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Viertes Kapitel
ОглавлениеWie eine Offenbarung kam es über Herrn Kestner auf Przyborowo, als er, unter seinem Hoftor stehend, von Miasteczko her zwei Wagen in der Richtung nach Chwaliborczyce fahren sah. Sie nahmen nicht die Strasse über Przyborowo—Niemczyce, sondern den viel schlechteren, aber direkteren Landweg quer durch die Felder.
Aha, also es war wirklich so, die Kommission, die heute vormittag die Parzellierungen beim Städtchen in Augenschein genommen hatte, fuhr jetzt zu Garczyński?! Ja, der Pole war ein Schlauer, der wusste es geschickt anzufangen! Und hier waren sie nicht einmal vorgekommen! Sie hatten Przyborowo links liegen lassen, als wäre das gar nicht vorhanden!
Der Przyborowoer zog die Stirn kraus: man muss eben Pole sein, um Seide zu spinnen! Diese Bevorzugungen von seiten der Regierung gingen doch wirklich zu weit: das war ja schon das reine Kokettieren!
Die Sonne blendete. Der Gutsherr trat unter die Akazie beim Hoftor, die wenigstens einigen Schatten gab, und blickte, die Hand über die Augen gelegt, hinaus auf sein Reich.
Überall Schober. Räder knarrten. Gleich über die Strasse weg, drüben auf der ersten Stoppel standen drei grosse Weizenschober, und vier, fünf hochbepackte Erntewagen schwankten eben von weiterher noch heran, um auch hier abzuladen. Die Schober standen wie im Feuer; gleich hinter der Stoppel, die mit scharfem Rand gegen den Himmel abschnitt, stand das Riesenrund der Sonne. Als tauchten die Wagen aus der Sonne empor, so erschien es; feinem Gespinst gleich hoben sich die Speichen der Räder gegen die goldrote Scheibe, und die Rothemden, die hoch oben auf dem Korn thronten, flammten. Sie stakten die Bunde auf und schwangen sie, mit starkem Arm die Gabel hochhaltend, von oben niederwärts. Jedes Garbenbündel schwebte für Augenblicke, wie ein dunklerer Fleck, aber von einer Gloriole umstrahlt, mitten im Rund der grossen Sonne, als teile die selber gütige Gaben unendlicher Fülle aus.
Der Przyborowoer rechnete: was kostete das nun wieder für Arbeitslöhne! War die Ernte geringer, brachte sie nichts — war sie gut, brachte sie erst recht nichts ein. Man wusste wahrhaftig nicht, um was man heutzutage bitten sollte!
Vor sich hin grämelnd stand er.
Gelächter schallte von der Stoppel herüber, und dazwischen tönten Kommandorufe des Vogtes. Beim neuen Schober tummelten sich die Arbeiter. Ein paar Abstakerinnen, die kattunenen Kopftücher tief über die Mützchen gezogen, kamen jetzt in flatternden Röcken gegen das Hoftor geweht mit dem staubigen Wind. Ihre geleerten Wasserkrüge brachten sie.
Aber mit strengem „Dalli, Dalli“ und in die Hände klatschend, wie man die Gänse scheucht, jagte der Herr sie zurück an die Arbeit: hier wurde nicht beim Brunnen gelungert! Kestner schüttelte den Kopf: ja, Therese hatte ganz recht, der Hoppe war gar nicht mehr auf dem Posten, seine Ohren und Augen waren nicht mehr scharf genug, die Leute tanzten ihm auf der Nase. Wenn der Inspektor schneidig wäre — wie dürften die Dirnen sich sonst unterstehen, mitten aus der Arbeit fortzulaufen? Ja, wenn man den Szulc aus Chwaliborczyce kriegen könnte! Der verstand die Bande zu nehmen!
Mit weitausholenden Tritten schritt Rittergutsbesitzer Kestner über die Strasse auf die Stoppel und weiter über diese auf den neuen Schober zu. Dieser fing schon an, sich zu erheben. Die unterste Runde war bereits gelegt; in der Mitte stand ein Rothemd und ordnete die Bündel, und die Mägde fingen an, hinaufzuklettern und die Mandeln festzutrampeln. Die Knechte starrten mit lachenden Mäulern nach den vom kitzelnden Stroh zerstochenen Waden und nach dem, was sonst noch zu sehen war.
„Vogt!“ brüllte der Herr mit aller Kraft. „Vogt!“
Der Vogt, der dem eben anrumpelnden Wagen entgegengegangen war, kam eilig gesprungen.
„Vogt, dass mir hier ordentlich gerichtet wird! Setzt den Schober nicht auch wieder so schief wie die andern! Wie sieht denn das aus? — Wo ist denn der Inspektor?“
Der Vogt wusste es nicht.
Natürlich, wo wäre denn je ein Inspektor da, wo er sein sollte! Der Herr liess die Blicke über die Endlosigkeit seiner Felder schweifen.
Aha, ganz dahinten, wo die Rübenfelder des Vorwerks einen grünen Strich unter dem Himmel zogen, tauchte jetzt etwas auf: ein krabbelndes Käferchen. So langsam, wie eine Schnecke so langsam. Man sah kaum das Sichbewegen der Pferdebeine. Wahrhaftig, nicht mal mehr reiten konnte der! Nein, nein — Kestner schüttelte energisch den Kopf —, man musste hierzuland keinen Deutschen nehmen; der Hoppe hatte sich kolossal früh verbraucht!
Mit einem: „Padam do nóg“ — „Ich falle zu Füssen“ — knicksten die Erntearbeiter, als der gnädige Herr musternd seinen Blick über sie hingleiten liess. Die Männer sahen rotbraun aus, kupfern wie die Indianer; das Hemd stand ihnen auf der Brust offen, die Hosen in den hohen Stiefelschäften waren bei der angestrengten Bewegung gerutscht, kaum hielt sie noch der verschabte Ledergurt, darin der Wetzstahl für die Sense steckte. Auch die Mädchen waren halb aufgelöst. Wie eine Wolke hüllte ein ätzender Schweissgeruch den Schwarm und den Schober ein.
Befriedigt nickte Kestner: die konnten arbeiten! Schafften in einer Stunde mehr als deutsche Leute in dreien.
„Vogt, lasst den Leuten heut die doppelte Ration geben! Auch den Weibern das Mässchen voll.“
Der Vogt bückte sich:
„Ich falle zu Füssen!“ Und dann ermunterte er mit einem Blick ringsum: „Pan Keszner gibt euch doppelt soviel Schnaps heut — dalli, dalli, arbeitet flink! He, aufgepasst — wir danken!“ Er riss den runden Hut bis zur Erde: „Dass der gnädige Herr lebe!“
Schnaps, die doppelte Ration Schnaps heute?! Alle Hüte flogen herunter. „Wir danken! Dass der gnädige Herr lebe!“
Alle Arbeitenden stimmten in den Ruf mit ein; in einem kurzen Aufjauchzen schoss das Lebehoch über den Schober.
Als Kestner in sein Hoftor zurücktrat, prallte die Sonne noch sommerheiss; nur an den verlorenen Ähren, die vor den geschlossenen Türen der Scheunen zertreten lagen und an denen sich eine Schar von Gänsen und Enten, rotgelappter Puten und Perlhühner gütlich tat, merkte man den Herbst.
Wie ein Ungetüm stand unterm schindelgedeckten Remisendach die Lokomobile. Der Monteur aus der Kreisstadt schaffte um sie, und der Stellmacher vom Dominium leistete ihm Handlangerdienste. Morgen sollte sie hinaus und den Anfang machen auf der entferntesten Stoppel und fauchen und fressen, stöhnen und Garben schlucken, als wären’s Halme, und sich immer weiter durchfressen, immer näher heran, bis zu den letzten Weizenschobern auf der nächsten Stoppel beim Hoftor. Ärgerlich genug, dass man schon ausdreschen musste, aber was sollte man machen?! Die Scheunen waren gestopft voll, man würde viel zu früh verkaufen müssen!
Mit hochgezogenen Augenbrauen stand der Przyborowoer vor der mit eisernen Bändern beschlagenen Tür seines Kornspeichers und besah sich das langgestreckte, das einzige massive Gebäude des Hofes vom untersten Mauerstein bis zum obersten Dachziegel. Für diesmal war’s viel zu klein — und doch ein andermal wieder viel zu gross!
Die Mauer entlang, auf dem schmalen Pflasterstreifen, zwischen dessen spitzen Steinen Stechapfel wuchs und sehr viel Brennessel, sassen Weiber, den Rücken gegen die Speicherwand gelehnt, die Beine platt in den Hof hinaus gestreckt. Das waren die Frauen der Arbeiter, Mütter und Grossmütter, die jetzt die Kornsäcke zu flicken hatten, die von den Mäusen zernagt waren. Alle Säcke würde man brauchen.
„Dalli, dalli“, sagte der Herr wieder. Sein Blick streifte die lange Reihe. Wahrhaftig, da hatte schon jede einen grossen Topf bei sich stehen! Da würden sie nun sofort in den Kuhstall rennen, sowie nur die Glocke zur Melke ertönte, gierig auf ihr Deputat — keine kleine Abgabe, diese zwei Liter fette Milch täglich!
„Ksch, ksch, wollt ihr gehen!“ Ärgerlich trieb Kestner das Federvieh auseinander, das um verlorene Körner zankte. Wo war denn die Hütemagd? „Marynka, Marynka! — Unverschämtes Viehzeug, ksch, ksch!“
Schnatternd watschelten Gänse und Enten dem kleinen Pfuhl zu, der, mitten in der grasbewachsenen Narbe des ungepflasterten Hofes, wie ein rundes Loch sich auftat, während die Hühner verängstigt umherrannten.
„Ksch, ksch, ksch!“ Zornig schleuderte Kestner seinen Stock mitten unter sie — ein junges Perlhühnchen sank um und stand nicht mehr auf. Hatte er nicht schon hundertmal befohlen, das Federvieh sollte sich nicht hier bei Futterspeicher und Tennen herumtreiben? Wie leicht, dass sie ein Loch fanden, um bequem hineinzuschlüpfen und zu fressen und zu fressen. Das verstand Therese nun eben noch nicht, im kleinen musste auch gespart werden. Die Ausgaben waren zu gross — was kosteten die Jungen nicht alles! Es war schrecklich. Sie dachten wohl gar, des Vaters Tasche war unerschöpflich?
Mit einem Seufzer bückte sich der Vater und las eine Handvoll der verstreuten Ähren zusammen. Sie wie einen Strauss in der Hand haltend, blickte er, den Kopf nachdenklich wiegend, darauf nieder.
Die Hühner, die sich vom ersten Schrecken erholt hatten, kamen schon wieder dreist nach dem Futter gerannt; auch die Enten, ein blaugrüner Erpel voran, nahten mit ‚katsch, katsch‘. Selbst die Tauben, die bis dahin in ihrem Schlag, der sein hölzernes Häuschen mit dem runden Durchschlupftürchen auf baumhoher Stange beim Pfuhl erhob, gegurrt hatten, liessen sich jetzt nieder vorm Scheunentor wie eine besonnte weisse Wolke.
„Marynka! He, Marynka!“
Laut hallte der Ruf über den weiten Hof und weckte das Echo, das hinterm Kuhstall wohnte. Zum Kuckuck, wo schlief denn die faule Dirne? Natürlich, die hatte der Hoppe engagiert — wie der Inspektor, so das Gesinde! Hatte denn niemand Ohren?
Vom verborgenen Plätzchen hinter den Pferdeställen kam jetzt ein Fornal gestürzt. O weh, der gnädige Herr war böse! Scheu guckte der Pferdeknecht. Es war seines Amtes, draussen bei den Gespannen zu sein, aber die noch grünen Winteräpfel und die Mistbeetmelone, die er heut nacht mit dem Nachtwächter zusammen aus dem Herrschaftsgarten geholt, kollerten ihm arg im Leibe. Sich mit beiden Händen rasch die Hose hochziehend, schnitt er ein vor Schmerz und Verlegenheit klägliches Gesicht.
Aber der gnädige Herr bemerkte es nicht. „Wo ist die Marynka — he?!“
Der Pferdeknecht atmete erleichtert auf, wenn ihm auch gerade wieder ein Schneiden durch den Leib ging wie mit dem Messer. „Ah, die Marynka? Die Marynka, da ist sie, beim Kompost!“ Der Schmerz verzog sein grinsendes Gesicht, er verschwand eilig.
Auch Kestner verliess geschwind den Hof; durchs Gittertor mit den Eisenspitzen schritt er in den Garten. Dort lag hinterm Treibhaus der Komposthaufen, an dem Frau Therese die Champignons züchtete, die sie frisch oder auch in Büchsen eingemacht den Söhnen schickte.
Wollte das Frauenzimmer, die Hühnermagd, etwa auch Champignons pflücken, jetzt, wo alles draussen auf dem Felde war und sie sich unbeobachtet wähnte?! Das wäre! Ganz sacht schlich der Herr sich heran, den Stock erhoben — weiss Gott, da kniete die Diebin vorm Komposthaufen, ganz vertieft in ihre Mauserei!
„Dass dich die Kurzepluca hole, das Hühnergespenst! He, du!“
Schwer liess der Herr seinen Stock auf die Kniende niederfallen.
Mit einem erschrockenen Aufschrei fuhr die kleine Marynka herum. Ihr Gesicht war ganz von Tränen überströmt; ein sich sträubendes, junges Perlhuhn hatte sie unter den Händen, zwischen den Zähnen hielt sie das zum Schlachten bestimmte Messer.
„Werd ich es ja schlachten, gleich, gleich!“ schluchzte sie. „Oh, mein liebes Hühnchen, so jung und soll schon sterben! Sagt die Mamsell, gnädige Pani hat bestimmt dieses, es muss gebraten werden und fahren weit, wo ist Deutschland. Hat es gelbe Füsschen und ist so schön schwarz und weiss. Ach, Panje Keszner“ — sie drückte das zitternde Huhn an ihr Kindergesicht und sah den gnädigen Herrn unter Tränen blinzelnd und bittend an: „Muss Hühnchen wirklich sterben?“
So — hm — also Therese schickte schon wieder einen Fresskober nach Berlin? Als ob man da nicht genug zu essen kriegte! Der Junge liess sich doch wahrlich nichts abgehen. Kestner zog die Augenbrauen hoch, aber dann sagte er unwirsch: „Dalli, dalli, lass die Pani nicht warten! Schlachte sofort das Huhn. Und hier“ — er scharrte mit dem Stock — „hier gräbst du die Eingeweide ein.“ Das gab guten Dung für die Champignonbrut, die wuchs dann reichlicher.
Er ging am Bienenstand und an den Spargelbeeten, die jetzt in hohen grünen Bäumchen mit roten Beeren standen, vorbei und durch das Blumenrondell zur Veranda auf der Rückseite des Wohnhauses.
Die kleine Marynka, das Messer zwischen den Zähnen, sah ihm traurig nach. Ach, armes Hühnchen! Wenn sie „put, put“ gemacht, war es immer zuerst gekommen.
Unwillkürlich lockerten sich ihre Hände — mit einem Aufkrähen entwischte ihr das Huhn, fort war es, sass auf dem Gittertor und drehte äugelnd das Köpfchen, war jetzt schon drüben auf dem Hof und stob mit gespreizten Flügeln davon.
Sie war ihm nachgelaufen, die Hände ausstreckend, um es zu greifen. Über den Hof bis zur ersten Scheune hin ging die Jagd. Es liess sich nicht fangen.
„Put, put — put, put!“ Da hielt es zutraulich an, plusterte sich auf und pickte ein Körnchen.
Heilige Maria, nein, sie konnte es nicht schlachten! Vater, Mutter waren im Himmel, Hühnchen durfte nicht auch dahin gehen!
Sich niederkauernd beim pickenden Liebling, weinte die kleine Marynka aufs neue bitterlich. Hilfesuchend irrte ihr Blick über den öden Hof. Da — sah sie recht? Wie Sonnenschein blitzte es plötzlich durch den Sonnenschleier ihrer Tränen, schnell war sie auf den Füssen, schnell zugesprungen — da lag was am Boden zwischen Unkraut und Spreu, mit gelben Füsschen und schön schwarz und weiss, und das war schon tot.
„Heilige Mutter, heilige Schutzpatronin, du hast gesehen armes Waisenkind!“ Entzückt stammelte die kleine Marynka; das Messer entglitt ihren Zähnen, flugs nahm sie es zur Hand: rasch das tote Hühnchen noch abgeschlachtet. Perlhuhn ist Perlhuhn — wer wird es merken?!
Frau Therese war beschäftigt, auf dem Tisch der geräumigen Speisekammer, hinter dem nach dem Hofe herausgehenden stark vergitterten Fenster, die Kiste für ihren Ältesten zu packen. Er hatte geschrieben, dass er einem abkommandierten Regimentskameraden ein letztes kleines Frühstück zu geben beabsichtige. Und das war so viel gemütlicher in den eigenen hübschen Räumen als bei Dressel, und auch so viel billiger, denn die Mutter schickte. Ein Korb Krebse, in Nesseln verpackt, kam morgen früh noch dazu, ‚per express‘ zu bestellen. Löb Scheftel hatte sich beim Haupt seiner Kinder verschworen, dass er die in der Nacht gefangenen Krebse bereithalten würde bei Morgengrauen. Dann konnte der Milchjunge sie bei ihm abholen, vielmehr besser, die beiden besorgten miteinander die Kolli zur Post, Scheftel den Milchjungen und der Milchjunge den Löb Scheftel kontrollierend.
Die Krebse aus dem See von Miasteczko hatten eine gewisse Berühmtheit im Kreis der Kameraden; Frau Therese konnte schon eine ganze Anzahl von Ansichtspostkarten aufweisen:
‚Der gütigen Frau Mama unseres lieben Kestner heissen Dank.‘
Die selbstzubereitete Gänseleberpastete — die Mamsell hatte ein Geheimrezept — war auch nicht zu verachten, konnte neben jeder Strassburger bestehen. Die Entenpotrawka in einem hohen Steintopf, das schon fertige Ragout sorglich mit Pergament verbunden, brauchte nur warmgemacht zu werden; Rebhühnchen, in Weinblättern und Speckscheiben geschmort, lagen ein Dutzend bei, und für Paul, der keine Rebhühner mehr sehen konnte, wurde eben noch ein ganz zartes Perlhuhn abgebraten.
Wenn nur alles gut ankam, die frischen Butterkuchen nicht zermürbten, die Ananaserdbeeren im dicken Zuckersaft und die Glaskrause mit den Rumfrüchten nicht in Scherben gingen!
Besorgt packte die Mutter, und ihr strenges Gesicht wurde weich dabei. Der gute Junge, wie würde er wieder schmunzeln! Sie sah so deutlich sein gebräuntes Gesicht mit der weissen Stirn über der roten Attila und seine lachenden Augen. Sie konnte es nicht ändern, der Husar war nun einmal ihr Verzug; nicht, dass sie den Referendar weniger geliebt hätte, aber der war ja so in der Nähe, kam fast alle Sonntage von Posen herüber. Und Kornelia? Nun, die war ohnehin schon des Vaters Liebling! Frau Therese wusste, ihr Mann legte bereits zurück für eine grosse Mitgift.
Wenn nur der Hoppe nicht so abgängig wäre, dann würde man noch besser fahren bei den schlechten Zeiten! Solange sie selber ihren guten Augen trauen durfte, ging’s ja noch an, aber wenn Gott ihr die Kraft nicht mehr liess, was dann?! Wenn denn durchaus keiner der Söhne Przyborowo übernehmen wollte — und konnte man’s ihnen verdenken, dass sie nicht auf der Klitsche verbauern, sich nicht in der Provinz vergraben wollten? — war es das beste, zu verkaufen. Der Boden war glänzend und noch hoch in Kultur — das liebe Przyborowo, es war einem doch sehr teuer.
Frau Kestner verschloss ihre Vorratsschränke und hakte die Schlüssel in ihren Schlüsselbund; den überliess sie niemand, auch der Mamsell nur für Augenblicke. Mit dem Bewusstsein, die Kiste bis zum Rande gefüllt zu haben, schritt sie, ihre stattliche Gestalt ein wenig bückend, unter den selbstgegossenen Talglichtern her, die in langen Kränzen von der Decke baumelten, zum Ausgang.
Da hörte sie ihren Mann aufgeregt rufen:
„Therese, Therese!“
Gott verhüte, es war doch keine schlechte Nachricht von den Jungen gekommen? Eben hatte sie den Landbriefträger mit seinem Knotenstock und der umgehängten Posttasche vom Hof gehen sehen.
Sie lief ins Studierzimmer.
Kestner sass auf seinem Sofa unter dem Bildnis des Kaisers und rang nach Luft.
„Da siehst du’s nun, Therese, da haben wir’s — da schreibt der Paul schon wieder um Geld!“ Er legte den im ersten Ärger zerknitterten Brief vor sich auf den Tisch. „Und warum? Hahah!“ — er lachte gezwungen — „weil er jetzt, da er Rittmeister geworden ist, noch ein Pferd haben müsste. Was sagt man dazu: zwei für sich, eins für den Burschen und eins für das neue Break. Der Junge denkt wohl, ich finde das Geld auf der Strasse? Lies nur, lies!“
Sie las, las lange. Die grossen steilen Schriftzüge waren leicht zu entziffern; viel stand nicht auf dem Bogen, aber sie überlegte bei jeder Zeile: war es wirklich nur wegen des neuen Pferdes, oder hatte er etwa wieder gespielt?
Kestner stöhnte: „Da hab’ ich ihm was von ‚ganz leidlicher Ernte‘ geschrieben — natürlich, nun wird gleich darauflos gelebt wie ein Wilder!“
„Das kannst du nicht sagen, das ist unrecht!“ Die Mutter hielt sich den Brief dichter vor die Augen und las und las. „Er schreibt: ‚Alle andern haben mindestens so viele im Stall‘!“
„Unsinn! Das soll er jemand andrem einreden — mir nicht!“
„Aber da lies doch! Es ist ihm eben nicht anders möglich.“ Theresens Stimme klang gereizt. „Baron Kramstal hat vier, Herr von Korendowski fünf, Graf Dohnat vier, Falk von Falkenstein fünf. Und der Blechmeier hat sogar einen ganzen Rennstall. Da kann man es Paul doch wahrhaftig nicht verdenken, dass er nicht gänzlich zurückstehen will. Du musst ein Einsehen haben, Moritz! Dann hätten wir unsern Sohn eben nicht Offizier werden lassen dürfen!“
„Ja, da hast du recht — hm, ja!“ Er nickte mehrmals rasch hintereinander. „Freilich — was sein muss — hm — muss sein!“ Den Kopf in die Hand stützend, grübelte er vor sich hin.
Therese stand ruhig und wartete. Sie wusste, er würde sich ihrer bessern Einsicht nicht verschliessen. Sie würde übrigens selber einmal Hoppe vornehmen und sich informieren, was in diesem Monat einging. Ohnehin wollte sie ihm sagen, dass diese Verschwendung von Hofpersonal nicht am Platze sei. Mochten die Dirnen nur draussen mehr helfen — weibliche Arbeitskraft ist doch noch immer nicht so teuer wie männliche —, wenn zwölf zur Melke daheimblieben, war’s reichlich genug. Die zwölf konnten siebzig Milchkühe bequem schaffen — mochten sie ihre Daumen brauchen! Und die Hühnermagd konnte noch die Schweine mit übernehmen, Hühner machen so gut wie keine Arbeit. Man musste sparen an allen Enden.
Ihre scharfen Augen gingen durchs Fenster auf den Hof, den man in seiner ganzen Breite, mit dem Tor in der Mitte, bequem vom Studierzimmer aus übersehen konnte. Und noch weiter sah man: wie ein Bild, von den Pfosten des offenen Hoftors eingerahmt, ein Stück der Felder, sich in den Himmel verlierend.
Auf der baumlosen Fläche, dunkel gereckt, ragte am Horizont der Turm von Pociecha. So hatte man den immer gesehen all die fünfunddreissig Jahre, die man hier gewohnt. Er würde einem ordentlich fehlen. Aber dass sich da jetzt noch Ziegeldächer erhoben — wenn die Sonne drauf schien, blendeten sie — das war störend.
„Du“, sagte Frau Kestner plötzlich und wendete sich ihrem Manne zu, „ist es wahr, dass der Niemczycer mit den Ansiedlern fraternisiert? Er soll immer hinfahren, sich um jeden Quark kümmern, als wär’s seine eigene Angelegenheit. Wenn Scheftel das Fleisch in die Küche liefert, erzählt er immer der Mamsell — natürlich, der Jude ist entzückt von so was! Ich muss gestehen, ich hätte Doleschal für innerlich vornehmer gehalten. Man sieht, das Hochnäsigsein ist noch lange nicht Vornehmheit.“
„Ein Esel ist er!“ Unwirsch fuhr Kestner auf. „Proletariat ladet er uns auf den Hals! Was sollen wir mit den Leuten? Zu Arbeitern sind sie viel zu anspruchsvoll, sie hetzen uns nur unsere eigenen Leute auf. Hätte sich wohl früher einer von den Hiesigen unterstanden, zu sagen: ich will nur bis acht Uhr arbeiten?! Bis die Sterne am Himmel standen, bei Mondschein noch haben unsre Sensen gemäht. Die Russen, die im Akkord sind, hauen sogar die ganze Nacht durch, wenn’s sein muss. Und Sonntag, Sonntagsruhe — ei, dass dich!“ Er zog die seidene Mütze herunter, die er immer trug, sowohl im Hause als auf dem Hofe, und warf sie auf den Tisch. „Nun muss man ruhig zusehen, wie einem das ganze Getreide verpladdert.“
„Rege dich nicht auf“, bat Therese. „Jeder vertritt eben, was er für gut hält.“
„Gut hält — gut hält! Kann ich denn tun, was ich für gut halte? Wie ein Spürhund ist die Regierung einem auf den Hacken. Und der Doleschal macht den Aufpasser. Ich werde es aber Paul sagen, dass mir die dicke Freundschaft mit dem nicht passt. Wenn wir uns hier zusammenschlössen, alle an einem Strang zögen, dann möchte ich doch sehen, wer die Karre anders schöbe! Aber Doleschal ist liiert mit dem H-K-T — seit der gegründet ist, ist alles zugespitzt. Es ist einfach nicht mehr auszuhalten!“
„Ja“, sagte sie rasch, „es wäre das beste, wir verkauften, dann wissen doch auch die Kinder, woran sie sind.“
„Nun, natürlich!“ Er stand auf und ging an seinen Geldschrank. Umständlich schloss er auf. Und dann entnahm er einem besonderen Kästchen einen Schein. „Da, schick das dem Jungen! — Aber nicht von Miasteczko aus“, grämelte er nach einer Pause, in der er dagestanden und starr in den noch geöffneten Geldschrank hineingeguckt hatte. „Es wird sonst gleich ruchbar. Ich mag nicht, dass sie wissen, was ich verschicke. Man wird sowieso immer überschätzt!“
„Ich werde morgen nach der Kreisstadt fahren — schade, dass es heute zu spät ist! — und von da schicken, mit eingeschriebenem Brief. Bei der Gelegenheit fahre ich bei der Landrätin vor; ich will ihre Kinder in den Herbstferien zu uns heraus laden.“
„Die Kinder — in den Ferien?“ Sein Gesicht wurde lang. „Muss das sein?!“
„Ich bitte dich, Moritz, es muss nicht gerade sein, aber —“ eine kleine ungeduldige Röte stieg in ihr Gesicht — „wenn wir verkaufen wollen! Und — da es mir gerade einfällt —, du hättest auch längst schon mal einen Besuch bei Doleschal machen können. Garczyński ist zehnmal klüger — neulich sollen sie sogar zusammen spazierengefahren sein. Das weisst du doch selbst ganz gut, wie man sich heutzutage dazuhalten muss!“
„Gott weiss es — das muss man!“ Er stiess einen tiefen Seufzer aus.
Über den Hof kam jetzt der Inspektor Hoppe. Breitbeinig ging er, man sah’s, er war steif vom Reiten.
Therese, die schon im Gehen begriffen war, zögerte noch. Da konnte sie ihm ja gleich wegen morgen sagen!
Hoppe trat zugleich mit seinem Klopfen ein; mit den schweren, vom Ackerstaub wie mit grauem Mehl besiebten Stiefeln tappste er achtlos in die Stube.
Ein unwilliger Blick der Gutsherrin traf ihn: hatte der denn noch immer nicht gelernt, eine saubere Diele zu schonen? Womöglich lief er so auf den Teppich! Und nicht einmal die Mütze nahm er ab!
Die Miene des Inspektors war erregt, die Zornesader seiner Stirn dick angeschwollen; aber um den Mund lag Bekümmernis. „Herr Kestner“, sagte er hastig, „kommen Sie doch, bitte, mal ’raus! Herr Kestner, beim neuen Schober machen sie Skandal!“
„Wo, wer? Ach was!“ Ungläubig sah ihn der Herr an.
Frau Therese lächelte ein wenig spöttisch: da wurde mal wieder aus der Mücke ein Elefant gemacht!
„Herr Hoppe“, sagte sie, „ich brauche morgen den Landauer. Bitte, um zwei Uhr! Und schicken Sie gefälligst den Milchwagen statt um vier schon um drei Uhr nach Miasteczko. Eine Kiste muss zur Frühpost zurechtkommen!“
Er hörte sie gar nicht. „Sie glauben es nicht, Herr Kestner?! Sehen Sie!“ Er nahm die Mütze ab. Über den grauen Kopf, mitten herüber, lief eine tüchtige Schmarre; das Blut war geronnen und hatte ringsum die Haare verklebt. Der wetterharte Mann schloss einen Moment wie im Schmerz die Augen, und dann machte er sie gross und vorwurfsvoll auf. „Sie haben den Leuten die doppelte Ration Schnaps geben lassen, Herr Kestner. Auch den Weibern. Nun sind sie aus Rand und Band. Halb acht Uhr Arbeitsschluss wollen sie jetzt haben. Der Vogt hat mich zu Hilfe gerufen, er ist ihnen nicht gewachsen.“
„Und Sie auch nicht“, brüllte der Przyborowoer. „Dummes Zeug! Warum haben Sie nicht druntergehauen?“
„Ich habe.“
„Aber wie! Ich weiss ja, es widerstrebt Ihnen. Sonst wäre die Sache sofort erledigt gewesen. Also heute abend gibt’s keinen Gurkensalat fürs Gesinde und die saure Milch pur zu den Kartoffeln! Und den Leuten erlaube ich es nicht mehr, eine Sau zu halten, wenn sie nicht kuschen. Über den Scheffel Weizen reden wir auch noch einen Ton zusammen. Und den Wanderarbeitern, den Russen, sagen Sie nur: Pascholl! Einfach: Pascholl!“
„Herr Kestner, wir brauchen aber die Leute — alle Leute!“
„Ach was! Offner Aufruhr — was wollen Sie denn?“ Er zeigte auf des Inspektors blutrünstige Schmarre. „Sie sind Zeuge. Na, die haben Ihnen ja ordentlich eins ausgewischt! Mütze vom Kopf ’runtergeschlagen, und dann mit der Gabel gestochen — was? Und die Weiber waren natürlich die tollsten. Haha, kenne ich! Auf mich sind auch schon mal ein paar Abstakerinnen losgegangen — wegen ’ner Lappalie, sozusagen aus Übermut — ich habe sie aber umgeritten, und nachher waren wir gut Freund. Wie die Kinder sind sie, wie die Kinder. Nicht wahr, Therese?“
Frau Kestner nickte stumm. Sie ärgerte sich über den Inspektor.
Der Gutsherr hatte sich nach und nach beruhigt. „Keine Sorge, Hoppe, die Kerle laufen nicht fort — wohin sollen sie denn auch jetzt? Nur immer gedroht: Ruhe, sonst pascholl! Ich brauche nur zur nächsten Behörde zu schicken, und — eins, zwei, drei — über die Grenze sind sie per Schub.“
Der Inspektor sah vor sich nieder; er ging noch nicht, es kämpfte noch in seinem Gesicht. „Wenn die Weiber wenigstens um halb acht aufhören dürften! Es sind Mütter darunter von ganz kleinen Kindern. Und die Arbeit ist schwer!“
„Lieber Hoppe, tun Sie mir den Gefallen“ — verdriesslich fasste sich der Przyborowoer an die Stirn — „kommen Sie mir nicht mit den Geschichten! Die Leute sind an Arbeit gewöhnt. Um acht Feierabend! Nicht früher! Sagen Sie ihnen das! Die Leute müssen eben ’ran, jede Minute ist kostbar!“
Schwerfällig wandte sich der Inspektor zur Tür.
„Bitte, einen Augenblick!“ Frau Kestner hielt ihn noch zurück. „Also der Milchwagen fährt morgen um drei statt um vier, nicht wahr?“
„Schon um drei?! Gnädige Frau“ — er sah sie verdutzt an — „dann müssten die Mägde ja schon um zwei in der Frühe zur Melke aufstehen?“
„Es muss unbedingt etwas zur ersten Frühpost zurechtkommen!“ Die helle Röte stieg ihr ins Gesicht, und der Ton, in dem sie jetzt sagte: „Um zwei nachmittags den Landauer mit den beiden Füchsen für mich!“ hatte nichts mehr von einer Bitte an sich.
Sie sah nach ihrem Mann hin: würde der den Inspektor nicht zurechtweisen?
Hoppe hatte einen ungeschickten Abschiedsdiener gemacht, aber er blieb noch immer stehen wie angewurzelt. „Herr Kestner“, sagte er jetzt leise, aber es zitterte etwas in seiner Stimme, „könnte die gnädige Frau nicht vielleicht an einem andern Tag fahren? Muss es gerade morgen sein?! Die Gespanne haben dringend zu tun. Das Wetter droht umzuschlagen. Ich brauche alle Pferde — auch die Kutschpferde — sie müssen eben ’ran, jede Minute ist kostbar!“
Kestner zögerte; der Einwand leuchtete ihm ein, Frau Therese sah’s an seiner gerunzelten Stirn und dem verlegenen Blick. So mahnte sie schnell — der Schein brannte sie förmlich in der Tasche —: „Moritz, bedenke, Paul wartet!“ Und dann sagte sie, mit einem verabschiedenden Neigen des Kopfes: „Überhaupt, Feldarbeit ist viel zu schwer für die Füchse, die müssen geschont werden!“