vorigen Sonntag mit mir da gewesen, da war’s aber so voll, sie liessen mir gar nich ran, und da hab ich geweint.«

»Fräulein, Fräulein!« Die kleine Irma mit dem Rattenschwänzchen warf sich vor lauter Eifer über die Bank. »Da waren so viele Tiere, die gingen immer rum und rum, bei’n Löwen zum Besuch, und da war auch ’n Klapperstorch, der hatte ’n kleines Wickelkind in Schnabel, und der nickte uns immerzu zu, aber Mutti sagte: ‚Um Gottes willen, nee, man ja nich!‘«

Die Schindler, deren Vater wieder blau gemacht haben mochte, denn sie sass übermüdet und verdrossen da, fuhr aus ihrem Halbschlaf auf: »Der is ja aus Pappe. Quatsch, es gibt überhaupt keinen Klapperstorch. Christkind –?!« Sie zuckte die Achseln mit der ihr eigenen geringschätzigen Bewegung und zog den Mund schief: »Malen Sie’s uns doch mal an, Fräulein!«

Ja, das wollte sie auch. Arme Trude Schindler, arme Grossstadtkinder! Mit schnellem Entschluss nahm Marie-Luise die Kreide; ihr bangte ein wenig; den Weihnachtsmann mit langem Bart, mit Sack und Rute, den hatte sie gestern zur Not fertig gebracht, aber würde ihr heute das soviel Schwerere gelingen? Aber es musste sein. Und sie malte mit gelber Kreide den Stern von Bethlehem an die Tafel, gross wie eine Sonne mit langen Strahlen, und sein noch längerer Schweif stiess auf ein Dach. »Das ist das Dach vom Stall,« erklärte sie. »Und da drin ist die Krippe.«

»Wo, wo? Zeigen Sie die uns mal!«

Marie-Luise schwitzte: jetzt war der Stall aussen fertig, ein Palmbaum daneben, der Stern darüber, ein kniendes Etwas davor, auch ein Schaf dabei — oder war es ein Hund? — aber innen Maria und Joseph, und vor allem das Christkind, das war doch sehr schwer. Wenn die Phantasie der Kinder nicht mitgeholfen hätte, nie wären Maria und Joseph zu erkennen gewesen und das himmlische Kind in der Krippe. — – –

Marie-Luise lächelte in sich hinein, als sie heute abend im öden, nicht genügend erwärmten Saal sass und auf den Beginn des Vortrags wartete.

»Es sind ’ne Menge da,« flüsterte ihr die Ebertz zu, die neben ihr sass. »Wenn Doktor Schultes spricht, dann kommen auch die von den höheren Schulen. In den sind alle verliebt. Sonst wäre kein Mensch bei dem Wetter hier.«

Ja, das Wetter war schlecht. Durch tiefen Schnee war Marie-Luise draussen zur Bahn gestapft, hier war der zu Brei geworden; sie fühlte Nass an den Füssen, und es überlief sie kalt — »Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule —?!«

Doktor Schultes, ein grosser schöner Mann mit einem sonoren Organ, hatte längst begonnen, aber sie war seinen weiteren Ausführungen nicht gefolgt, sie klebte noch immer an dem ersten Anfang:

»Die Bekenntnisschulen sind nach dem Bekenntnis, für das sie bestimmt sind, zu bezeichnen — die gesamte Unterrichts- und Erziehungsarbeit muss getragen sein vom Geist dieses bestimmten Bekenntnisses — der Religionsunterricht ist nach den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft zu erteilen, unbeschadet des Aufsichtsrechtes des Staates — Lehrern, deren Tätigkeit diesen Vorschriften zuwiderläuft, ist der Unterricht an der Bekenntnisschule abzunehmen.«

Was, was?! Marie-Luise hatte auffahren wollen, ihre Blicke flogen umher. Aber überall ruhige Gesichter, einige sogar recht teilnahmlos und gelangweilt. Wie, sahen die denn nicht alle ein, dass da von Anfang an der Keim der Zwietracht in die Schule gelegt wurde, und aus den untersten Bänken der Kleinen weiter wuchs in den Klassen und noch weiter bis ins Volk?! Ach, ihr Vater hatte nie gefragt: welches Bekenntnis? Nun, der würde sicher jetzt zu denen gehören, denen der Unterricht entzogen wurde. Und sie selber, sie selber? Ein plötzliches Herzklopfen befiel sie, würde sie denn geeignet sein, zu unterrichten? Aber nicht Angst um ihre Stellung war es, die ihr Herz klopfen machte. Sie warf den Kopf auf wie ein junges unruhiges Pferd, das ins Gebiss schäumt.

Die Ebertz zupfte sie: »Was haben Sie denn bloss?«

»Ich bin ausser mir,« murmelte Marie-Luise.

»Aber warum denn? Hören Sie doch zu, was Doktor Schultes sagt. Das ist natürlich ’ne dumme Idee mit dem neuen Reichsschulgesetzentwurf. Aber was geht uns das an! Mich überhaupt nicht, bei meinen Kleinen.«

»Aber mich!« Marie-Luise streifte die Hand der andern ab, die sich, beruhigend, ihr auf den Ärmel gelegt hatte. Es war ihr siedend zu Kopf geschossen, sie fühlte, dass ihre Wangen brannten und ihre Ohren glühten, als wäre an ihnen gezaust. Ach, wäre sie doch lieber nicht hierher gekommen. Die Mutter hatte recht mit ihrem »Es lohnt sich nicht« — und »’ne dumme Idee«, sagte Fräulein Ebertz. Ach, eine dumme Idee, nein, mehr, viel mehr! Man unterrichtete dann ja nicht mehr als freier Mensch, man war unter engherzigen Vorschriften geknechtet. Nun, wenn sie ihnen dann nicht passte, dann, dann würde sie eben gehen. Aber wohin? Unbesetzte Lehrstellen gibt es kaum — ach, und sie hatte schon so lange gewartet! Eine plötzliche Niedergeschlagenheit fiel auf Marie-Luise.

Sie hörte gar nicht mehr zu, was der Redner noch sagte, sie war auf einmal sehr abgespannt. Und auch um sich her sah sie lauter abgespannte Gesichter — oder kamen ihr die nur so bleich und müde vor? Wahrhaftig, man hatte es nicht nötig gehabt, um solche Neuerungspläne zu hören, weite Wege durch breiigen Schnee zu machen. Mochte Professor Schultes ein noch so glänzender Sprecher sein, sie interessierte das Thema nicht mehr. Sie war ja auch nur eine unbedeutende kleine Volksschullehrerin, die nichts dafür oder dawider zu sagen hatte, deren Ansicht nicht das geringste ausmachte. Sie fühlte sich plötzlich gedemütigt, ohne recht zu wissen warum, und, was noch schlimmer war, sie war eines Ideals beraubt.

Füsse scharrten. Es war unruhig im Saal geworden. Die anfänglich Teilnahmlosen, sogar scheinbar Gelangweilten, waren zum Schluss nicht mehr teilnahmlos. Alles ältere Lehrerinnen, soviel Marie-Luise sehen konnte. Viele schon grau oder früh grau geworden. Köpfe neigten sich zueinander, es wurde geflüstert. Marie-Luise hätte gern gewusst: fühlten die sich auch wie sie in ihrer Freiheit bedroht? Oder waren diese Angegrauten schon so mürbe geworden, dass sie das Joch, das man der Schule aufzuerlegen drohte, persönlich nicht mehr fürchteten, ganz so wie Fräulein Ebertz? Sie sah suchend umher: stand denn keine auf? Eine Diskussion sollte sich dem Vortrag anschliessen, aber bis jetzt tat keine den Mund auf.

Marie-Luise hätte wohl gern etwas gesagt und auch etwas zu sagen gewusst; aber sie war noch jung gegen diese hier und auch noch zu fremd. Eine natürliche Scheu liess sie schweigen. Ihre Gedanken flüchteten zu ihren Kindern; unter den meist protestantischen hatte sie auch katholische in der Klasse und auch jüdische. Bei ihrer Darstellung vom Christkind hatten der kleinen Rosa von dem Althändler Levy die schwarzen Mandelaugen aufgeglänzt, und sie hatte, tief entzückt, die Hände zusammengeschlagen; es war so, als ob dieses Kind aus dem ewig dunkeln, von allerlei Kram vollgestopften Lädchen in der düstern Seitengasse Licht und Luft träfe und Freude. Das Kind war hübsch, es war gut gekleidet, aber es roch nach Knoblauch und Gänseschmalz, und das war Marie-Luise nicht angenehm gewesen; nun aber würde sie das nicht mehr stören. Sie hätte die Arme ausbreiten mögen, das kleine schwarzhaarige Ding an ihre Brust ziehen, und die anderen, ach ja, alle die anderen auch! Sie lächelte vor sich hin, ihre Blicke träumten; sie erschrak, als eine Hand sich von rückwärts auf ihre Schulter legte.

Marie-Luise hatte es gar nicht bemerkt, dass die Zuhörerinnen sich erhoben hatten, dass einige noch Doktor Schultes umdrängten, andere schon den Saal verliessen. Hinter ihr stand eine schlanke Gestalt, elegant angezogen, viel eleganter als die anderen hier. Die waren auch gut gekleidet — Lehrerin sein, heisst doch heutzutage nicht armselig sein — aber sie trugen sich bürgerlicher, und ihre Gesichter zeigten meist denselben Typus: rechtschaffene, ganz intelligente, aber unauffällige Gesichter. Das Gesicht, in das Marie-Luise, sich rasch umwendend, jetzt blickte, war nicht unauffällig. Samtige, tiefdunkle Augen, die etwas Melancholisches hatten, ein feiner, sehr roter Mund, und ein Hauch von Puder auf den Wangen.

»Marga — du?!« Das war fast ein Schrei. Marie-Luise hatte die einstige Freundin vom Seminar sofort erkannt. Mit der Wärme freudigster Überraschung klang es: »Bist du denn jetzt auch in Berlin? Als was — auch als Lehrerin?«

Die andere nickte, ein leis spöttisches Lächeln spielte um den schönen Mund: »Ja, ich hab’s geschafft — allzu schwer ist’s mir ja nicht gemacht worden. Und du, wo bist du angekommen? Aber komm, komm,« drängte sie, »was brauchen hier mindestens ein halbes Dutzend zu stehen und uns zu begaffen, komm schnell heraus, komm mit, wir haben uns ja so viel zu erzählen!« Sie zerrte die Freundin mit sich, presste den Arm derselben mit der ihr eigenen, von jeher Besitz ergreifenden Ausschliesslichkeit an sich, die Marie-Luise von den Zeiten ihrer innigsten Freundschaft her kannte. »Ich bin selig, ganz toll vor Freude des Wiederfindens! Komm nur, komm!«

Marie-Luise hatte einen Augenblick gezögert, denn da stand Fräulein Ebertz und sah mit erstaunten Augen nach ihr hin — sie hatten sich verabredet, zusammen fortzugehen — musste sie sich nicht wenigstens von der verabschieden? Aber Marga liess ihr keine Zeit, drängte sie zur Saaltür auf den Hof und fiel ihr dort in einem Winkel, den das Licht der Laterne nicht erreichte, um den Hals: »Ich habe dich wieder, liebe, geliebte, einzige Marie-Luise! Liebst du mich denn auch noch? Jetzt wird’s aber schön! Jetzt können sie mir alle den Buckel ’runterrutschen. Und auf die ganze Schulmeisterei pfeif’ ich.«

Marie-Luise musste lachen: genau so war Marga immer gewesen, ein bisschen burschikos und ganz so stürmisch dem Augenblick hingegeben und auch ohne jedes Bedenken, ob sie nicht durch die Ausschliesslich keit, mit der sie sich nur um den einen Menschen kümmerte, andere kränkte. Aber sie war doch ein reizendes Mädchen gewesen; es war eine Schande, dass man sich so lange aus den Augen verloren hatte. Und reizend war sie auch jetzt, eigentlich reizender noch. Mit einem verstohlenen Seitenblick streifte Marie-Luise das schöne Gesicht: aber nach einer Lehrerin sah Marga nicht aus.

Nun gingen sie, sich eng aneinanderhaltend, Arm in Arm. Als wären all die Jahre, die zwischen dem Damals und dem Jetzt lagen, nicht gewesen, so fühlten sie sich. Und doch entdeckte Marie-Luise, als sie in der stillen Ecke eines eleganten Cafés sassen, in das Marga sie genötigt hatte — »wie, du willst nicht? Aber man kann bei dem Wetter doch nicht auf der Strasse bleiben —«, dass Marga hier im hellen Licht nicht ganz so jung mehr aussah und um die Mundwinkel eine kleine Falte hatte. Die verschwand freilich, wenn sie lächelte. Und sie lächelte viel.

Sich über das kleine runde Marmortischchen mit dem goldnen Fuss nahe zu Marie-Luise hinüberbeugend, hielt Marga die Freundin an beiden Händen. Hielt sie noch immer fest, obgleich Marie-Luise längst schon gehen wollte.

Die mit den tausend Kindern

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