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Zweites Kapitel

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Auf Niemczyce-Deutschau stand die Gutsherrin, Helene von Doleschal, am Fenster ihres Zimmers und schaute, beide Hände auf die Brüstung gestützt, hinunter in den Garten. Die Terrassen abwärts, unten am See, von wo die leichte Brise wehte, spielten ihre Knaben; sie hörte die hellen Stimmen zu sich heraufschallen. Sie wartete auf ihren Mann; der war gleich nach dem Mittagessen wieder aufs Feld geritten. Kam er jetzt bald?! Sie neigte sich weiter hinaus; zwischen den Blumenbeeten herauf führte das Pfädchen, das er gern einschlug, wenn er, ungeduldig abkürzend, den Braunen allein zum Hof traben liess und sich selber durchs Seitenpförtchen in den Garten stahl.

Helene blickte über die Hängerosen unterm Fenster, die die Glocken ihrer Kronen auf den samtig geschorenen Rasen niederstülpten, hinüber zum Hügel. Jenseits des Sees ragte der sandige Gipfel, der, mit einer einzigen Kiefer beflaggt, fast wie ein Berg in der Ebene erschien. Dort hinter jenem Berg lag Kolonie Augenweide! Der Weg dahin war weit, und Hanns-Martin hatte versprochen, heute noch mit ihr hinzufahren. Neue Kolonisten bauten ein Haus — ob das die Leute waren, denen sie neulich an der Grenze begegnet war, als sie mit ratterndem Leiterwagen und müden Kindern einzogen?!

Wenn Hanns-Martin doch bald käme! Schon legte sich ein Schatten über die blanke Metallplatte des Sees; die Schwäne, die zur Zeit der hohen Sonne im Schwanenhäuschen unter der alten Silberpappel der Insel Zuflucht gesucht, ruderten jetzt langsam über die mild beleuchtete Fläche, ihr Bild mit den schön gewölbten Flügelbogen schneeig im tiefen Wasser spiegelnd. Von den Blumenkissen der Terrassen stiegen verstärkte Wohlgerüche auf; die Heliotrope, Levkojen und Reseden, die um Mittag schlaff gehangen, standen jetzt erfrischt. Die waldigen Ausläufer des Parks, bis zum sandigen Hügel hin von beiden Seiten den See umschliessend, zeigten um ihre Kronen schon weicheren Flimmer.

Nun kam er wohl nicht mehr zur Zeit!

Enttäuscht wollte Helene vom Fenster zurücktreten, da hörte sie seine Stimme. Die Gruppen der Kannas und Musen verdeckten noch seine Gestalt, aber jetzt — jetzt war er zu sehen! Eiligen Schrittes stürmte er den kleinen Pfad herauf. Die Knaben hatten ihn entdeckt; ausgelassen umsprangen ihn die vier grossen, den kleinen Kurt liess er auf der Schulter reiten. Das Kindermädchen folgte, während wiederum hinter diesem, zeternd vor Besorgnis um ihres Herrn Küchlein, die alte Pelasia dreinhumpelte.

Die Knaben jauchzten: hurra, nun rannte Väterchen auch über den Rasen, und der Gärtner durfte doch nicht schelten!

„Helene!“ Schon war er unter ihrem Fenster. Die weisse Mütze aus der erhitzten Stirn zurückschiebend, schaute er zu ihr hinauf. „Endlich! Entschuldige! Meine liebe Frau! Ich musste noch aufs Vorwerk, Scheftel aus Miasteczko war da wegen der Milchkälber. Der Vogt wusste sich nicht zu helfen, der Kuhschweizer will sich immer von keinem Stück trennen. Sie zankten. Ich musste ein Machtwort sprechen.“

„Wie du dich um alles kümmerst“, sagte sie zärtlich. „Hast du gut verkauft an Löb Scheftel?“

„Es geht. Na“ — er klopfte sich mit der Gerte den Staub aus den enganliegenden Reithosen — „lassen wir das! Ich werde mich erst ein bisschen menschlich machen, und dann fahren wir.“

Sie lächelte ihn an. „Komm herein, trink nur erst Kaffee! Die Mamsell hat schon sechsmal fragen lassen, ob sie die frischen Waffeln heraufschicken dürfte.“

Weniges später fuhren die Doleschals auf dem leichten Korbwägelchen fort. Kein Diener sass hinten auf. Er kutschierte selber, ein Zungenschlag trieb das gut eingefahrene Pferd an. Der schlichte Schleier, den Helene als einzigen Schmuck um den Hut trug, wehte im Sommerwind.

Dem Park zur Linken, immer am hohen Drahtzaun entlang, führte zuerst die Strasse, dann trat sie näher zum See; mühselig knirschten die Räder durch tiefen Sand und dann noch mühseliger die Hügelsteigung hinan. Aber von oben herab lohnte ein herrlicher Blick auf den glatten See mit seiner bebuschten Insel, und auf das weisse Herrenhaus jenseits, mit den Blumenbeeten davor, von den grünen Wipfeln des Parkes wie ein freundliches Bildchen eingerahmt.

Noch ein paar Räderumdrehungen, und rasch ging es jetzt wieder bergab. Der Sandbuckel mit der einsamen Kiefer schob sich wie ein Schutzband vor die Oase von Deutschau. Nichts begrenzte nun mehr den Blick. Felder, Felder, Felder. Einzig in der Ferne, hinter Chwaliborczyce, ein paar Waldlinien; aber sie erschienen heut noch ferner als sonst, der staubige Dunst, der über der reifen Ebene lagerte, hatte das Blau des Kiefernforstes verhängt.

Überall wurde Weizen gehauen. Auf Deutschauer Land waren die Hemden der Schnitter alle weiss. Die Leute schafften schwer. Jeder Mann hatte ein Weib hinter sich, oft ein kaum erwachsenes Mädchen, das mit keuchender Brust, in unablässig gebückter Stellung hinter ihm drein schritt und die Schwaden raffte, die unter der blanken Sense fielen.

„Wir hätten Schnaps für sie mitnehmen können“, sagte Helene, „bei dem Staub tut’s ihnen not!“

„Schnaps?! Du weisst, ich bin nicht für Schnaps. Die Vögte sind angewiesen, Kaffee auszuteilen. Aber wie das Volk so ist! Kaffee wollen sie nicht, dann trinken sie lieber gar nichts.“

„Sie sind eben mal Schnaps gewöhnt“, entschuldigte sie. „Bei uns zu Hause gab es auch immer Schnaps in der Ernte. Mutter mischte ihn selber: ein Liter Kartoffelspiritus, ein Liter Wasser und ein bisschen Himbeersaft dazu. Weisst du, es war für mich das grösste Vergnügen, wenn ich mit meinem Pony herumfahren durfte, ihn austeilen. Und wir waren doch ganz deutsch!“

„Nein, Fusel nicht“, sagte er fast eigensinnig, und eine Falte der Verstimmung trat ihm zwischen die Brauen.

Sie schwieg, kannte sie doch ihren Mann viel zu genau, um in solchen Momenten dagegenzureden.

Noch hatten sie Deutschauer Land zu beiden Seiten, aber ein Zipfel von Chwaliborczyce schob sich wie ein Keil von links her, mitten hinein, und aus der Weite zur Rechten tauchten jetzt die Akazien von Przyborowo auf. Auf Chwaliborczycer Land gab’s rote Hemden; ihre blutige Farbe, grellleuchtend im staubfarbenen Erntedunst, überschrie jede andre.

Alle Schnitter kannten das Gefährt von Niemczyce, aber nicht alle grüssten. Wenige nur; viele grinsten höhnisch: aha, der Niemczycer! Dass ihn der Donner erschlage! Die Arbeiter sollten nicht Schnaps bekommen? Haha, mochte er dann sehen, wo er noch Arbeiter herkriegte!

Der Chwaliborczycer Inspektor, Herr Szulc, der auf tänzelndem Braunen in der Nähe seiner Schnitter hielt und, mit der verknoteten, vielschwänzigen Lederpeitsche hier- und dorthin weisend, Befehle schrie, tippte mit dieser nachlässig an seinen Hut.

Das sollte ein Gruss sein?! Unverschämt, dieser Schulz! Helene warf einen schnellen, ängstlichen Seitenblick auf ihren Mann.

Aber die Lider halb über die Augen sinken lassend, ignorierte der Freiherr den Inspektor vollständig. Nur eine feine Röte überzog flüchtig sein blassbräunliches Gesicht. „Sieh mal, Chwaliborczycer Weizen!“ Er zeigte mit der Peitsche.

„Aber er ist lange nicht so schwer wie der unsre“, stiess sie hastig heraus; es drängte sie förmlich, ihm rasch etwas Angenehmes zu sagen.

„Du irrst dich, Kind, er ist ebenso wie der unsre. Er könnte sogar besser sein, denn Deutschau hat längst nicht den famosen Weizenboden wie Chwaliborczyce. Aber Garczyński will eben nichts mehr hineinstecken. Ich denke, er wird verkaufen.“

„Was — Garczyński verkauft?! An wen denn? An die Kommission?“ Helene blickte ganz entsetzt. „Sein schönes Gut! Über vierhundert Jahre in der Familie — wenigstens sagt er so! Muss er verkaufen? Schrecklich! Sag, Hanns-Martin, geht’s ihm denn so schlecht?“

„Ach, bewahre!“ Doleschal lachte. „Das verstehst du nicht, Kind! Warum soll es ihm denn schlecht gehen? Das nicht! Aber vielleicht auch, dass er dabei an die Erziehung seines Sohnes denkt — er hat nur den einzigen Jungen —, und seine Frau kann sich absolut nicht entschliessen, sich von dem zu trennen, wie er erzählt. Und auf die Dauer geht das doch nicht: nur der Unterricht beim Vikar. Ich bitte dich, so ein katholischer Geistlicher — nur Seminarbildung —, was kann der Junge da lernen? Aber vor allem, wenn es einem so bequem geboten wird wie jetzt! Er kann sich glänzend rangieren. Er geniert sich nur ein bisschen. Die Grosspolen und die Volkspartei werden es ihm ordentlich anstreichen, wenn er an die Ansiedlung verkauft. Das halftert ihm auch seine Zeitung, der ‚Kuryer Poznański‘, nicht ab!“

„Ich mag ihn nicht“, sagte die junge Frau heftig, „ich mag ihn ganz und gar nicht. Wie kann er ohne zwingende Not verkaufen? Würdest du je Deutschau verkaufen, Hanns-Martin?“

„Da sei Gott vor — nie!“ Sein Gesicht wurde sehr ernst. „Ich würde mich ja versündigen am Andenken meiner Vorfahren. Der Grossvater und dann mein Vater haben Deutschau gehalten, mit vielen Opfern. Nun halte ich’s!“

Sie lachte fröhlich. „Grade so denk’ ich. Und die Jungens sollen auch so denken. Weisst du, und dann werden wir im Erbbegräbnis, das der alte Grossvater so schön im Park angelegt hat, alle miteinander schlafen. Es muss einem im Grabe noch ein angenehmes Gefühl sein: du liegst im eigenen Grund und Boden.“

Er nickte. „Natürlich! Aber sprich nicht so etwas, Helene, wir sind noch zu jung dazu. Und wir haben ja noch soviel vor uns! So vieles zu schaffen, zu bessern! Wenn die Zeit nur reicht. Übrigens, wenn Garczyński verkauft, soll mir’s recht sein. Dann bekommen wir noch mehr Ansiedler her — hoffentlich rein Deutsche und recht viele! Kleine Leute, die machen das Volk aus. Siehst du“ — er hob die Peitsche und wies geradeaus, wo einzelne kleine Häuschen, wie ängstlich auf der weiten Fläche, sich zusammenduckten — „da haben wir Ansiedlung ‚Augenweide‘!“

„Ach, und da ist der Kirchturm von Pociecha-Dorf! Sie haben ihn gerade im Rücken. Wie guckt er schwarz!“

„Lass ihn! Siehst du“ — er hielt das Pferd an — „da, selbst der Grenzstein ist schwarzweiss! Holla, wer trampelt denn darauf herum? Ist das nicht der Chwaliborczycer Schäfer?“

Auf dem Grenzstein, der auf schwarzgeteertem Grund in weithin leuchtenden weissen Buchstaben ‚Ansiedlung Augenweide‘ wies, stand Dudek, der Schäfer.

Schwer stützte er sich, um oben auf dem schmalen, scharfgekanteten Stein die Balance zu halten, auf seinen langen Hirtenstab, der mit der eisengekrümmten Spitze wohl gewichtig genug war, einen Wolf niederzuschlagen. Der blaue Strumpf, an dem er sonst unermüdlich strickte, lag achtlos am Boden. Die vielen hundert Schafe, des Schäfers Obhut anvertraut, hatten sich von Chwaliborczycer Roggenstoppel längst hinüberverloren auf Nachbarland. Auch der Hütejunge war davongeschlichen und träumte im Grenzgraben unterm Dornenbusch einen schönen Traum.

Dudek, der Alte, hatte des alles nicht acht. Er stand ganz versunken, ragend wie ein dürrer, blattloser Baum unterm gläsernen Himmel und starrte vom Grenzstein hinab auf die kleinen Häuschen, ängstlich in der grossen Weite zusammengeschart. Er seufzte: was wollten die hier? Früher, als sein, Kuba Dudeks, Vater noch jung gewesen, da war hier nichts gewesen als der Himmel und die Länder des polnischen Herrn, nichts als die Hütten seiner Hörigen. Da konnte der Schlachcic, der Edelmann, reiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang — alles war sein. Und als er, Kuba Dudek, noch jung gewesen, da hatten alle gesprochen in der Sprache, die Gott der Herr spricht, darinnen die heilige Mutter zum Sohne spricht.

Die da — „psia krew!“ Energisch hob der Hirt das mit Lappen und Schnüren umwickelte Bein und stampfte mit dem Bastschuh den Grenzstein. Sein Mund, dessen Lippen durchs Alter so schmal geworden, dass sie ganz in der verschrumpften Kinn- und Backenhaut verschwanden, murmelten den Fluch: „Möge sie der feurige Blitz zerschmettern!“ Konnten sie nicht bleiben, wo sie geboren worden — jeder soll bleiben, wo ihn die Mutter geboren —, was mussten sie hierherkommen?! Trugen sie keine Scheu, so dicht zu nahen dem Nest des weissen Adlers?

Drohend hob Dudek den schweren Stock, die geballte Faust schüttelte er gegen die Kolonie. Da waren ihrer wieder neue hinzugekommen — weisse Eindringlinge mit gelben Haaren — sie bauten ein Haus.

Noch schimmerten die unbedeckten Dachsparren wie die Rippen eines Skeletts, aber geschäftig eilten die Männer beim Bau; man sah ihre Gestalten sich richten und bücken, sich drehen und wenden in emsiger Bewegung, wie unruhige Zwerge auf dem Teller der grossen Ebene.

„Sie bauen, sie bauen“, rief Helene erfreut und klatschte in die Hände.

Da drehte sich der Alte um. Er hatte den Wagen nicht herankommen hören, sein Ohr war nicht mehr scharf, aber sein Auge noch. Ohne Übereilung, schwerfällig stieg er nieder vom Grenzstein und zog, das Knie beugend, den Hut.

Freundlich grüsste ihn Helene, war doch seine Frau die Schwester von ihres Mannes einstiger Amme, der alten Pelasia.

„Tag, Dudek, wie geht’s? Kommt Ihr nicht auf einen Sonntag die Pelasia besuchen? Sie beklagt sich, dass niemand nach ihr sieht.“

„Wenn sie sich sehnt nach ihren Eigenen, soll sie kommen!“

„Ihr seid viel rüstiger als sie, Dudek, und Eure Frau ist auch wohl noch besser zu Fuss. Sagt, was machen denn Eure Enkel, der Jendrek und die Michalina? Dass ich’s Pelasia erzählen kann!“

„Hat der Jendrek bei Soldaten gemusst. Haben sie ihn geschickt weit, sehr weit, wo niemand versteht ihn. Is die Michalina zu Herrschaft gezogen, is sich auch Amme geworden bei fremdes Kind.“

„Nun, Dudek, und was machen Eure Schafe? Ich sehe schon, sie sind gut imstande. Sie sind gewaschen, sind ja weiss wie Schnee!“

„Mutterschafe sind sich gewaschen; aber wie lange noch werden Lämmer seinige sein? Alles nimmt sich Fremder, alles!“ In einer resignierten Melancholie liess der alte Mann den Kopf auf die Brust sinken.

„Wieviel Schafe habt Ihr jetzt?“ fragte Doleschal.

Nun hörte Dudek auf einmal gar nicht mehr. Mit weit ausholenden Schritten in die Roggenstoppel stapfend, schrie er schimpfend nach seiner Herde und dem lässigen Hütejungen. Der wolfsähnliche Hund, der bis jetzt träg am Stein geblinzelt, jagte mit wütendem Gekläff vor ihm her.

Vergebens rief Helene: „Soll ich Pelasia grüssen?“ Keine Antwort mehr. Taub war der Schäfer, aber auch blind, denn er suchte seine Herde, wo diese gar nicht zu finden war. Ein heisser Wind, der plötzlich mit Kraft über die Ebene schnob, lüftete seinen Schafpelz und warf die weissen Haare, die ihm langsträhnig unterm Hut vorhingen, wild durcheinander.

Als Helene nach einer Weile zurückblickte, stand Kuba Dudek wieder auf dem Grenzstein; unbeweglich, wie der Weiser an der Wegscheide, reckte sich sein Arm. —

In der Kolonie war nicht die muntere Geschäftigkeit, die man in der Ferne zu sehen vermeint. Nur die Bräuers waren beim Hausbau; von den andern Ansiedlern liess sich niemand blicken. Helene war einigermassen enttäuscht, hatte sie doch geglaubt, die Frauen auf den Türschwellen sitzend zu finden, schwatzend beim Kartoffelschälen, wie sie die Frauen vielhundertmal gesehen hatte im deutschen Dorf beim elterlichen Gut.

Aber Doleschal war sehr befriedigt: noch war nicht Feierabend gemacht. Drüben in Pociecha-Dorf stiegen schon Rauchsäulen aus den zusammengesunkenen Schlöten der grün vermoosten Strohdächer, hier schafften noch alle fleissig auf dem Felde.

„Soll ich dich mal über die Äcker fahren?“ fragte er seine Frau. „Viel zu sehen wird freilich noch nicht sein. Aber sie haben ja die Freijahre, die sind eine riesig kulante Einrichtung.“

Wohlgefällig schaute er sich um: „Sieh mal, wie nett, wie sauber! Wie aus der Spielschachtel! Unsre Ansiedlung ist von allen die vielversprechendste. Erinnerst du dich noch, vor fünf Jahren, als sie hier das Gut parzellierten? Wie heruntergewirtschaftet das war?! Und wie sieht es jetzt aus! Freilich, es wird noch eine Weile dauern, bis der ausgesogene Boden sich wieder erholt hat. Aber unter tüchtigen Arbeitshänden — da, sieh mal!“ Sich unterbrechend, zeigte er auf eine kreisrunde mächtige Scheune: „Wie ein Zirkus! Ein bisschen gross, aber, na — die hat sich ein Amerikaner gebaut. Famoses Ding, was? Links das niedliche Gehöft gehört einem Schwaben. Ach, sieh mal an, hat sich der Mann neben den Obstbäumen auch Rebstöcke gepflanzt — ist das nicht rührend? Da hinten sitzen die Kolonisten aus der hiesigen Provinz alle zusammen. Und hier sind wir bei den Rheinländern.“

Sie waren die ungepflasterte Strasse, an der die Häuschen und Scheunen sich rechts und links verteilten, ein paarmal auf und nieder gefahren. Nun hielten sie bei dem Neubau an.

Peter Bräuer und sein Sohn sägten gerade an einem Balken. Die Säge war stumpf geworden, widrig klang ihr Gequietsch, und widerwillig nur gab der Balken nach. Mit einer gewissen Verdrossenheit arbeiteten beide Männer; sie blickten auch kaum auf, als Doleschal vom Wagen absprang und seiner Frau die Zügel übergab.

Er trat zu den Arbeitenden und sagte: „Nun, wie steht’s mit dem Bau?“

„Tag!“ Vater Bräuer fasste nur an die Mütze, während der Sohn die seine wohl heruntertat, aber sogleich wieder aufsetzte. „Könnt besser sein. Mer kömmt nit voran. Hätt ich dat gewusst!“

„Wieso — hätten Sie was gewusst?“ fragte Doleschal lebhaft. „Über was haben Sie sich zu beklagen?!“

„Der Herr ist wohl auch einer von der Kommission?“ sagte Peter misstrauisch und wechselte einen Blick mit seinem Sohne.

„Nein.“ Doleschal hatte den Blick aufgefangen. „Aber Sie können mir ruhig sagen, was Ihnen nicht behagt. Ich interessiere mich für die Kolonisation. Ich bin auch Deutscher. Hier in der Nachbarschaft ansässig — Doleschal auf Deutschau!“

„Ah, Sie sind der Doleschal?! So, no dann“ — Peter Bräuer streckte treuherzig die Hand hin — „dann is dat wat andres. Ich hab als von Ihnen gehört. Un dat is Ihr Frau?“ Er grüsste mit einer ungelenken Verbeugung nach dem Wagen hin. „Ja, wissen Se, Herr von Doleschal, Se müssen mir dat nit übelnehmen, aber man wird ganz misstrauisch. Sie haben einem dat doch alles ganz anders vorgestellt — oder ob ich mir nur dat so anders gedacht hab!? Ich weiss et nit. Jedenfalls hätt ich, wenn ich früher gewusst hätt, dat mer hier so schlecht Arbeitskräft kriegt — ich weiss nit, sind ihrer wirklich kein da oder wollen se nur nit —, mir dat Haus vom Bauamt baue lassen. Sie hatten mir dat angeboten, aber ich dacht, et käm so billiger. Ja, un wenn ich dal all ganz genau gewusst hätt, wär ich gar nit hier hingekommen, da hätt ich doch ebensogut nach Amerika auswandern können.“

„Das dürfen Sie nicht sagen!“ Doleschal warf einen wohlgefälligen Blick auf den jungen Mann, der zu den Worten des Vaters beistimmend nickte. „Sie müssen doch Ihre Kinder, Ihren Sohn da, dem Vaterland erhalten!“

„Och, wat dat anbelangt, de kann in Amerika ebensogut deutsch bleiben wie hier! Un hier muss mer sich plagen, genauso wie woanders — ne, noch viel mehr!“

Es tat dem Mann augenscheinlich gut, sein Herz zu entlasten. Da hatte ihm wohl die Kommission fast alles, was zum Hausbauen gehörig, prompt und nicht zu teuer zur Stelle geliefert: Mauer-, Ziegel-, Firststeine, Feldsteine zum Fundament und auch Bauholz. Auch hatte er für sich und seine Familie derweilen drüben in der Holzbaracke die erste Unterkunft gefunden. Aber nun würde der Bau doch doppelt solange dauern als vorausgesehen, denn aus Miasteczko der Zimmermann mit seinen Gesellen war nur zwei Tage erschienen, dann nicht mehr; und der Maurer drüben aus dem Dorf, der sich, gegen hohen Tagelohn, für die ganze Zeit verpflichtet hatte, war nach einer halben Woche auch nicht mehr gekommen. Als der Valentin hingegangen, ihn zur Rede zu stellen, hatten sie sich durchaus nicht verständigen können; ein wüstes Gezänke war’s geworden. Aber wer konnte es dem Jungen verdenken, dass er mit der Faust auf den Tisch geschlagen? War er denn nicht in seinem guten Recht?! Doch das Gesindel war in lautes Hallo ausgebrochen, und die Frau hatte drohend nach dem Wasserkessel gegriffen, der auf dem Herd sprudelnd kochte. Und niemand, niemand anders war zur Hilfe aufzutreiben gewesen! Ganz allein waren sie sitzengeblieben mit aller Arbeit! Ein Glück noch, dass sie etwas davon verstanden — aber freilich, ’s war nur ein Stall gewesen, den sie dazumal allein gebaut hatten, und noch dazu war’s zu Hause gewesen, am Rhein!

Der Gutsverwalter auf dem Restgut, an den man sich doch mit allen Anliegen wenden sollte, hatte die Achseln gezuckt bei seinen Klagen: ja, warum musste denn durchaus selber gebaut sein?! Mit den Leuten hierzulande müsste man eben in Frieden auskommen, er könnte auch gar nichts dabei machen.

Unwirsch fuhr sich der Ansiedler durch die Haare:

„Et geht so langsam, viel zu langsam! Un dat Kettchen jammert in der Barack — kein Ordnung, kein Reinlichkeit is mögelich — un da sind gestern ihrer noch welche zugekommen — se sagen, se wären deutsch, de Mann spricht auch deutsch, aber die Weibsleut schnattern polacksch. Un mit den Weibsmenschern soll nun mein Frau in einem Raum schlafen?! Denken Se an! — Un wie lang dauert et noch, un et is hier schon Herbst! Die Tag sind so heiss, aber die Nächt sind als kühl. Bei uns zu Haus is dat ganz anders, da blühen Allerheiligen die Rosen noch. Och, hätt ich dat gewusst! Ne, ich sag schon — wie krieg ich dat Haus trocken?!“

Eine tief-innere Angst lag unter diesen Worten, Doleschal fühlte sie heraus.

„Ich werde Ihnen meinen Stellmacher zu Hilfe schicken“, sagte er. „Der Mann hat zwar noch kein Haus gebaut, aber er wird Ihnen doch jedenfalls von Nutzen sein. Und er ist deutsch.“

„Dat — dat wollen Sie tun?“ Ein Ausdruck freudigster Erleichterung erhellte des Ansiedlers bekümmertes Gesicht. „Den Stellmacher — Donnerschlag! Valentin, Jung, hörste, wir kriegen Hilf!“

Der Sohn hatte die Mütze vom Kopf gerissen, sein ganzes hübsches Gesicht lachte. Unverfrorene Herzlichkeit lag in der Bewegung, mit der er nun rasch auf den Herrn zutrat; man sah’s, er hätte dem gern die Hand geschüttelt, aber der beim Militär anerzogene Drill hielt ihn zurück.

Er nahm die Hacken zusammen: „Besten Dank, Herr Baron!“

Wohlgefällig musterte Doleschal den stattlichen Menschen. „Garde, was?“

„Nein, Herr Baron, Deutzer Kürassier!“

„So, so. Ich bin Rittmeister bei den Gardekürassieren!“

Valentin schlug wieder die Hacken zusammen. Er murmelte etwas von ‚grosser Ehre‘, und eine helle Röte stieg ihm dabei ins Gesicht; man hörte seiner Stimme die Freude an. Eine Verbindung war plötzlich vorhanden, zwischen ihm und jenem vornehmen Herrn da.

Auch Doleschal sagte: „Wir müssen zusammenhalten hier!“ Die Leute gefielen ihm, der Alte war recht ein knorriger Stamm, der dem Wetter trotzte, und der Junge, nun — unwillkürlich verglich er zwischen sich und dem krausköpfigen Burschen — der war fast noch schlanker als er selber und elastisch in jeder Bewegung wie ein Trainierter. Die Leute mussten unterstützt werden, nach Kräften!

„Ich werde Ihnen morgen meinen Stellmacher herschicken“, wiederholte er noch einmal, „und auch noch den Schmied.“

Helene sass schon lange wartend auf dem Wagen. Sie hatte ihren Mann, der, einen Fuss auf den Balken stützend und die Hand mit der Peitsche in die Seite stemmend, den Leuten zuhörte, beobachtet; nun waren alle drei miteinander hinterm Neubau verschwunden.

Sie wartete noch eine Weile ganz geduldig, aber als sie noch immer nicht zurückkehrten, schlang sie die Zügel um den Haken am Kutschbock und sprang vom Wagen. Der Traber stand auch so.

Über den gläsernen Himmel, leicht angegraut vom mehligen Dunst der Felder, kroch schon ein Abendrot. Im Schleier der sich mählich ankündenden Dämmerung wurde alles milder. Noch lag viel Glanz über der Flur, aber kein grausamer mehr, der den Augen weh tat; er wurde friedlich. Aus einem Tümpel, den man nicht sah, stieg Fröschesang, wie im Schlaf, ganz traumhaft. Und — horch! — war das nicht schon die Wachtel, die zu Abend im Kornfeld rief?

Die junge Frau lächelte: sieh da, ganz dicht hinter jener Ansiedlerscheune kam jetzt ein Rebhuhn aus dem Acker spaziert! Als wüsste es, dass die Jagd noch nicht drohe, trippelte es, vertrauensselig wie eine gute Henne auf dem Hühnerhof, über die Strasse, in den Acker jenseits, und die jungen Hühnchen folgten unbefangen.

Langsam glitt das Abendrot weiter und weiter über die Himmelsglocke, während das kolossale Rund des Sonnenballs ungehindert, von überall frei zu sehen, mehr und mehr hinabrutschte gegen ihren Rand. Wie schön war das!

In einem Gefühl, das sie manchmal überwältigte, angesichts dieses weiten Himmels, der wie ein Meer über dem Meer der Felder schwimmt, ohne Ufer, ohne Begrenzung, schauerte die Einsame. Am wirklichen Meer war sie gewesen, die mächtigen Wogen der Nordsee hatte sie aufgewühlt im Sturm gesehen und auch wieder glatt. Ihr Mann hatte sie auf Schweizergipfel geführt — sie standen auf einem sehr hohen Berg und sahen unter sich alle Schätze der Natur und ihre Herrlichkeit; im sich teilenden Grau der Morgennebel glänzte die Weite der Welt zu ihnen herauf, und sie selber waren ein junges Paar im ersten Rausche nicht endenden Glücks gewesen — aber nie, nie war ihr die ewige Unendlichkeit so klargeworden wie hier.

Starren Auges schaute sie. Da, gradaus, Pociecha-Dorf, der Turm der schwarzen Holzkirche zeigte es weithin! Dort Chwaliborczyce! Ganz auf der andern Seite: Przyborowo mit Miasteczko, dem kleinen Landstädtchen, im Rücken. Und dort grüsste der Deutschauer Berg. ‚Lysa Góra‘, Kahler Berg, wie ihn die Leute nannten. Jeden Gutskomplex — eine Insel im Meer — wusste sie zu benennen; wusste, wieviel Pappeln die dünne Allee von Chwaliborczyce zählt, hatte achtmal schon die dornigen Akazien von Przyborowo blühen und sich entblättern gesehen, war so glücklich hier, und doch — sie fühlte die Nebel der Niederung, die um Sonnenuntergang plötzlich schauerten, durchs leichte Sommerkleid kalt auf der Haut.

„Hanns-Martin“, rief sie fröstelnd, „Hanns-Martin, wo bist du?!“

Ihr Ruf hallte. Aus der Holzbaracke, unweit des Neubaus, trat eine Frau, und die Kinder drängten sich ihr nach; sie schauten alle neugierig zu der fremden Frau hinüber.

Helene erkannte die Frau: es war dieselbe, die sie letzthin bei den einziehenden Kolonisten gesehen hatte, aber das Gesicht sah jetzt älter aus, als seien nicht erst vier Wochen seit jener Begegnung am Kreuzweg verstrichen.

„Wünscht die Dame wat?“ fragte die Frau höflich.

Helene trat rasch auf sie zu. „Mein Mann ist, glaube ich, mit Ihrem Mann fortgegangen, sonst hätte er mich gehört. Ich werde hier bei Ihnen warten.“ Sie hatte das Bedürfnis, nicht länger allein zu sein.

„Settchen, hol der Madam rasch ’ne Stuhl heraus“, wies Frau Kettchen ihr ältestes Töchterchen an. Und als die Kleine einen Schemel brachte, wischte sie, wie entschuldigend, mit der Schürze darüber hin: „Nehmen Sie vorlieb! Wir sind et auch besser gewöhnt, Madam! Aber mer muss sich als jetzt in alles schicken, sagt mein Mann.“ Sie seufzte. „Mer darf den Mut nit verlieren, und — sagt der Peter — die Kommission hat uns hierhin gebracht, die hat nun auch für uns aufzukommen. Sie sind wohl auch nit von hier, Madam?“

Augenscheinlich erkannte die Frau die Dame nicht wieder. Als Helene sie an ihre erste Begegnung erinnerte, schossen ihr plötzlich die Tränen in die Augen.

„Och, wie wir zugezogen sind — dat waren Sie? Och herrje!“ Geschwind fasste sie nach Helenes Hand: „Dat freut mich aber, dat ich Ihnen danken kann. Dat erste ‚Guten Tag‘ — ne, Madam, dat hab ich nit vergessen! Och, Madam, entschuldigen Sie“, — sie fuhr mit der Schürze über die Augen — „bei uns zu Haus bin ich gar nit so, aber hier muss ich immer weinen!“

Helene tröstete: „Das ist nur im Anfang so, der Anfang ist ja überall schwer. Passen Sie mal auf, nächstes Jahr wissen Sie nichts mehr von Heimweh; da lachen Sie drüber. Es ist hier auch schön!“

„Meinen Se?“ Zweifelnd schüttelte die Frau den Kopf. „No, wenn Sie ’t sagen, dann soll et wohl wahr sein!“

Vertrauend schaute Kettchen zu der hochgewachsenen Dame auf, und dann lächelte sie hoffnungsvoll: „Wenn et so kömmt, wie Sie sagen, Madam, dat et uns gut geht hier, dann will ich auch wallfahren gehen nächst Jahr. Sicher un gewiss, dat gelob ich. Hier kann mer doch wallfahren gehen, gelt, Madam?“

„O ja!“ Eine leichte Zurückhaltung lag plötzlich in Frau von Doleschals Ton — wie schade, diese nette Frau war nicht protestantisch?!

Und als ob die andre instinktiv diese Enttäuschung fühle, hielt auch sie sich mehr zurück.

Schweigend blickten beide hinaus auf die Ebene, in den lastenden Horizont, den flammende Abendröte wie mit blutigen Schwertern zerfetzte.

Als Helene jetzt ihren Mann sehr eilig zwischen den Ansiedlern daherkommen sah, unterdrückte sie nicht einen Vorwurf: „Aber Hanns-Martin — endlich!“

„Verzeih! Ungeduldig geworden, mein Herz? Bitte, verzeih! Es hatte mich so interessiert. Herr Bräuer hat mir seine ganze Stelle, seinen Bau, seinen Acker, kurz, alles, was drum und dran, gezeigt!“ Doleschal war angenehm erregt und reichte beiden Männern die Hand zum Abschied: „Es wird jetzt schon werden, wird ganz famos werden! Auf Wiedersehen!“

„Du“, sagte Helene leise, als sie am Arm ihres Mannes zum Wagen schritt, „die sind ja katholisch. Und ich dachte doch, hier sollten nur Evangelische her?“ Es klang bedauernd: „So nette Leute!“

„Ja, das lässt sich nun doch nicht ganz streng durchführen, diese Sonderung der Konfessionen. Aber was macht’s? Es sind doch wenigstens Deutsche!“

Der Traber, der bis dahin lammfromm gestanden, stutzte plötzlich, nun sie einsteigen wollten.

Unruhig zog er an, stieg wild und prallte dann zur Seite, gerade noch, dass Doleschal ihn vom Graben zurückriss. Eine Staubwolke kam vom Dorf her über die Felder geflogen, und in der Staubwolke war Peitschengeknall, Pferdegetrappel und Hundegebell.

„Ach, die Garczyńskis!“ Nicht angenehm überrascht, fasste Helene nach dem Arm ihres Mannes.

Da war auch schon der hochrädrige Jagdwagen, glänzend lackiert, mit viel Rot an den Rädern, und innen die Sitze hell ausgeschlagen.

„Atrappiert, meine Herrschaften! He — halt!“

Auf einen Ruck standen die vier jungen Pferde neben dem Korbwägelchen, mit schnaubenden Nüstern, noch zitternd vor Erregung, und schäumten ins Gebiss. Zwei englische Doggen, riesige Tiere mit Stachelhalsbändern, schnackten ihnen dumpf bellend nach den Mäulern.

Der Lenker hoch oben auf dem Bock grüsste galant mit der Peitsche: „Ich lege mich Ihnen zu Füssen, gnädigste Baronin — das nenne ich Glück, Ihnen hier zu begegnen! Ihr Diener, Doleschal! Ihr Weizen ist grossartig! Sehr erfreut, wie steht das Befinden?“

Herr von Garczyński hatte viel von einem Pariser oder Wiener an sich. Gewandt schwang er sich vom hohen Sitz herunter, dem Diener, der hintenauf hockte und nun beflissen herbeieilte, die Zügel zuwerfend. An Helenes Seite tretend, führte er ihre Hand an die Lippen.

Die Doleschals mussten halten bleiben.

Im Chwaliborczycer Jagdwagen sassen, gegenüber von Frau von Garczyńska, ihr einziger Sohn, ein vornehm aussehender Junge, und der Vikar Górka.

Frau von Garczyńska hatte sich den Sitz auf der seitlichen Bank noch durch eine Menge von seidenen Kissen bequemer machen lassen; sie lag zurückgelehnt, und der Schirm, den eine blonde junge Person, halb Dame, halb Dienerin, zum Schutz zwischen sie und die feurig untergehende Sonne hielt, liess warmrosige Schatten auf ihr blasses Gesicht fallen.

„Gnädigste Baronin haben sich wohl Neues in der Kolonie angesehen?“ fragte Garczyński. „Sehr erfreuliche Fortschritte, nicht wahr? Wir haben unsern hochverehrten Herrn Vikar ein wenig entführt — die Herrschaften kennen sich? Ah, nur vom Hörensagen. Gestatten Sie!“ Er stellte vor, und dann verwickelte er, den Arm auf die Lehne des Korbwägelchens gelegt, Helene in ein längeres Gespräch. Eingehend fragte er nach ihren Kindern.

Es blieb Doleschal nichts übrig, als sich mit Frau von Garczyńska zu beschäftigen. Sie winkte ihn zu sich herüber. Mit dem zärtlich-wehmütigen Lächeln, das ihr Gesicht so sehr anziehend machte, lächelte sie ihn an, als er zu ihrem Wagenschlag trat.

Ob diese Frau glücklich war? Doleschal legte sich im Augenblick, als ihn ihr Lächeln traf, diese Frage vor, die sich schon viele vor ihm vorgelegt hatten. Kam der feuchte Flimmer in diesen schönen Augen von Tränen? Und was suchte dieser starr verlorene Blick in weiter Ferne?

Als Doleschal die weiche Hand bei der Begrüssung in die seine nahm, fühlte er einen kurzen, festen Druck, den er den zarten Fingern kaum zugetraut.

„Ich werde zu Ihnen hinüberkommen“, sagte sie. „Ich setze mich in Ihr Korbwägelchen, es ist ganz reizend. Ja, ich will“, setzte sie im Tone eines verzogenen Kindes hinzu, als er etwas von ‚unbequem‘ und ‚eigentlich nur zwei Sitzen‘ murmelte. „Ihre Gattin wird mit Garczyński auf dem Throne sitzen. Alexander“, rief sie ihrem Mann in elegantem Polnisch zu, „wir fahren gleich weiter, ich bin müde. Die Kolonie interessiert mich zu wenig — ein andermal! Nimm die Baronin auf deinen Bock; ich fahre mit Doleschal. Wir fahren über Niemczyce nach Hause zurück!“

Plötzlich lebhaft geworden, drückte sie ihrem Gegenüber, dem priesterlichen Herrn, ein paar der weichen Kissen in die Arme. „Hier, Herr von Górka, seien Sie auch einmal galant! Bitte, tragen Sie mir die dort hinüber. Herr von Doleschal, bitte!“ Ganz hilflos streckte sie beide Arme aus. „Der Wagen ist abscheulich hoch, ich traue mich nie allein herunter. Ah — ah —!“

Leicht flog sie durch die Luft; als Doleschal sie herunterhob, fühlte er ihre ganze Grazie. Ihr ein wenig verschobenes Kleid zurechtzupfend, lachte sie jetzt und klatschte lachend in die Hände: „Scharmant, ganz scharmant! Changez les dames, changez!“

‚Muss ich?‘ schien Helenes Blick ihren Mann zu fragen, als Herr von Garczyński ihr die Hand zum Umsteigen bot. Doleschal senkte die Lider — sie verstand diese stumme Bejahung; es lag ihm nun einmal daran, mit den Nachbarn, wenn auch nur in rein äusserlich aufrechterhaltenen, guten Beziehungen zu stehen. So schickte sie sich darein; aber ihre Bewegungen waren steif, ihre Miene abgemessen.

Mit liebenswürdigen Lobpreisungen nestelte sich Frau von Garczyńska auf dem kleinen Korbwägelchen ein: sie war noch nie so niedlich gefahren, hier war’s ja tausendmal bequemer als auf dem grossen Jagdwagen! Als der junge Vikar ihr die gewünschten Kissen in den Rücken schob, dankte sie ihm mit dem zärtlichsten Lächeln; aber die Kissen wies sie gleich wieder zurück: die hatte sie hier ja gar nicht nötig!

Mit einer stummen Verbeugung trat er zurück. Er hatte sich ebensogut in der Zucht, wie seinen Schüler. Sie hatten beide noch kein Wort gesprochen.

Auch die blonde Zofe, die sich anschickte, mit dem Schirm hinter ihre Herrin zu klettern, wurde abgewiesen. „Ich brauche dich nicht, Stasia! — Wie herrlich ist die Sonne! Wie wunderbar gefärbt die Wolken sind!“ Frau Jadwigas Augen schwammen. „Fahren Sie, Baron, he, voran!“ Ihre Brust hob sich, als wollte sie springen im Übermass der Empfindung. „Ich bin entzückt. Fahren Sie, fahren Sie — schneller in die Sonne hinein, schneller!“

Der Traber strengte sich an. Mit ausgezeichneter Kunst die vier wilden Pferde, die der Diener inzwischen kaum hatte zügeln können, zu langsamem Tempo zwingend, fuhr Garczyński nach.

Im Jagdwagen lachte plötzlich die Zofe halblaut auf, und dann, wie erschrocken über ihr Lachen, warf sie von unten her einen verstohlenen, schielenden Blick auf Lehrer und Schüler. Der Vikar hatte ein Büchlein herausgezogen, in das er mit ernster Miene vertieft war; das junge Herrchen dagegen merkte auf. Ein Aufflackern seines Auges begegnete dem leicht schielenden Blick der Blonden. Da lächelte sie merklich, aber weiche Grübchen kamen dabei in ihre jungen Wangen; sie lehnte sich ein wenig hintenüber, liess die Wimpern über die Augen fallen und spielte am Schirmgriff ihrer Herrin.

Der Traber, durch die vier Pferde, die hinter ihm schnaubten, und durch das Gebell der Doggen, die wie rasend zwischen beiden Wagen hin und her sprangen, nervös gemacht, schoss dahin wie ein Vogel auf fliehendem Flug. Das Viergespann ihm nach. Sich verfolgende Schatten, durch steigende Nebel vergrössert, jagten über die rasch dunkel werdende Ebene.

Dudek, der Schäfer, schlug ein Kreuz: Wer war das? Fliegende Pferde, fliegende Wagen und fliegende Hunde! Heilige Mutter, hilf, das war Myśliwy pan, der Nachtjäger, auf wilder Fahrt!

Scheu pfiff er die Hunde und trieb eilig die Schafe zusammen. Dass die Heilige Mutter sie hüte! Auch über ihnen machte er fromme Zeichen.

Horch, klang’s jetzt nicht schon ferner, das ‚Huch haha‘ und das ‚Hoho‘? Aber jetzt noch ein Lachen! Hell, wie die Kania lacht, wenn sie am Himmel im Abendrot fliegt und Seelen raubt und sie dahin trägt, von wo sie nie mehr zurückfinden können.

„Herr, Gott, sei bei uns!“ Sein Haupt verhüllend vorm Grauen der Ebene, betete Kuba Dudek, der Alte.

Das schlafende Heer

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