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Drittes Kapitel

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Tiefes Dunkel der Augustnacht wickelte das Herrenhaus von Chwaliborczyce wie in ein dickes, warmfeuchtes Tuch.

Der Vikar hatte sich eben von den Herrschaften verabschiedet. Es war spät geworden, der Umweg über Niemczyce hatte das Nachhausekommen verzögert. Dann war gespeist worden, und dann hatte der Vikar, wie immer, wenn er in Chwaliborczyce als Abendgast blieb, eine Andacht abgehalten, an der auch das Gesinde teilnahm. Frau Jadwiga war ihm dankbar dafür; sie hatte ihn auch heute, trotzdem sie erschöpft war ‚bis zum Umsinken‘, wie sie sagte, darum gebeten.

Nun stand Górka endlich draussen, unten am Fuss der vielfach ausgetretenen und zerrissenen Freitreppe, die vom Gartenzaun hinab in den Park führte, und war erschrocken, als ihm seine Uhr — ein kostbares Namenstaggeschenk der Garczyńskis — halb elf wies. Und zögerte doch noch.

Drinnen spielte die Garczyńska Chopin — warum tat sie das, wenn sie so müde war?

Tadellos perlten die Läufe, aber — Xaverius Górka schüttelte den Kopf — so war’s doch nicht gut! Sie spielte denn doch zu willkürlich launenhaft; presto, wo ritardando sein musste, con dolore statt scherzando. Das hatte er schon sehr oft besser spielen hören.

Aber er blieb noch stehen. Garczyński hatte wie gewöhnlich für ihn anspannen lassen wollen, aber er hatte dankend abgelehnt. Er wollte heute gehen, musste gehen, es war ihm ein Bedürfnis, sich müde zu laufen.

Zwischen den geborstenen Steinplatten der Treppe und im hohen Grase der verwilderten Parkwiese schirpten Hunderte von Grillen; unausgesetzt, gleich melodielosem Saitenschwirren, klang ihr Gezirp ohne Tonfülle, ohne Poesie, und doch war etwas Gleiches darin wie im Lied der Nachtigallen.

Der Nachtigallen hatte es viele gegeben im Seminargarten zur Frühlingszeit, und der junge Górka hatte oft gestanden im weichen Dunkel, damals so, wie heute hier. Hörten die andern Seminaristen denn nicht die Nachtigall? Sie hatten es nie gesagt.

In Chwaliborczyce gab’s keine Nachtigall; in den beiden Frühjahren, die der Vikar nun schon hier erlebt, hatte nie eine ihren schluchzenden Aufschrei erhoben. Man hielt ein Katzenrudel, denn aus dem Wallgraben, der den Park umschloss, stiegen Ratten und zernagten die Portieren und Fenstergardinen im grossen Esssaal zu ebener Erde.

Aber jetzt — horch! Durch die zwei Reihen der uralten Hainbuchen, die sich wie ein dichtes Dach über den Wallgang diesseits des Grabens wölbten, fuhr ein halb erschrockener, halb jauchzender Mädchenschrei. Aha, da badeten wieder die Hofmägde im Wallgraben! Und die Knechte kamen ihnen dabei über den Hals.

Wenn die Nächte so schwül sind und der Erntestaub so brennend, dann heben sich die Leiber, die behend Rock und Hemd abgestreift, wie weisse Statuen jenseits vom dunklen Grabenrain; leuchtend glänzen sie herüber zu der einsamen Bank, die ganz verborgen steht unter den tiefhängenden Buchenästen.

Das Baden im Wallgraben war dem Gesinde verboten — ob man es anzeigte? Lieber nicht. Der Inspektor war gleich grob, schlug darauflos mit der Ledergeschwänzten oder zog Strafgeld vom Lohn ab. Und wusch das etwa die Seele rein, die eine Verfehlung auf sich geladen?!

Ein feines Lächeln überhuschte für einen Augenblick des Geistlichen ernstes Gesicht. Langsam streckte er die Hand aus, hielt sie hinaus in die Dunkelheit und zog sie dann langsam und fest, zur Faust geschlossen, wieder an sich. Diese Hand, so dünn, dass die Adern blau durchschimmerten, diese Hand, zart wie eine schöne Frauenhand, diese Hand hielt viel.

Ein Atemzug hob die schmalschultrige Gestalt; sie schien sich höher zu recken. Die trockenen Lippen mit der unruhigen Zungenspitze befeuchtend, lächelte der Vikar überlegen. Und diese Vikarzeit bei dem bäuerischen, stumpfsinnigen alten Propst von Pociecha, war sie nicht nur ein Übergang? Was sollte wohl ein Górka bei den Bauern?! Den Zögling, dem man beim Abschied vom Seminar von ‚besonderen Hoffnungen‘ gesprochen, die man auf ihn setzte, den Erben eines uralten Namens — freilich nur eines Namens — den Verwandten eines Kardinals, liess man hier nicht verkommen. Und war nicht die Freundschaft mit den Garczyńskis schon ein Tritt auf die erste Sprosse der Leiter? Garczyński würde keinen andern simplen Dorfvikar den ‚hochverehrten Lehrer‘ seines Sohnes nennen — da hatten sich schon Einflüsse von oben her geltend gemacht. Es war kein Genuss, den jungen Boleslaw zu unterrichten, der Junge war sündhaft faul — faul wie alle, die einen reichen Vater hinter sich wissen — aber diese Zubereitung des kommenden Geschlechts, das Polens neuen Glanz wieder begründen sollte, war eine Vertrauenssache. Polens neuen Glanz begründen — die?!

Hastig wendete sich der Einsame um: hatte jemand gelacht? Niemand war da, nur die Nacht auf verfallender Treppe und im verwilderten Park. Nein, diese Jungen, die französisch plapperten bei der Bonne, dann am Wissen herumnippten und dann im preussischen Drill ihr Vaterland öfter verleugneten, als Petrus Jesum Christum, den Herrn, die gründeten kein neues Polenreich, wenn nicht diese, diese — die Hand wieder ausstreckend, sie erhebend in der Dunkelheit, atmete der Priester tief auf — diese hier sie stützte!

Vom Dom in der Stadt auf den sieben Hügeln hallen die Glocken weit ins Land. Der Bauer im langschössigen Rock, die Ehefrau im sonntäglichen Spenzer, das Mädchen mit den vielfarbenen Bändern an der Halsperlenschnur — Männer, Weiber, Burschen, Dirnen, Greise, Kinder, Abgeschiedene und noch Ungeborene — alle liegen vor dem Altar im Staub, gehorsam der einen grossen, heiligen, unergründlichen Macht — alle, auch diese da drinnen!

Der Vikar drehte sich um nach den Fenstern des Gartenzimmers; sie waren nicht mehr erleuchtet, das Spiel hatte aufgehört. Da ging er.

Die Grillen im Gras und Gemäuer zirpten immer ungestümer, wie bebend vor Liebesungeduld. Er hörte sie nicht mehr.

Als er über den dunklen Hof stieg, vorsichtig auf den Zehen, und seinen langen Rock raffte, dass die Jauche, die floss, den nicht bespritzte und auch nicht die blanken Schäfte seiner Kniestiefel, hörte er weder das Muhen einer Kuh im dunstigen Stall, das, halb im Schlaf, begehrend durch die nächtliche Stille rief, noch das heisre Schnaufen des Bullen an der ihn fesselnden Kette.

Beim Futterspeicher begegnete ihm der Stróž, der Nachtwächter. Den Spiess vorgestreckt, die trübselige Laterne hochhaltend, dass sie doch wenigstens ein bisschen leuchte, schrie der grob den heimlichen Wandrer an: „Wer geht da? Hundeblut, verfluchter Dieb!“

Aber als der alte Mann den jugendlichen Vikar erkannte, sank er zusammen wie niedergeschmettert. Seine von Nachtwachen und Schnapstrinken rotplierigen Augen verdrehten sich vor Ehrfurcht; demütig küsste er das Kleid des geweihten Herrn. —

An den Hütten der Gutshörigen vorbei führt der Weg nach Pociecha. Wie dunkle Haufen liegen die Häuser niedrig an der Strasse; selten, dass ein plattes Dach sich viel höher erhebt als der aus Feldsteinen unsymmetrisch zusammengetragene Wall, der zu schützen hat gegen Sturm und Schnee, gegen Kälte und Sonne. Vorn an der Strasse ein paar halb abgestorbene Pappeln; hinter den Hütten, als einzig Ragendes, die Stange eines Ziehbrunnens, der mit seinem gen Himmel gerichteten hohen Arm, daran der Eimer hängt, einem Galgen nicht unähnlich sieht.

Alle Häuser waren dunkel; nur aus einer Stube, in der man fremde Schnitter untergebracht hatte, flinzelte Lichtschein. Die Männer hatten sich schon aufs Stroh gestreckt; mit dem roten Hemd, wie sie’s am Tag getragen, angetan, die Fusssohlen gegen das Fenster gekehrt, schnarchten sie alle in einer Reihe. Die Weiber hatten sich noch nicht hingelegt. Sie kauerten bei der Alten um den Kartoffelhaufen, der inmitten des Raumes auf den Estrich geschüttet war, und halfen ihr die Kartoffeln abkeimen zur morgenden Mahlzeit. Eine junge Dirne sass noch und flickte eine Männerhose; ungeschickt hielten die müde gearbeiteten Finger die Nadel. Sie flickte den Riss zusammen, wie man einen Sack flickt, und doch gab ihr das Lämpchen auch hierzu kaum Licht genug. Trüb nur schwelte es durch die Stube, deren Luft dick war vom Dampf der Feuerstelle, vom kellerigen Dunst der keimenden Kartoffeln, vom Schweiss und Staub und Atem der zusammengepferchten Männer und Weiber.

Aber der durchs Fenster lugende Vikar sah’s befriedigt: das Lämpchen brannte unterm Muttergottesbild.

Doch gleich darauf fuhr er vom niedrigen Fenster zurück. Ihm war, als sei durchs trennende Glas der geschlossenen Scheibe doch etwas zu ihm gedrungen von der verpesteten Luft da drinnen. Verletzt rümpfte sich seine Nase. Eilig lief er, bis ihn die reine Luft der freien Felder ganz umfing.

Durch die Einsamkeit tönte der zitternde Schrei eines Brachhuhns. Wie, schon Herbst? Unwillkürlich verlangsamte Górka jetzt wieder seinen Schritt, nahm den runden, glatthaarigen Filzhut ab und liess den Tau, der in der grossen Stille hörbar tropfte, seine Stirn kühlen.

War’s möglich, schrie der Brachvogel schon auf der Stoppel? Der Sommer war vorbei, und er hatte ihn nicht gesehen, trotz Erntefeldern und Sonnenglut?

Ein flüchtiges Bedauern huschte über das ernste Gesicht und machte dessen Züge für Augenblicke jugendlich weich. Der Mund öffnete sich und sog durstig die von Grün und Tau vollsatte Luft ein.

Ach, jetzt sich hinlegen, dort an den Rain unter die Feldblumen, die, wenn der Nachttau ihnen den Staub abgewaschen, so süss duften! Horch! Die Grillen schrillten noch immer herüber aus dem fernen Park.

Sich umwendend blickte Górka noch einmal zurück nach Chwaliborczyce. Das dunkle Herrenhaus hob sich nicht mehr ab von der dunklen Fläche; auch der Park, die Hainbuchen und die Pappeln waren zerflossen in der Nacht. Doch jetzt blinkten zwei gelbe Pünktchen auf, sie schienen heller und heller — das waren die Lichter im oberen Stock, im Zimmer der gnädigen Frau. Auf einem Nebelstrahl zitterte der Glanz, flimmernd umwoben, hinaus bis in die Felder.

Mit grossen Augen starrte der junge Mann — — jetzt sitzt die Garczyńska im Sessel, bereit, sich von der Zofe das lange Haar auskämmen zu lassen. Die runden Arme des dienenden Mädchens bewegen sich zierlich — ah, und jetzt! — die zitternden Strahlen verschwanden — jetzt hat Stasia die Laden vorgelegt, ihr blonder Kopf neigt sich hinaus mit einem leisen ‚Pst‘ für den sie unten erwartenden Inspektor. — — — —

Ganz dunkel ward’s. Wie aus einem Traum auffahrend strich sich Górka über die taubenässte Stirn und setzte sich den Hut auf. Nun aber rasch! Piotr Stachowiak, der Propst, würde heut schon vergeblich auf ihn gewartet und noch ein Glas Ungar mehr getrunken haben zur Tröstung in seiner Vereinsamung.

Wie war es doch geisttötend, alle Abend bis Mitternacht mit dem Alten Karten zu spielen! Aber es half nichts, es war ja nur ein Übergang.

Raschen Schrittes eilte nun der Vikar, unbeirrt vom Spuk der Nachtebene, der den Bauern ängstigt, auf Pociecha zu.

Das blonde Mädchen hatte wirklich die Läden im Schlafzimmer der Herrin vorgelegt, aber diese schien nicht daran zu denken, sich zur Ruhe zu begeben, sehr zum Verdruss von Stasia, die unruhig hin und her trippelte. Heute war Anastasia, ihrer Heiligen Tag, und Pan Szulc, der Inspektor, wollte den mit ihr feiern. Wie lange das heut wieder dauerte! Zornig biss Stasia die Unterlippe — dass der Teufel sie alle miteinander holte, die einem im Wege waren! Aber beim armen Menschen heisst’s eben immer: ‚Duck dich!‘

„Die Nepomucena wartet schon seit einer Stunde“, wagte sie endlich leise zu sagen.

„Lass sie warten!“ Frau Jadwiga, die im Sessel vor ihrem Bett mit den blauen Seidengardinen sass, hob gähnend die Arme und legte sie hinter den Kopf. „Ich langweile mich, erzähle mir was!“

„Gnädige Pani sollten schlafen gehen — ich weiss nichts.“

„Ich kann nicht schlafen. Wo ist der gnädige Herr?“

„Er sitzt im Büro. Er wird noch dem Schreiber diktieren.“

Frau von Garczyńska zuckte unmutig die Schultern: „Ach, immer diese Rechnereien! Ich komme hier um. Wenn wir nur erst in Posen wären, besser noch in Warschau, am besten in Paris! Was würdest du sagen, Stasia, wenn ich dich mit nach Paris nähme? Oder sonstwohin, wenn der Herr verkauft hat.“

„Wird der gnädige Herr verkaufen?“ fragte neugierighastig das Mädchen.

„Das gebe die heilige Mutter!“

Die Augen des jungen Mädchens funkelten: ah, das war doch noch eine Aussicht, dafür liess man sich’s schon eine Weile gefallen! Unterwürfig schlich sich Stasia zur Herrin heran und küsste ihr die Hand: „Ich danke der gnädigen Pani tausendmal! Gott wolle es ihr segnen millionenmal, ihr und an dem gnädigen Herrn, und an dem gnädigen jungen Herrn, dass sie will an mich denken, wenn es ihr gut geht! Wird der gnädige Herr bald verkaufen, wenn Pani die Frage gestatten?“

„Ich weiss nicht. Ach!“ Ungeduldig seufzend sprang Jadwiga auf und ging hastig hin und her. „Sie finden noch immer den geforderten Preis zu hoch. Ja“ — sie lachte laut auf — „das möchten sie wohl selber abschätzen! O nein! Wir gehen nicht ab vom Preis. Wenn ihnen daran liegt, nun, dann sollen sie wenigstens genug zahlen, diese —!“ Sie verschluckte das letzte Wort.

Die Zofe lachte leise. „Gnädige Pani lieben die Schwabby, diese deutschen Dickköpfe, sehr?!“

„Wieso?“ Die Garczyńska sah ihre Zofe einen Augenblick hochfahrend an, dann aber lachte sie, wie diese lachte. „Du bist ein Racker!“ Doch ihr lächelndes Gesicht wurde plötzlich ernsthaft, zornig zog sie die Brauen zusammen. „Habe ich etwa besondere Ursache, sie zu lieben, he? Und du? Kam nicht deine Mutter zu mir und hat die Hände gerungen: ‚Meine Tochter lernt deutsch in der Schule, wird sie auch nicht verlernen ihre Muttersprache?‘ Ach, unsre Männer sind feige, kein Wort deutsch dürften sie leiden! Aber sie lassen sich ducken.“

„Ja, Pani haben keine Angst“, schmeichelte Stasia. „Was wir gelernt haben, verdanken wir allein unsrer gnädigen Herrin!“ Sie küsste, da sie die Hand nicht wieder erhaschen konnte, den weiten Ärmel am Negligé der Dame. „Neulich sprach erst die Michalina zu mir, als sie kam auf einen Sonntag, ihre Familie zu besuchen: ‚Das Glück, was ich gemacht, verdanke ich allein der Pani von Chwaliborczyce.‘ Pani erinnern die Michalina, die mit den schwarzen Zöpfen, die Enkelin vom Schäfer Dudek und der Nepomucena? Sie sass neben mir im Unterricht, den gnädige Pani uns gaben. Es geht ihr sehr gut, freilich bei deutscher Herrschaft, aber“ — sie zuckte die runden Schultern — „was tun? Man muss mit den Wölfen heulen.“

„Man muss mit den Wölfen heulen —.“ Nachdenklich wiederholte die Herrin die Worte der Dienerin. „Du bist klug, Stasia! Es kommt auch nichts heraus bei der offenen Feindschaft. Ich begreife oft unsre Politiker nicht. Aber ist es denn nicht auch schändlich, wie man uns unterdrückt? Uns, die wir mehr Bildung haben, mehr Vaterlandsliebe, mehr Opferfreudigkeit, mehr Mut, mehr — mehr —!“ Die Stimme versagte ihr vor Erregung. Sie war ganz blass geworden, jetzt wurde sie glühend heiss. Mit dem Fuss aufstampfend, schrie sie laut: „Und wir haben sie arglos aufgenommen, gastfreundlich in unser — ja, in unser Land! Zum Dank dafür wollen sie uns nun ausrauben, ganz herausdrängen. Aber das gelingt ihnen nicht!“ Leidenschaftlich ballte sie die Hände. „Wir Frauen werden nicht müde, wir haben unsern Glauben und —“ Hastig vor den grossen Spiegel tretend, sah sie ihr Bild von Kopf bis zu den Füssen und lächelte dann wieder.

„Ich begreife nicht, warum Pani sich so erregen“, sagte die Zofe ruhig.

„Was du verstehst!“ Jadwiga kehrte sich vom Spiegel ab und gähnte laut. „Huh, diese Nachbarn, grässlich! Man verbauert hier. Ich werde krank, langweilig, hässlich! Zum Sterben langweilig, wie die Deutsche mit den strohgelben Flechten.“ Sie lachte hell auf: „Als ob sie einen Stock im Rücken hätte, so steif ist sie. Und unsre Przyborowoer Nachbarn — Gott sei uns gnädig! Er ist ein grosser Bauer, weiter nichts. Haha! Kriecht dabei um einen Orden — wie alle Deutschen. Hast du gesehen, Stasia, wie betrübt er neulich die Augen auf sein leeres Knopfloch niederschlug?“

„Unser gnädiger Herr hatte alle Orden zum Diner angelegt!“ sagte geschmeidig die Zofe.

„Ja, ja, das war ganz nett!“ Jadwiga liess sich lachend in ihren Sessel fallen, aber dann gähnte sie wieder und sah mit einem trostlosen Ausdruck ins Leere. „Das sind aber doch nur Momente! Das Leben ist zu eintönig. Ich kann doch unmöglich, wie die Przyborowoer Frau, in hohen Stiefeln durch den Mist stapfen und höchst eigenhändig die Mägde ohrfeigen.“

„Haha, das tut sie, ja, das tut sie!“ Hell lachend schlug Stasia die Hände zusammen, und dann schwatzte sie: „Gnädige Pani wissen doch? Der Sohn, was Husar ist, der junge Rittmeister, der soll Vater sein zu der Michalina ihrem Kind. War die Michalina doch Stubenmädel in Przyborowo. Und da soll der Alte, der Herr Keszner, sie furchtbar geschimpft und ihr mit dem Stock gedroht haben — aber nur gedroht hat er. Doch die Pani hat sie beim Arm gekriegt und ihr links eine geschlagen und rechts eine. Da ist sie vor Angst gelaufen, so schnell sie konnte, und hat sich nie mehr aufs Dominium getraut. Was sagen gnädige Pani zu der Geschichte?“ Stasia stemmte die Arme in die Seiten und sah ihre Dame erwartungsvoll an; man merkte ihre Freude, ein wenig skandalieren zu können.

„So — nun, und was weiter?“ Jadwiga gähnte anhaltend. „Man kann hier keinem Menschen was übelnehmen, dem nicht und auch dem nicht — bei dieser Langweile! Ach! Doleschal wäre noch der einzige, der passabel sein könnte!“

„Und hat er sich in Pani verliebt?“ fragte vertraulich blinzelnd das Mädchen.

„Du bist unverschämt!“ Die Garczyńska zuckte, wie von einer angenehmen Erinnerung berührt.

Stasia schlug die Augen nieder. „Verzeihen gnädige Pani, ich bin nicht unverschämt. Ich bin nur wissbegierig. Möchte gern wissen, ob der grosse Niemczycer Baron auch so leicht zuschnappt, wie so ein kleiner Schwab. Da braucht’s nur einen Blick — nur ein ganz kleines Blickchen!“ Sie lachte spitzbübisch und hob die demütig gesenkten Augen mit drolligem Ausdruck.

Die Herrin war schon wieder versöhnt.

Eine Neigung, mit der ihr Mann sie oft neckte, zog Frau von Garczyńska zu Stasia. Als Tochter des langjährigen herrschaftlichen Försters hatte diese von vornherein eine andre Stellung eingenommen als ein gewöhnlicher fremder Dienstbote. Schon die zierliche Siebenjährige war aufs Schloss gekommen; sie hatte der Pani Erdbeeren aus dem Chwaliborczycer Wald gebracht und — wenn auch Förster Frelikowski einst ‚Fröhlich‘ geheissen — zu den polnischen Kindern gehört, die den besonderen Unterricht der gnädigen Herrin genossen.

Wenn Garczyński seine Gattin mit ihrer Vorliebe für die Försterstochter neckte und Jadwiga schlechter Stimmung war, pflegte sie von einer Wüste zu sprechen, in der man einen grünen Fleck schon einen Garten nennt. Dann neckte er nicht mehr, im Gegenteil, er pflichtete ihr bei. Sie hatte recht: wie anders war es früher hier gewesen! Unbefangener der Ton, heiterer die Geselligkeit, gradezu glänzend. Man hatte sich amüsiert auf den Bällen in Posen — auf einem dieser Bälle hatte er die schöne Tochter eines reichen Warschauer Bankiers kennengelernt, dessen Reichtum weder noch dessen Katholizismus ererbt war — und auch die Kasinofeste in der Kreisstadt waren sehr angenehm gewesen. Man war eben unter sich. Aber jetzt —?! Auf dem Lande wenigstens, eingekeilt zwischen deutschen Besitzern, war es nicht möglich, exklusiv zu bleiben. Und immer näher rückte einem Plebs auf den Hals. Wer hatte sonst hier kleine Leute gekannt? Leute, die kaum zehn Hektar ihr eigen nannten — oft nicht einmal soviel —, erhoben jetzt den Anspruch, wie Besitzer gegrüsst zu werden. Schmarotzend, wie Milben auf der kranken Rose, hockten die Ansiedler im Land. Unerträgliche Zustände!

Aleksander von Garczyński vergass ganz, dass in seiner Jugendzeit Przyborowo, und vor allem Niemczyce, längst schon in deutschen Händen gewesen waren; aber er hatte das damals nicht so unliebsam empfunden. Woran lag das?

Nun, woran es auch liegen mochte, jedenfalls jetzt so schnell wie möglich verkaufen! Und so hoch wie möglich! Wenn Garczyński an die Ansiedlungskommission dachte, fühlte er sich sehr erleichtert. Überdies waren ihm die letzten Jahre nicht günstig gewesen, und die Polnische Landbank würde nicht in der Lage sein, ihn so mit einem Ruck sicher hinzustellen.

Noch an diesem späten Abend beschäftigten ihn solche Gedanken. Sie beschäftigten ihn so lebhaft, dass er, trotz der Tinte an seinen Fingern und, ohne den Rock zu wechseln, der von der Nähe des Schreibers unliebsamen Duft angezogen hatte, seine Gattin aufsuchte.

Stasia konnte einen kleinen Freudenschrei kaum unterdrücken, als der gnädige Herr so unvermutet eintrat.

„Soll ich jetzt gehen und die Nepomucena wegschicken?“ sagte sie geschwind. „Sie wartet schon zwei Stunden.“

Aber sie kam so leicht nicht fort, wie sie gehofft hatte.

„Lass sie warten“, war die Antwort. „Und du wartest auch!“

„Es ist nur Stasia“, sagte Jadwiga zu ihrem Gatten, als sie seinen unwilligen Blick bemerkte.

„Ich möchte etwas allein mit dir besprechen!“

„Nun, so sprich doch! Wir sind ja allein. Nun? Was willst du?“

Sich auf die Seitenlehne ihres Sessels setzend, nahm er spielend ihre Hand. Und dann sagte er ihr, dass er eben vom Schreiber habe ausrechnen lassen, dass Chwaliborczyce im Verkauf soundso viel bringen müsse, wenn der Verkauf lohnen sollte.

„Du bist eine kluge Frau, Jagusia“, murmelte er zärtlich und küsste ihre Hand. „Und —“, er hielt an und liess seinen Blick über sie hingleiten mit einem leichten lächelnden Nicken, „du bist eine sehr schöne Frau! Was würdest du davon halten, mein Täubchen, wenn wir die Herren von der Kommission zum Diner einlüden? Doleschal möchte ich auch dazu bitten. Er ist mir wichtig. Er ist mit der Regierung liiert; ich habe gehört, dass er erst neulich in Posen war, beim Oberpräsidenten. Ist dir’s recht? Mach’s echt national, mein Seelchen: unsre heimatliche rote Rübensuppe, den Barschtsch, und Entenpotrawka und — ach, du wirst schon wissen! Und viel alten Ungar. Ich sage dir, sie trinken beim Dessert aus deinem Schuh. Sag, was hältst du davon?“

„Sehr viel“, sagte sie lächelnd und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Und dann ziehst du auch mit mir hin, wo mir’s gefällt, nicht wahr, Olek?“

Er strich ihr sacht über die gelöste Frisur:

„Dein schönes Haar!“

„Lass doch!“ Ärgerlich bog sie den Kopf zur Seite; es fing an in ihrem Gesicht zu zucken, als wollte sie weinen. „Verkaufe doch endlich! Was habe ich davon, wenn’s zu spät ist. Sieh, hier“ — sie liess die Strähnen durch die Finger gleiten — „ich werde grau! Schon lange Fäden! Aus Kummer, aus lauter Kummer. Oh, unser armes Polen! Täglich gelobe ich bei der heiligen Mutter: kein Kleid aus Berlin — keinen Hut aus Wien — nicht Wiesbaden, nicht Homburg im künftigen Jahr — nicht einmal in die deutsche Konditorei zu Posen! Ach, hätte ich dich doch nicht geheiratet! Wäre ich in Warschau geblieben! Lieber unter Russen leben als in dieser langweiligen Ödenei!“

Er wollte etwas sagen, aber sie liess ihren Mann gar nicht zu Worte kommen, heftig schrie sie ihn an: „Gedenke deiner Pflichten gegen Boleslaw! Wenn Górka von hier fortkommt, was doch gewiss bald der Fall sein wird, was dann? Dann ist alles aus! Diese Hauslehrer mit den schwarzen Nägeln, die mit allen Mägden herumliebeln — pfui, widerlich! Wir haben das doch vorher, denke ich, zur Genüge durchgemacht. Górka sagt: ‚die Zukunft Polens ist in der Mütter Hand gegeben‘ — nun, wohlan, ich bin eine Mutter! Und ich sage dir, wenn du nicht bald verkaufst, so ziehe ich allein mit Boleslaw in die Stadt. Ich bin es meinem einzigen Sohn und meinem Vaterland schuldig!“

Der Gatte erhob sich leise. Seine Frau auf die Schulter küssend, machte er keine weitern Unterhaltungsversuche mehr. Aber er wusste, nun konnte er getrost die Einladungskarten verschicken.

„Schlafe wohl, mein Herz! Stasia“ — die Zofe fuhr auf — „rufe die Nepomucena!“

Herr von Garczyński ging wieder ins Büro zurück, wo der todmüde Schreiber noch immer sass und jetzt krampfhaft die verschlafenen Augen aufriss. Die Einladungen wurden noch diese Nacht postfertig gemacht. —

Oben ins Zimmer der gnädigen Frau trat derweilen die alte Nepomucena ein; ihr schneeweisses Haar war mit Fett unter der Haube gestrählt, und sie hatte sich gewaschen. Zu den Füssen der Herrin, die regungslos sass, das Gesicht in den Händen verborgen, kauerte sie nieder und begann die Pantöffelchen und Strümpfe abzuziehen. Sacht strich sie dabei über den hohen Spann und dann über die Waden, immer hinauf, herunter — und wieder: herunter, hinauf.

Seit fünfzehn Jahren, seit der Geburt des jungen Panitsch, schonte die Nepomucena ihre Nägel und nahm sie in acht, dass sie nicht immer wieder abstumpften bei der Arbeit; die Pani liebte das Kratzen mit stumpfen Nägeln nicht.

Garczyński hatte seiner Frau schon mehrmals einen hölzernen Kratzer mit langem Stiel aus Posen mitgebracht, auch ein Händchen aus Elfenbein mit spitzen Krällchen, auch ein Bürstensystem; aber das Streichen und Kratzen der alten Hand, deren Haut von der schweren Arbeit des Lebens so rauh geworden wie ein Reibeisen, war nicht zu ersetzen.

Nun schnitt die Filomena, die Tochter der Nepomucena und die Mutter der Michalina, schon ihre Nägel spitz, denn Grossmutter Nepomucena fürchtete, dass bald der Tod kommen würde, sie zu holen — und wer sollte dann die Herrin kratzen?

Auf den schwachen Knien liegend, bückte die alte Nepomucena ihren alten Rücken geduldig. Wie früher hinterm raschen Schnitter im Korn, so hielt sie ihn in einem fort gebeugt; sie richtete ihn gar nicht auf.

Die Uhr schlug Mitternacht, da liess sich die Herrin ins Bett helfen. Das Gesicht nach der Wand gekehrt, auf der Seite liegend, liess sie sich nun auch den Rücken kratzen. Immer auf, ab — ab, auf.

Stasia schlief in einem Winkel. Der hübsche Kopf war ihr hintenüber gesunken — so pflegte sie immer am Abend zu sitzen, ein Fettfleck an der rissigen Tapete bezeichnete die Stelle — sie hielt den Mund halb geöffnet und lächelte wie ein Kind im Traum.

Auch Frau Jadwiga fielen endlich die Augen zu, aber sie riss sie immer noch einmal auf und dehnte und reckte sich im überrieselnden Wohlgefühl.

Die alte Nepomucena kratzte und kratzte — die Waden, den schlanken Rücken herauf — den Rücken, die Waden herunter — auf, ab — ab, auf — hin, her — her, hin.

Mit seltener Kraft strömte etwas aus von diesen verarbeiteten Fingern, von dieser Hand, die noch diente an der Schwelle des Grabes.

Das schlafende Heer

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