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I.

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Die Längnicks, die Badekows und die Schellnacks waren die reichsten in Tempelhof. Die Lietzows hatten aber auch Geld, besonders Gottfried stand sich gut, nicht bloß weil er seine Cousine, Lene Badekow, zur Frau hatte, sondern auch, weil er es verstand, die Handelsgärtnerei, die Spargelkultur, den Obstbau, die Hühnerzucht, die Milchwirtschaft und noch manches andre so schwunghaft weiter zu betreiben, wie es sein Vater, der alte Lietzow, angefangen hatte.

„Mistfink“ sagte zwar sein Bruder Karl, der Kaufmann, von ihm; und Karls Frau, die hübsche Ida, zuckte die vollen Schultern, wenn von Gottfried die Rede war. Sie rümpfte die Nase: Kleinigkeitskrämer! Wie konnte man sich nur um ein paar Groschen so abrackern?! Aber im Grunde ärgerte sie sich, daß ihre Schwägerin Lene immer vergnügt aussah. Und Karl ärgerte sich auch, wenn er vor seiner Ladentür stand, die sehr bescheidene Auslage im Fenster musterte – ein bißchen Reis, ein bißchen Mehl, ein bißchen Kaffee, ein ewiger Zuckerhut, dessen blaues Papier schwärzlichen Fliegenschmutz zeigte – und wenn er dann sah, wie drüben, jenseits der Lindenreihe, vor dem langgestreckten Haus des Bruders die Karren hielten, welche Kartoffeln, Obst, Gemüse nach Berlin fuhren, und wie die Händler kamen und gingen und wie dem Gottfried, der in hohen Transtiefeln, die Hände in den Hosentaschen, draußen herumstand und dem Aufladen zusah, das Geld nur so zuströmte. Wenn Karl auch die Schankgerechtigkeit neben seinem Ladengeschäft hatte und in der Hinterstube immer Ackerknechte und Fuhrleute, besonders die Hauderera) saßen, die aus Britz und Mariendorf nach Berlin wollten, Leute, die ganz ordentlich was durch die Gurgel jagten, es kam doch nichts Rechtes dabei heraus. Und die feinste Kundschaft war es auch nicht. Die Ansässigen gingen alle zu Kiekebusch. Als ob es da etwas Besseres zu trinken gäbe! Aber die Tempelhofer waren nun einmal so: wie die Ochsen, immer an die altgewohnte Krippe.

Die Gastwirtschaft von Kiekebusch war der frühere Erbpachtkrug, in dem schon vor hundert und hundert Jahren die Tempelhofer sich betrunken hatten; in dem schon die alten Sünder, die Ordensritter, es nicht verschmäht hatten, einen Trunk zu nehmen, wenn sie von ihrer Burg durch den unterirdischen Gang, der im tiefen Keller des Krugs einen Ausweg hatte, zu ihren heimlichen Liebchen im Dorfe schlichen.

Karl Lietzow hatte als junger Mensch eine Berlinerin zur Frau gehabt. Als diese im Wochenbett gestorben war, hatte er sich wieder in ein Mädchen aus der Stadt verliebt; er war nun einmal an das Städtische gewöhnt. Geld hatte die hübsche Ida keines gehabt, aber sie hatte schöne braune Augen, und die waren im Laden und besonders im Ausschank ebenso viel wert wie Geld. Sie selber empfand es nicht drückend, daß sie keinen Pfennig hatte, nicht einmal eine Aussteuer; da war ja noch genug von der vermögenden ersten Frau da. Deren Röcke und Hemden paßten ihr, in die Betten legte sie sich; sie nahm alles an sich. Sie, die an nichts gewöhnt war, fand Karl Lietzow sehr reich. Es konnte ja gar nicht alle werden, und es wäre geradezu lächerlich, wenn man jeden Groschen zweimal umdrehen wollte.

Ida ärgerte sich, als sie am Morgen des Truppeneinzuges die Lietzows den Breakb) besteigen sah. Karl und sie wollten auch hin und den Einzug sehen, es war ein weiter Weg, das Feld war staubig, die Sonne heiß; war es nicht unerhört, daß Gottfried sie nicht aufgefordert hatte, mitzufahren? Bei solchen Gelegenheiten erinnerte man sich doch der Verwandtschaft.

„Na, er muß doch die Badekows fahren, und denn is die Fuhre ja schon mehr als voll“, versuchte Karl den Bruder zu entschuldigen.

Da sah sie ihn so kalt an mit ihren braunen Augen, so fast verächtlich, daß er nicht Lust hatte, noch ein Wort zu reden. Sie sagte auch nichts mehr. Sie sagte überhaupt nie etwas, wenn sie recht böse war. Wenn die Wut in ihr kochte, und die kochte leicht, dann kniff sie nur den Mund zusammen, daß die vollen Lippen ganz schmal wurden und über den Glanz ihrer Augen, über das ganze rosige Gesicht sich ein bleicher Schleier legte. –

Es war spät, als Karl Lietzows zum Einzug gingen.

Tempelhof war wie ausgestorben; alle waren längst fort, nur Hühner scharrten im tiefen, grauen Sand vor den Häusern, und in der Mitte der breiten Dorfstraße, wo die alten Linden stehen, watschelten Enten und schnatterten Gänse über den abgerupften berasten Grund. Die Linden blühten schon. In der warmen Sonne hatten sich alle die goldenen Büschel geöffnet, Bienen umschwärmten sie mit einem Gesumm, das laut wirkte in der großen Stille.

Hinter Zäunen lagen die niedrigen Häuser recht gemütlich mit ihren schmalen Eingängen, die noch schmaler erschienen gegen das breite Hoftor nebenan, durch das morgens die Milchkarren rasselten, im Herbst die Erntewagen ratterten; das ganze Getriebe der Ackerwirtschaft aus- und einrollte. Um die weit übergebauten Türen der Wohnhäuser rankten blühende Jelängerjelieber und halbwilde Rosen, und grüne Bänke standen darunter. Der Flur war freilich dadurch so verdunkelt, daß man, wenn man für gewöhnlich dort saß, eigentlich nur durch den Geruch wahrnehmen konnte, was man auf dem Teller hatte. Aber es saß sich an Sommerabenden angenehm unter den überbauten Eingängen, wenn der Staub sich verzogen hatte, den die in die Ställe heimkehrenden Schafe zu Wolken aufwirbelten, wenn die Blumen auf dem schmalen Gartenstrich zwischen Haus und Straße ihre betauten Köpfe senkten und die Grillen in den alten Mauern zirpten. Und zur Zeit der Lindenblüte ging dann ein Duften aus von den Dorflinden, fremdartig-süß und doch wieder heimatlich-vertraut, ein Duft, sanft und kraftvoll zugleich, der sich mischte mit dem erdigen Geruch der Gemüsegärten, der nährenden Felder und mit dem starken Dampf des warmen Mistes, der aus dem Viereck der Höfe, aus den großen Ställen und Scheunen hinter den kleinen Wohnhäusern aufstieg.

Pfui, wie das stank! Ida Lietzow hatte sich noch immer nicht an das „Tempelhofer Parfüm“, wie sie es nannte, gewöhnen können. Pfui, und der Staub! Man watete wie durch graues Mehl. Verdrossen schleifte im Sonnenbrand Ida ihr langes Kleid neben ihrem Mann her.

Unabsehbar dehnte sich das Feld. Sie gingen jetzt auf der Chaussee mitten hindurch, aber rechts und links war kein Ende zu entdecken. Heute liefen zwar Menschen genug hier herum, aus weiter Ferne gesehen wie Ameisen. Aber die Öde blieb doch, wenn da auch Menschen waren, unzählige vielleicht, aber sie verhallten ohne Laut in der unermeßlichen Weite.

Ida hatte sich das Tempelhofer Feld ganz anders vorgestellt, als sie es nur vom Hörensagen kannte: Paraden, Musik, Wettrennen, schöne Offiziere, schneidige Reiter, mutige Pferde. Aber dünnes, zertrampeltes, mottenfräßiges Gras, hier und da ein Pfuhl in umbuschter Kuhle, das war das Tempelhofer Feld. Sie schüttelte sich. Wenn wenigstens ein paar Häuser hier ständen, daß man doch ohne Furcht gehen könnte! So war man ganz abgeschnitten von Berlin. Alle Stunden zwar sollte der Omnibus fahren von ‚Unter den Linden’ bis Tempelhof, aber nur im Sommer fuhr er stündlich. Mit scheuen Blicken sah die Frau sich um: huh, hier möchte sie um keinen Preis gehen, wenn es dämmerte! –

Sie waren zu spät aufgebrochen, Ida hatte gerade im letzten Augenblick noch etwas zu besorgen gehabt, was sie vergessen hatte schon seit acht Tagen. Die Truppen marschierten bereits vom abgesteckten Gelände hinein in die Stadt. Es war nicht durchzukommen; sie mußten warten. Ida gähnte abgespannt. Mit einem Seufzer setzte sie sich an den Chausseerand, ließ die Füße in den Graben hängen und lehnte Rücken und Kopf an eine Pappel. Die Sonne blendete, man erstickte fast von dem Staub, den Füße und Hufe aufgewirbelt hatten zu einer dunstigen Wolke. Die junge Frau drückte die Augen zu. Hinter ihren geschlossenen Lidern blitzten allerlei Gedanken auf, Wünsche und Träume jagten sich. Sie hörte die Militärmusik, das Brausen der großen Menge, der Welt und der Stadt, und sie riß plötzlich die Augen weit auf – ach, was lag da nicht alles jenseits des verwünschten Feldes! –

Der letzte Soldat mußte erst abmarschieren, bis sie den Truppen im Rücken nachdrängen konnten. Ida hatte für ein Mittagessen daheim nicht gesorgt: ach was, man konnte ja auch in der Stadt essen! Ins Geschäft würde heute sowieso keiner kommen, weder in den Laden noch in den Ausschank; Magd und Hausbursche hatten Urlaub bekommen, und wenn etwa jemand käme, dann war ja Hulda zu Haus, und die wußte überall Bescheid.

Das Ehepaar hatte Durst. Karl schlug vor, irgendwo einzukehren, und dieser Gedanke söhnte Ida aus; sie hing sich ihrem Mann an den Arm.

Und nun drängten sie weiter, an Ehrenpforten und Trophäen vorüber, vorbei an girlandenbehängten Häusern, schwammen immer weiter mit dem flutenden Strom. Karl wußte manche gemütliche Kneipe, aber heute kehrte man nicht im „Dusteren Keller“ ein, nicht einmal bei Deibel. Heute suchte man sich drinnen in der Stadt etwas extra Feines aus, darin waren die beiden sich ganz einig.

Karl schob den Hut zurück und knöpfte die Weste auf; sein Schlips – gute Seide, aber befleckt – löste sich und hing lang herab. Er merkte es nicht. Sie merkte auch nicht, daß man ihr auf den Rock trat; an der Seite hing schon ein Stück Unterfutter vor, und hinten schleppte die Schnur nach. Die schönen Augen der jungen Frau glänzten.

Gottfried Lietzow fuhr an dem Paar vorüber, als er nach Hause kutschierte. „Ida, sieh da“, sagte er und stieß einen leisen Pfiff aus.

„Haste jesehen, Lene? Karls!“

Lene hatte, wenn sie nicht sehen wollte, niemals Augen. „Ich hab’ se nich sehen können!“

„Nich sehen wollen!“ Gottfried lachte, aber das Lachen kam ihm nicht recht von Herzen. „Man müßte sich eigentlich um Karlen mehr kümmern“, sagte er nachdenklich, „ich bin doch älter. Un jesund ist er ooch nich!“

„Na, so kümmere dich doch!“

„Nee, ich alleine nich. Du mußt dich ooch mit kümmern!“

„Ich?!“ Lene brauste auf. Das sollte ihr gerade einfallen, auf diese Person Rücksicht zu nehmen! Was war die denn, wo war die denn her? Und die wollte es ja auch gar nicht, daß man sich um sie kümmerte. Hatte man’s je erlebt, daß sie gekommen wäre, sich Rats zu erholen? Und wie sie die Wirtschaft verschlampte! Und die Kleine, die Hulda, sich selber überließ! Immer sah man das Kind ganz allein mit den Teckeln. Eine Schande, sich so wenig um die Stieftochter zu kümmern!

„Na, denn kümmre du dich doch en bißken um sie!“ In Gottfrieds Stimme lag eine Bitte. „Leneken! Weißte, ich denke, mit der – der –“ – er nannte den Namen nicht, aber seine Frau wußte ganz genau, wen er meinte – „mit der könnte es mal verdammt schief jehn. Und mit Karlen – ?“ Er zuckte die Achseln, und dann sah er seine Frau an.

Wenn ihr Gottfried den Ton hatte, konnte Lene zu nichts „Nein“ sagen. Nun ja, wenn er es denn gern wollte, konnte sie wohl mal zu Karls hingehen. Man konnte sie ja auch mal einladen; zu Gottfrieds Geburtstag vielleicht, es war noch lange bis dahin. Und dann – die Kleine konnte ja mal herüberkommen zu den Erdbeerbeeten!

Gottfried nickte beifällig. Sein umwölkter Blick erheiterte sich.

Gottfried Lietzow war nicht hübsch, wohl groß, aber vierschrötig, mit wulstigem Genick; und verschimpfiert war er auch, als Kind war er in die Futterschneidemaschine geraten, die hatte ihm an der rechten Hand den kleinen und den vierten Finger glatt abrasiert, darum hatte er auch nicht zu den Soldaten gebraucht. Er trug den Trauring am Mittelfinger. Aber Augen hatte er von so reinem Blau, daß Lene, als er sie jetzt freundlich ansah, in den lachenden Himmel zu blicken glaubte.

Und nun überbot sie sich selber: von den Kirschen konnte die Kleine sich auch holen kommen. Und später von den Aprikosen. Die Lietzows drüben hatten ja nicht einmal einen Garten, nur einen Gang hinterm Haus mit Büschen bepflanzt, an dem entlang die Kegelbahn lief; und in der Ecke die winzige Laube. Mochte die Hulda nur immer herüberkommen!

Gottfried nickte ihr zu; sie nickte ihm wieder zu.

Friede war in der Luft, sie fühlten ihn alle.

Selbst die Polizei mahnte heute friedlich und sanft: „Zurück!“ Mit ausgebreiteten Armen wiesen die Schutzleute die andrängende Welle vorwitziger Zuschauer ganz sacht hinter die Schranken, es gab heute keinen Krakeel. Sanftmütig verzieh man dem Hintermann, der einen stieß, und zu dem, der einem auf die Füße trat, sagte man: „Bitte!“ Friede, Friede! Heute war ein Tag, allen Groll beiseite zu lassen.

Und doch bäumte sich in Gottfrieds Herzen etwas von Groll, als sie nun heimwärts fuhren, immer der schnurgeraden Chaussee nach, und immer der Wagen der Längnick eine Pferdelänge voraus war. Gottfried Lietzow hieb kräftig auf seinen Gaul, daß er wacker ausgriff – die alte Schindmähre da vorne würde man doch noch überholen können! – aber kein Zungenschnalzen half und kein Peitschenschlag. Die Längnick blieb vorne.

*

Das Stammhaus der Badekows und das der Längnicks lagen sich schräg gegenüber, ungefähr so, wie am anderen Ende der Dorfstraße die Brüder Lietzow einander gegenüber wohnten. Separieren konnte man sich in Tempelhof nicht. Da war nur die eine lange und breite Hauptstraße, die von der Rixdorfer Richtung her bei den Badekows anfing und bei Gottfried Lietzows Kohlgärten endigte, in den Feldern auf Alt-Schöneberg zu. Was noch so darum herum wohnte, das war schon nichts Rechtes mehr: Zugezogene, kleine Beamte, Leute, die auf Tagelohn gingen. Alle die eingesessenen alten Geschlechter, die Schellnacks, die Kiekebuschs, die Lüdeckes, Hahnemann vom Hahnenhof, wohnten die Linden entlang.

Das eigentliche Tempelhof, von dem das Dorf seinen Namen hatte, der Grund und Boden, auf dem zuerst der Orden der Templer gesessen hatte und dann die Johanniter, dann Freiherren und Grafen und fürstliche Herren – der ehemalige Templerhof – gehörte jetzt einem Bankier. Aber es hieß, auch er wollte das Gut schon wieder verkaufen. Die tiefen Keller des Ordens, in denen die Herren ihre Weine gepflegt hatten, waren jetzt zugeschüttet; die sonnigen Gärten, in denen sie Obst gezogen und ihr Gemüse gebaut, waren verwildert, riesige Bäume, wie wilde Waldbäume, hoben darin ihre Kronen. Von den festen Mauern des ehemaligen Burghauses war jetzt nichts mehr zu finden. Der unterirdische Gang, in den waghalsige Dorfjungen vergebens einzudringen versuchten, war verfallen. Durch zu viele Hände war der Besitz der Templer geglitten. Nichts von dem, was sie angelegt hatten, war geblieben, als der Graben, der, tief und dunkel, wie einst noch den alten Templerhof umgab; und hinter Gottfried Lietzows Gemüsegärten das Kirchlein, das die geistlichen Ritter einst gebaut hatten am Klarensee, sich zur Ehre, ihren dörflichen Zehntpflichtigen zu Nutz und Frommen. Aber der Klarensee war zum sumpfigen Dorfpfuhl geworden. –

Im Stammhaus der Längnicks saß Rieke Längnick. Sie war ganz allein. Nun war der Einzug schon Stunden vorüber, aber weder Knecht noch Magd waren zu Hause; der Kutscher hatte sich kaum die Zeit genommen, das Pferd auszuspannen, dann war er wieder auf und davon, wiederum zurück nach Berlin. Die Herrin hatte selber das Pferd füttern müssen, aber das war ihr nicht ungewohnte Arbeit. Bei solchen Gelegenheiten mußte man eben den Leuten Freiheit lassen, sonst bekam man keine mehr; alle wollten sie jetzt in die Stadt und wollten höheren Lohn. Aber den gab sie nun einmal nicht – nein, keinen Taler mehr! Ein hartnäckiger Zug verhärtete noch das Gesicht der Frau: dann lieber alles alleine schaffen!

Im Stuhl am Fenster sitzend, betrachtete die alternde Bäuerin ihre knochigen Hände: die hatten schon viel gearbeitet! Und dann lugte sie hinüber zu den Badekows: heute nachmittag, ungefähr zu gleicher Zeit mit ihr, waren die erst heimgekommen, aber nun waren Johann und seine Frau und Auguste und die blödsinnige Mieke schon wieder fortgefahren mit dem Gottfried Lietzow. Hanne Badekow war schön dumm, daß sie nun zu Hause die beiden kleinen Bengels hütete und auf die Tür paßte, während die anderen sich bei der Illumination amüsierten! Ob auch die Marianne heute abend mit nach Berlin war? Schade, daß man von hier aus nicht sehen konnte, wenn die reiche Witwe, mit ihrem Fuhrwerk von Britz kommend, Tempelhof passierte!

Rieke Längnick hatte ein Spiegelchen am Fenster, einen sogenannten Spion, ihr entging so leicht nichts.

In der Dämmerung, die hier innen dunkler war als draußen, weil die Fenster so klein waren und die niedrige Decke die Stube drückte, saß die Längnick einsam und spann Zukunftspläne. Ihr Paul war nun zurückgekommen, dreiundzwanzig war er – freilich noch jung –, und die Marianne war an die Dreißig! Rieke rechnete an den Fingern: der Johann war sechsunddreißig, Jakob fünfunddreißig – dann war da noch ein Junge gewesen, der war aber ganz klein gestorben, der wäre jetzt vierunddreißig – danach müßte die Marianne ja schon dreiunddreißig sein. Hm! Die Rechnerin wiegte den Kopf. Aber was schadete das denn?! Gerade das Richtige für den Paul: eine gesetzte, verständige Frau. Von ihrem Mann, dem alten Britzer Badekow, mußte sie ein schweres Stück Geld geerbt haben, eine halbe Million Taler. Was hatte der Christian Badekow für Äcker und Wiesen gehabt! An die Anhalter Eisenbahn hatte er auch gut verkauft. Unsinn, eine halbe Million? Mindestens eine ganze, wenn nicht mehr! Und der Marianne eigenes Erbteil kam doch später auch noch dazu. Das war eine Frau, bei der die Dreiunddreißig nichts ausmachten!

Entschlossen erhob sich die Längnick. Hanne war allein zu Haus, sie würde einmal zu ihr hinübergehen. –

Das Haus der Badekows war durch den Flur in zwei Hälften geteilt. Die beiden Stuben links vom Eingang hatte sich die Mutter reserviert, und darüber die große Mansarde für Auguste und Mieke. Die ganze größere rechte Seite aber, und was sonst noch an Kammern und Winkeln im Hause war, gehörte Johann. So hatte Hanne Badekow es selber bestimmt, als der Sohn heiratete; er war der Älteste, ihm fiel ja doch einmal der Hof zu. Nur eine kleine Kammer nach hinten heraus hatte sie noch beansprucht, die hatte sie sich als Küche herrichten lassen. So recht ihr die Schwiegertochter auch war, jung und alt taugte nicht zusammen; ihr eigenes bißchen Essen, das kochte sie sich lieber allein.

Die Badekow sah die Längnick nicht über die Straße kommen. Ihre Gedanken waren weitab geglitten von dem, was um sie war. Draußen im Flur tobten die Zwillinge, sie kicherten hinter der Tür: Großmutter hörte nicht. Der Längnicks Paule war zurückgekommen – die Einsame seufzte auf – sie wollte doch Rieke bitten, daß sie ihn ihr gleich herüberschickte.

Es klopfte kurz und stark. Die alte Frau fuhr zusammen, hastig stand sie vom Stuhl auf: wer klopfte da?!

„Rieke, du – ?!“ Es war wie eine Enttäuschung.

„’n Abend, Hanne“, sagte Rieke. Es klang so freundlich, wie es überhaupt von ihr klingen konnte. „Biste janz alleene?“

„Hm.“

„Na, da können wir ja ’n bißken zusammensitzen.“ Die Längnick zog einen Stuhl herbei und setzte sich der anderen dicht gegenüber. „Deine Kinder haben woll nach Berlin jemacht Wollste nich mit?“

„Wat soll ick da?! Ick bin zu alt davor, und –“ zu traurig, wollte die Badekow sagen, aber sie verschluckte das. „Eener muß doch zu Hause bleiben!“

„Na ja, natürlich!“ Aber dann wußte Rieke nicht gleich etwas Weiteres zu sagen, die andere schien so wenig aufgelegt zum Schwatzen, daß es schwer war, auf das Bewußte zu kommen. Eine Pause entstand. Aber dann faßte Rieke einen Entschluß: wozu das lange Gefackel? „Sag mal, wird deine Marianne denn nich bald wieder heiraten?“

„Heiraten? Kann sind – später. Aber jetzt doch noch nicht!“

„Nanu, warum denn nich? Se is doch ooch in die Jahre. Wenn eene dreiunddreißig is!“

„Vierunddreißig“, sagte die Mutter.

Was, vierunddreißig war die Marianne schon?! Die Längnick war nicht angenehm überrascht. Volle elf Jahre älter als der Paul – ein bißchen viel! Wie konnte sie sich nur so verrechnet haben?

„Se hat ja ooch jar nich nötig, zu heiraten“, sagte die Badekow. „Se steht sich ooch so janz jut.“

Die Längnick spitzte die Ohren. „Se hat woll ville jeerbt von ihrem Ollen?“

„Hm, ja!“ Hanne nickte. Ein wenig Stolz zeigte sich auf ihrem Gesicht, aber auch ein wenig Betrübnis. „Einmal hat die Marianne nur so jeheirat’t – un da war se dazu noch janz jung. Nu soll se nich noch eenmal so heiraten!“

Nein, um Gottes willen nicht, das durfte nicht sein! Eine Frau, die sich so aufgeopfert hatte, mit ihren jungen Jahren immer in der Krankenstube gesessen hatte, nein, die mußte nun auch noch etwas vom Leben haben! Die Längnick war erfreut: das machte sich ja ganz großartig, wie von selber! „’nen Jungen muß se sich nehmen – ’nen hübschen jungen Mann. Det kennt se ja noch jar nich, wie det is. ’nen Mann, mit dem se sich ooch mal amesieren kann. ’nen Mann, der flink uf de Beene is, noch alle Haare hat un seine Zähne, ’nen Mann, mit dem se noch Kinder kriegt!“

Ja, das war richtig! Hanne nickte. Kinder wünschte sich die Marianne sehr. „Was soll ich mit all dem vielen Geld, Mutter“, hatte sie einmal in einer schwachen Stunde weinend gesagt, „ich habe ja kein Kind!“ Und das verstand Hanne Badekow. Was sollte einem alles Geld, wenn man kein Kind hatte, es ihm zu vererben?! Rieke hatte recht, Marianne mußte sich wieder verheiraten. Aber was ging das eigentlich die Rieke an?!

Ein Blick, in dem ein leises Mißtrauen aufwachte, streifte den ungewohnten Besuch. Und dann sagte Hanne: „Det kann ja sind, det die Marianne wieder heiraten tut. Mir jeht det nischt an. Se is ja alt jenug.“

Das war ablehnend. Aber die Längnick ließ sich nicht so leicht abweisen. „Mein Paule is ja nu wieder da“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ick wer’ ihn denn mal rüber schicken!“

„Ach ja!“ Hanne Badekow dachte jetzt nicht mehr an Mißtrauen: der Paul würde kommen, ihr vom Wilhelm erzählen! Endlich, endlich würde sie erfahren, wie ihr Sohn gestorben war! Zitternd ging ihr der Atem, sie sah die andere an voll sehnsüchtiger Erwartung: „Schick ihn mir man jleich, Rieke, ja?“ Sie faltete die Hände im Schoß, wie sie immer tat, wenn es eine große Erregung zu bemeistern galt. „Junge Leute sind manchmal so komisch dadrin, ’ne alte Frau mögen se nich besuchen!“

Rieke nickte. „Da wer’ ick schon vor sorgen. Und soll er denn nich ooch mal in Britz vorjehen? Er hat Mariannen ja noch jar nich konduliert zum Tode von ihrem Ollen!“

Es war dunkel in der Stube, so dunkel, daß keine der anderen Gesicht mehr erkennen konnte, aber sie brauchten sich auch gar nicht zu sehen. Ein ganz leises Lächeln huschte über der Badekow betrübtes Gesicht. „Was meine Tochter, die Marianne is, die hat ihm ja oftmal die Nase jeputzt, als er noch ’n kleener Pamper war mit ’ne Schnudelneese. Laß ’n man hinjehn!“ Jetzt lachte sie auf, wie überkommen von etwas Komischem.

Rieke rückte mit ihrem Stuhl: was sollte das heißen? Wollte Hanne sich lustig machen über ihren Paul? Aber sie hielt an sich. „Ja, die beiden kennen sich schonst lange jenug“, sagte sie und lachte auch dabei. „Er war ’ne niedliche kleene Bohne mit seinem blonden Krauskopf und den strammen Beenen. Is ooch en strammer Mensch jeworden!“ Sie lauerte: was würde Hanne nun sagen?

„Det kann woll sind“, sagte die.

Rieke Längnick erhob sich. Daß Hanne sie verstanden hatte, wußte sie ganz genau – aber gut Ding will Weile haben. Jedenfalls war der Anfang gemacht! Sie reckte sich in ihrer ganzen knochigen Größe und blickte auf die kleine Rundliche herab, die im Stuhle saß. Das wäre doch das erste Mal, daß Rieke Längnick das nicht durchgesetzt hätte, was sie wollte.

„’n Abend, Hanne! Ick wer’ nu jehen, ’n bißken Abendbrot hinsetzen vor meinen Paule. Ick denke, er kommt vor Nacht zu Hause. Ick schicke ihn dir!“

Mit einem Lächeln, das auf ihrem Gesicht wie Triumph aussah, verließ die Längnick die Badekow. Jetzt konnte sie es plötzlich kaum mehr erwarten, daß ihr Paul von Berlin heimkam. Morgen schon mußte er hier herüber. Und daß er nett war gegen die alte Frau! Er war manchmal ein bißchen schwer von Begriffen. Aber sie würde ihm schon eintrichtern, was er zu sagen hatte. Wie männlich und breitschultrig er jetzt auch geworden war, er würde doch immer der sein und bleiben, der er gewesen war: der Junge, der zu parieren hatte!

Festen Schrittes ging die Längnick über die Straße. Ihre Tür schlug sie so kräftig hinter sich zu, daß es wie ein Knall durchs öde Haus hallte. –

Noch war niemand zurückgekehrt. Die meisten Tempelhofer waren nach Berlin zur Illumination, nur vereinzelt zeigte sich hier und dort ein flinzelndes Lichtchen in den niederen Häusern. Heute feierten die Tempelhofer so gut wie die Berliner. Das große neue elektrische Licht leuchtete herüber vom Halleschen Tor in verschiedenen Farben, wie von Blitzen war das dunkle Tempelhofer Feld heute zuckend erhellt. Von den Tempelhofer Bergen sah man an Stelle der Stadt nur ein einziges Meer von Licht. Das war eine Illumination! Die Sterne des Himmels erloschen vor ihrem Glanz, kein einziges der Gestirne der Nacht war zu sehen. Der Himmel trat zurück gegen die leuchtende Erde, wie beschämt zeigte er nur ein widerscheinendes Rot; die Tiefe gab ihm ab von ihrer Fülle des Lichtes.

Wie trunken wogte die Menge auf und ab durch die Straßen der Stadt. Hier staute sie sich, dort staute sie sich; man reckte den Hals, man stellte sich auf Zehen.

Das war doch das Allerschönste, das Brandenburger Tor! Eine aufgehende Sonne strahlte hinterm Kopf der Viktoria; Fackeln brannten längs des ganzen Gesimses.

Nein, nein, das Zeughaus war viel schöner! Da stiegen alle zehn Minuten Riesenballons auf mit Feuerwerkskörpern gefüllt – knall – Raketen, Leuchtkugeln, Schwärmer, Zischen, Knattern, Sprühen, Flammen nach allen Seiten.

Ach was, kam das Zeughaus wohl gegen den alten Fritz an?! Der stand in lauter blühenden Blumen, und rund herum glühten lauter Eiserne Kreuze und Kaiserkronen im flammenden Rot.

Und die Viktoria am Potsdamer Platz mit all den Kanonen! Und im Lustgarten die Germania mit Elsaß und Lothringen! Und die Schloßkuppel mit immerwährendem bengalischen Feuer! Und Gerson und Herzog und die reichen Bankiers!

So etwas wie heute war noch nie dagewesen. Die Bewunderung kannte keine Grenzen; man kannte überhaupt sich selber nicht mehr. Zivilisten und Soldaten gingen Arm in Arm, die Friseure mit den Zeugschmieden, die Vergolder mit den Seifensiedern, die Lackierer mit den Strumpfwirkern, die Bandmacher mit den Weißgerbern, die Steinmetzen mit den Buchbindern; Maurer, Schlosser, Klempner, Schneider, Maschinenbauer, Bäcker, Schuster, Metzger, Zimmerer, alle Innungen, alle Gewerke waren heute friedlich gesellt. Alle Bierhäuser saßen voll, die Weinstuben nicht minder. Der Abend war heiß, heiß von Sommerluft und brennenden Fackeln, von all den Fluten des Lichts. Am heißesten aber von einer Begeisterung, bei der man zuletzt nicht mehr wußte, warum man eigentlich so begeistert war. Es wurde viel getrunken. Man ließ den Kaiser leben, den Kronprinzen, Bismarck und Moltke, die Generäle, das ganze siegreiche Heer; man ließ sie alle, alle leben, sich selber daneben. –

Unter den Zelten im Tiergarten saßen Karl Lietzow und Frau. Karl sah blaß und abgespannt aus; es war eine Anstrengung gewesen, heute den ganzen Tag umherzuziehen in der Stadt bei dem Gedränge. Ida vertrug so etwas besser; ihre Wangen waren rot, ihre Augen blitzten. Jetzt wurde sie noch röter. Sie preßte die volle Brust heraus, zupfte an ihrer Kasacke und guckte dann schnell nach dem Nebentisch hin, wo ein Herr saß, der sie unverwandt anstarrte.

Es war Julius Paschke. Er war nicht wenig erstaunt über sein Glück: Donnerwetter, saßen da nicht die Lietzows aus Tempelhof? Das waren ja Verwandte von den Badekows! Nicht umsonst hatte er sich in Tempelhof umgetan, als Stadtreisender verstand er es, sich einzuführen, er war ganz genau orientiert. Die Häuser unter den Linden der Hauptstraße kannte er genau; die hübsche Frau Ida Lietzow war ihm gezeigt worden, als sie vor ihrer Ladentür stand und mit einem Käufer poussierte. Ihr Mann war der Bruder von Augustens Schwager, so mußte sie ja sicher Bescheid wissen über die Badekows.

Als ob Paschke in Idas Blicken eine Aufforderung läse, kam er jetzt heran. Er grüßte mit einer höflichen Verneigung: „Gestatten, ist dieser Stuhl noch frei?“

Der Stuhl war frei. Karl war es überdies gleichgültig, wer auf ihm saß. Er war ganz kaputt; auch hatte er zuviel durcheinander getrunken, er sah nicht rechts mehr noch links. Die Arme aufgestemmt, stierte er in sein Bierglas.

Aber auch Ida hatte jetzt mehr acht auf die Raketen und Leuchtkugeln, die von Kroll her aufstiegen und wie fallende Sterne im Waldmeer des Tiergartens untergingen. Der galante Herr hatte sie in ein eifriges Gespräch verwickelt.

Er hatte sich vorgestellt: Julius Paschke, Lindenstraße 104 bei Schulze, drei Treppen rechts. Reisender für Zigarren. Für eine Weltfirma. O, der kam weit herum! Ob er sich wohl auch einmal nach Tempelhof verirrte?

„Tempelhof?“ Er sah sie lächelnd an: gewiß würde er da mal hinkommen – bald! Er erlaubte sich, ihr die Hand zu drücken. War es angenehm, da zu leben? „Viele reiche Leute da, was?!“

„Lauter Bauern!“ Ida fühlte sich plötzlich wieder ganz als Städterin. Ihre Mundwinkel zogen sich geringschätzig herab. Auf einmal schmeckte es ihr bitter auf der Zunge; alle Beleidigungen, die sie von der Familie ihres Mannes glaubte empfangen zu haben, die Zurücksetzungen, die sie fühlte, quollen in ihr auf. Bauern ohne Lebensart, Mistfinken, die auf ihren dreckigen Höfen saßen, als säßen sie auf Schlössern! Die Häuser reine Buden, nur einen Stock hoch – aber Geld – ja, Geld hatten sie schon! Sie lachte kurz und herb auf. Aber das war der Ausgleich, sie verstanden es nicht, ihr Geld zu genießen!

„Das ist doch nicht so’n Kunststück!“ Paschke lachte und zeigte seine weißen Zähne. „Das würde ich ihnen schon beibringen. Sagen Sie mal, werte Frau, kennen Sie vielleicht ’ne Familie Badekow in Tempelhof?“ Er beobachtete sie scharf und mit einem pfiffigen Ausdruck.

„Na und ob! Die Badekows waren ja gerade von den Schlimmsten: stolz wie Grafen. Und dabei hatte die alte Badekow noch bis vor ein paar Jahren auf dem Wochenmarkt gesessen!

„So? Sie scheinen die Leute ja genauer zu kennen?“

„Ob ich die kenne! Die eine Tochter, die Lene, hat doch der Bruder von meinem Mann zur Frau!“

„Was Sie nicht sagen!“ Der Reisende tat riesig überrascht.

Sie sah ihn mit großen Augen an: warum war er denn so verwundert? Was hatte er denn überhaupt so nach diesen Leuten zu fragen, was gingen die Badekows ihn an?!

Oho, die war nicht dumm! Julius Paschke merkte, daß er zu sehr den Verwunderten gespielt hatte. Wenn die eine Ahnung hätte, daß er ganz genau wußte, wer sie war, und daß er nicht um ihrer schönen Augen willen sich hier an den Tisch klemmte, sondern daß er sie nur aushorchen wollte! Aber sie schien ja ordentlich geladen auf die Tempelhofer Gesellschaft. Er rückte seinen Stuhl noch näher an den ihren und zeigte wieder seine weißen Zähne unter dem wohlgepflegten Schnurrbart in einem harmlosen Lächeln. „Ich habe nämlich mal ’ne Familie Badekow irgendwo – ich weiß nicht mehr recht wo – getroffen. Hübsche Mädchen!“

„Die und hübsch!“ Sie lachte spöttisch. „Die miesen Schrauben! Die Mieke ist ja –“ sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Stirn. „Und die Guste – na ich danke! Die kriegt keinen mehr, trotz ihrer Stange Geld!“

„So, so. Na, denn waren das eben andere Badekows?“ Er tat gleichgültig, und doch bohrte es in ihm: wieviel mochte es wohl sein, was Auguste mitbekam? Ob die junge Frau auch das wußte? Er versuchte noch einmal: „Also verwandt sind Sie eigentlich doch mit den Badekows, mit den reichen Badekows?“ Er konnte es nicht hindern, unwillkürlich schmeichelte sein Ton um das Wort „reichen“.

„Was ich mir dafür kaufe!“ Sie schnippte mit den Fingern: „So viel mache ich mir draus!“ Ihre gute Laune war weg; sie kniff die Lippen zusammen und schwieg.

Paschke suchte vergebens auf die vorige Unterhaltung zurückzukommen; er wollte die Hoffnung, noch mehr zu hören, recht Genaues herauszubringen, noch nicht aufgeben; aber sie blieb einsilbig. Da faßt er nach ihrer Hand.

Sie entzog sie ihm hastig; ihre Finger waren zu verarbeitet, sie schämte sich, und dabei kochte eine Wut in ihr auf gegen ihren Mann, der so verschlafen dasaß: warum hielt er ihr nicht eine bessere Magd, nur so ein halbwüchsiges dummes Ding? „Trink nicht so viel!“ sagte sie unfreundlich, so knapp im Ton wie nur möglich! „Wir müssen jetzt gehen!“

„Dann gestatten Sie, daß ich Sie ein Stückchen begleite!“ Paschke rückte galant die Stühle beiseite, damit die junge Frau zwischen den Tischen besser durchkonnte, und ehe ihr Mann nachkam, der noch den Kellner bezahlte, flüsterte er ihr zu: „Ich hoffe Sie mal wiederzusehen, schöne Frau!“

Karl nahm Idas Arm; er ließ sich mehr führen, als daß er führte. An der anderen Seite der Frau ging der Courmacher. Seine Worte taten Ida wohl. Sie war also doch noch nicht ganz Bäuerin geworden?! Früher, als sie noch die ledige Tochter des pensionierten Wachtmeisters gewesen war, da hatte sie vielen gefallen, aber im Dorf – ach, da wußte ja keiner, was hübsch war! Lange hatte ihr Ohr nicht schmeichelnde Worte vernommen; sie sog sie förmlich ein, wie eine durstige Pflanze himmlischen Tau. Der Weg zum Halleschen Tor schien ihr gar nicht weit.

Es gab auch noch vieles zu sehen: das Raczynskische Palais war herrlich beleuchtet, und wo die Siegessäule hinkommen sollte mit der goldenen Viktoria, brannte bengalisches Feuer auf dem schon errichteten Unterbau. Die Büsche des Tiergartens wurden hell beschienen von der Sonne des Brandenburger Tors, die Königgrätzer Straße hinunter flammten noch Fackeln, die Häuser waren noch illuminiert. Aber dann wurde es nach und nach dunkler. Still stand die Berolina, die den einziehenden Siegern den Lorbeer entgegengestreckt hatte, mit Mauerkrone und Wappenschild am Halleschen Tor.

Die junge Frau fuhr leicht zusammen – sie hörte das letzte Kompliment.

„Da oben müßten Sie stehen, reizende Frau“, flüsterte es an ihrem Ohr.

Paschke hielt an, er hatte nicht Lust, weiter mitzutraben; es war ja doch nichts mehr aus ihr herauszubringen. Nur ihre Augen sprachen. Mit einem beredten Glanz sahen sie umher, er glaubte ihr Feuer auf sich gerichtet. Donnerwetter, das war eine, vor der mußte man sich doch etwas in acht nehmen; die könnte einem später unangenehm werden! Er hob abschiednehmend den Zylinder von dem etwas dünn gewordenen Scheitel. Aber dann konnte er sich doch nicht enthalten, dieser bildhübschen Frau das Kompliment vollends zuzuflüstern: „Sie als Berolina da oben, schönste Frau, wir als Bären zu Ihren Füßen, was?!“

Sie sah ihn starr an. Dann lächelte sie, das Blut schoß ihr zu Kopf.

„Adieu“, sagte sie leise und drückte dann seine Hand. „Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“ Er erwiderte den vielsagenden Druck, dann aber ging er eilig. –

Es war dunkel am Halleschen Tor und schon einsam. Sie fanden keine einzige Droschke, und auf dem Halteplatz, wo sonst die Torwagen standen, war natürlich jetzt kein Fuhrwerk mehr zu finden.

Verzweifelt sah Ida sich um: was, sie sollte gehen?! Jetzt fühlte sie plötzlich, wie todmüde sie war, ihre Füße schlorrten. Den weiten Weg?! Und über das öde Feld bei Nacht?!

Pah, daß war doch nicht so schlimm, es war ja eine schöne Sommernacht, draußen schienen die Sterne, wenn sie gut zuschritten, war sie in einer starken halben Stunde längst zu Haus! Karl war etwas munterer geworden. Die freie Luft tat ihm gut, er sprach für den Augenblick ganz vernünftig.

Aber sie war außer sich. An seinen Arm sich klammernd, der wenig Stütze bot, stolperte sie in einem fort; sie weinte fast.

Und doch ging es sich nicht übel. Nach der Hitze der Stadt war es hier erquicklich, der Staub des sandigen Feldes war gelöscht vom nächtlichen Tau, das zertretene Gras hatte sich wieder gehoben. Von fernen Kiefern kam ein waldliches Duften. Wie von rötlichem Dunst überschimmert lag die Stadt weit im Rücken, die Sterne leuchteten hier mit mildem, ruhigem Licht. Versunken waren auch schon die sandigen Hügel, die die Grenze zwischen Stadt und Feld bilden; nichts, nichts mehr war von dem Treiben zu spüren, nur der fahlrote Dämmer zeigte an, daß dahinten das große Berlin lag. Hier war eine andere Welt, die Welt des Schweigens. Wie ein Geheimnis schwebte es zwischen Himmel und Feld; selbst die Sterne konnten nicht sehen, was da unten sich barg.

Ging hier einer, ging hier keiner? Wer wußte es! Lag hier einer schlafend im Sand, oder schlich sich einer räuberisch heran? Man konnte weit sehen und sah doch nichts. Ida strengte die Augen an, daß sie ihr weh taten. Sie zitterte vor Furcht. Bei jedem Lispeln des Nachtwindes fuhr sie zusammen, immerwährend glaubte sie Tritte hinter sich zu hören.

Es waren die eigenen Schritte, die sie erschreckten.

Karl lachte sie aus. Hier auf der Chaussee tat ihnen ja keiner etwas! Freilich, weiter hinein ins Feld, da wo kein Weg mehr führt, da wo Kieferngebüsch die Sandkuhle umgibt, da möchte er jetzt auch nicht gehen. Da war ein Pfuhl, in dem hatte man einen blutigen Leichnam gefunden mit einem Stein am Halse; vor hundert Jahren schon war das geschehen, und seither waren noch viele dort ersäuft worden.

Ida stieß einen Laut des Unwillens aus; ärgerlich riß sie ihren Arm aus dem ihres Mannes und lief hinüber auf die andere Seite des Weges: er war ein Scheusal, wie konnte er ihr nur jetzt gerade so etwas erzählen!

Er lachte in einem fort. Halbtrunken wie er war, machte es ihm Spaß, sie zu ängstigen. Sie, die sonst immer so von oben herab tat, jetzt war sie ganz klein! Er lachte, als ob er gekitzelt würde; die Lust, sie ein bißchen zu quälen, stieß ihn förmlich. O, wie sie sich wand, genau wie ein Würmchen, das man mit einem Stöckchen piekt. Bei jeder Mordtat, die er zum besten gab – er erfand zu denen, von denen er gehört hatte, noch viel abscheulichere dazu –, sah er im ungewissen Licht, wie ihr erblaßtes Gesicht sich immer entgeisterter zu ihm wandte, wie ihre Augen, weit aufgerissen, angstvoll umherstarrten.

Wollte sie mal hingehen, sich den Pfuhl ansehen? Er konnte ihn finden. „Komm“, lallte er unter Kichern und streckte den Arm nach ihr aus.

„Du bist ja besoffen!“ Wütend stieß sie ihn zurück.

„Ich – besoffen!“ Wie konnte sie sich unterstehen, ihn besoffen zu nennen?! Dafür sollte sie aber ordentlich Angst ausstehen.

Er hatte sie erhascht, um den Leib gefaßt und zerrte nun die Widerstrebende vom Wege ab mit sich ins Feld hinein. Sie wehrte sich aus Leibeskräften, er fühlte ihre Nägel, sie kratzte ihn.

„Läßte mich los?! Ich schreie! Ich will nicht! Ich gehe nicht dahin! Zu Hilfe!“

Er lachte so, daß er ganz schwach davon wurde; sie konnte sich ihm entwinden.

„Du Ekel! Du – !“ Die Stimme versagte ihr vor Empörung, sie brach in Schluchzen aus. „Rühr mich nicht an!“ Und doch flüchtete sie im selben Augenblick mit einem gellenden Aufkreischen zu ihm hin und klammerte sich an ihn.

Eine Gestalt war dicht vor ihnen aufgetaucht, sie hatte sich plötzlich vom Boden erhoben. „Nanu“, brummte eine schnapsheisere Stimme, „was ’s denn los? Schreit doch nicht so! Legt euch hin. Un denn schlaft, sonst – !“ Er schwang mit drohender Gebärde einen derben Knüppel.

„Karl, Karl, um Gottes willen, Karl!“ wimmerte Ida. Sie hatte das Gesicht an die Brust ihres Mannes gepreßt, ihn mit beiden Armen umfassend. Nun schrie sie abermals gellend auf: hatte der Kerl sie nicht schon beim Genick, schwang er nicht schon das Messer, um sie abzuschlachten?! Sinnlos vor Entsetzen kreischte sie in einem fort.

Karl hatte aufgehört zu lachen, auch er war erschrocken und plötzlich ernüchtert. „Was wollt Ihr?“ fragte er etwas beklommen; der Strolch stand dicht vor ihnen, groß wie ein Baum. Verdammt, das kam nur von Idas blödsinnigem Getue! Er machte sich unsanft von ihren Armen frei. „Laßt uns unsres Weges jenen“, sagte er. Und dann mit einem Anflug von Mut: „Nehmt Euch man in acht, daß Euch die Polizei nich beim Wickel kriegt – da hinten kommt schon ’n Gendarm!“

„Schandarm – Schandarm – jawoll, iebermorjen! Hat sich wat hier mit ’n Schandarm!“ Der Strolch lachte auf. „Aber Sie brauchen mir jar nich mit de Pollezei zu drohen, ick due Ihnen ja nischt!“ Er trat dicht heran und sah dem andern prüfend ins Gesicht. „Ick habe mir in Ihnen jeirrt, ick dachte, Sie wären eener von uns, mit ’nem Mächen. Entschuldjen Se, lieber Herr, ha’m Se nich en Sechser iebrig for ’n armen Mann? Drei Tage hab ick keenen Bissen in ’n Leibe jehatt. Meine Eltern sind dot, meine Frau liejt in de Wochen!“ Er verzog sein verwittertes Gesicht zu einer kläglichen Grimasse.

Karl Lietzow lachte laut auf: herrje, das war ja der Rixdorfer, der alte Pennbruder, der zum Tempelhofer Feld gehörte wie die Laus zum Pelz! Winters und Sommers traf man ihn hier an. Dem war er als Junge schon nachgelaufen und hatte ihn gehänselt: „Meine Eltern sind dot, meine Frau liejt in de Wochen.“ Der mußte ja jetzt schon über die Siebzig sein!

Mit Befremden sah Ida, daß ihr Mann dem furchtbaren Strolch auf die Schulter klopfte. Ihr ekelte: wie konnte man so einen nur anrühren?! „So komm doch“, sagte sie ungeduldig und strebte, ihren Mann mit voranzureißen.

Aber Karl war gemütlich: „Rixdorfer, wo wohnste denn jetzt? Noch immer in Rixdorf?“

„Nee. Ick wohne doch hier!“ Der Alte schien ganz verwundert über die Frage. „In ’n Sommer lieje ick janz jut uf’t Jras, in ’n Winter buddle ick mir ’n bißken tiefer ein. Is ’ne janz scheene Wohnung – wenn bloß der Hunger nich wäre!“ Mit einer plötzlichen drohenden Gebärde schwang er seinen Knüppel und brüllte: „Jebt mir wat, det ick mir morjen zu essen koofen kann!“

Ida kreischte hell, aufs neue entsetzt, aber Karl sagte: „Na, na, Männeken, dir kenne ick, man sachte! Du bist jar nich zu fürchten, wenn de auch so dust. Da haste ’n paar Jroschen!“

Der Alte dankte demütig.

Lachend stolperte Karl davon. Ida rannte immer zwei Schritte vor ihrem Mann her, sie rannte, daß sie keuchte? Gott sei Dank, nun lag endlich das verwünschte Feld hinter ihnen! Es muhte dumpf ein Stück Vieh, im Schlafe krähte heiser ein Hahn, es roch nach Dünger, nach bestelltem Land. Da blinkte ein Licht auf! Gott sei Dank, Tempelhof!

Einsam stand der Alte und sah den verschwindenden Gestalten nach. Er wiegte den Kopf: ein Mann und ein Frauenzimmer! Ein Grinsen verzog seinen Mund. Ha, Pärchen, Pärchen hatte er schon viele angetroffen hier auf dem Feld, aber so hübsch wie diese schreiende Katze war nie eine gewesen! Eine erloschene Gier flammte noch einmal auf in den eingesunkenen Augen des Alten. Dann streckte er sich mit einem Seufzer da nieder, wo er gerade stand.

Nichts war mehr von ihm zu bemerken. Eins war sein Gewand mit dem Schmutzgrau des Feldes; sein Körper schmiegte sich dem Boden an, sein Haar vermengte sich mit den dürren Gräsern, sein Gesicht verschwamm im fahlen Dämmern der Luft, sein Schnarchen veratmete im Sausen des Nachtwindes.

Die vor den Toren

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