Читать книгу Der einsame Mann - Clara Viebig - Страница 4

Zweites Kapitel

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Sie hatten sich ganz gut miteinander eingelebt; lebten sich eigentlich jeden Tag mehr zusammen. Der Oberst dachte nicht mehr ans Ausziehen. Es waren ihm öfter in der Stadt bequemere und auch sehr hübsche Wohnungen angeboten worden: der weite Weg von da draussen herein war doch wirklich lästig, besonders wenn es so andauerndes Regenwetter war, und ein so hässlicher Wind wehte wie in diesem Winter. Der Apotheker bewohnte in der stattlichen, mit einer wahren Raumverschwendung gebauten Apotheke mit seiner jungen Frau nur den ersten Stock, der zweite Stock stand dem Herrn Baron gern zur Verfügung. Es war zu schade, dass in den Prachträumen oben nur Kräuterbündel zum Trocknen hingen; es waren von da auch nur zwei Schritt herüber zum Mittagstisch. Aber der Oberst widerstand jeder Lockung, denn dann würde er ja Hans-Helmut so viel weniger sehen; kaum sehen. Bequemer wäre es freilich, wenn er seinem Hause näher etwas zu essen bekommen könnte. Aber daran war ja wohl nicht zu denken.

Als er sich heute die grosse Regenpellerine, die er immer zu Pferde getragen hatte, bis unters Kinn zuknöpfte und die Mütze tiefer in die Augen zog, denn es goss fürchterlich, als er zu seinem Mittagstisch gehen musste, hörte er drinnen im Wohnzimmer den Kleinen husten. Wie, war Hans-Helmut schon aus der Schule zurück? Sonst begegneten sie sich meist auf dem halben Weg, und dann liess Hans-Helmut es sich nicht nehmen, nochmals ein gutes Stück mit zurückzugehen. Der Oberst klopfte an der Wohnstubentür. Niemand sagte herein, aber er erlaubte sich’s, einzutreten. Da lag Hans-Helmut auf dem Sofa, hatte einen ganz roten Kopf und gläserne, nicht mehr alles klar wahrnehmende Augen. Der Mann erschrak: der hatte ja Fieber! Er zog sich einen Stuhl neben das Sofa, fasste die Hand des Kindes und behielt sie in der seinen. Das schien Hans-Helmut wohlzutun. Als die Mutter hereinkam mit einer Tasse Lindenblütentee, schlief er; doch sobald der Oberst die heisse Kinderhand loslassen wollte, haschte der Kranke danach, seine Stirn zog sich zusammen, und er liess ein klagendes Wimmern hören.

Da blieb der Oberst sitzen. Ob es wohl eine Kinderkrankheit wurde, Masern vielleicht, oder ob es nur bei einer Erkältung blieb?

Der Oberst und die Frau Doktor sprachen flüsternd, die Zeit verging. Wenn er jetzt nicht zum Essen ging, bekam er keinen warmen Bissen mehr; aber sowie der Oberst versuchte, seine Hand fortzuziehen, wurde der Kranke unruhig.

Endlich kam es der Frau Doktor, zu sagen: »Herr Baron, es ist mit dem Essen zu spät für Sie geworden — wenn ich Ihnen vielleicht hier etwas anbieten dürfte?« Sie schämte sich zwar, sie hatte nur eine dünne Milchsuppe und nach der Suppe Kartoffeln mit gewiegtem Hering, aber sie war tapfer: »Sie müssen freilich sehr fürlieb nehmen.«

Und er nahm fürlieb; es schmeckte ihm sogar ausgezeichnet. Er wusste gar nicht, dass er Hering ass, den er sonst nie gemocht hatte. Immer sah er nach dem Sofa hin, wo der fiebernde Knabe jetzt gleichmässig atmete. Schlief er? Mitunter hoben sich die Lider — ein kurzes Blinzeln — dann wieder das gleichmässig tiefe Atmen.

Die Mutter schlich hin: Gott sei Dank, er schlief jetzt! Auch der Oberst balancierte auf den Zehen zum Sofa; das ging nicht ganz ohne Geräusch ab, der Stuhl rückte ziemlich laut trotz aller Vorsicht, die Diele knarrte und gerade, als er sich über den Schlafenden beugte, kam ihm ein Niesen, das er nicht rasch genug im Taschentuch ersticken konnte. Was, lachte der Schelm? Ein Lächeln erschien um die roten Lippen, die in der Fiebertrockenheit noch röter blühten.

Der Mann betrachtete die weichen Wangen, auf denen die langen dunklen Augenwimpern lagen, bemerkte die feingezogenen Bögen der Brauen, die reine Stirn, das zierliche Ohr und den Mund, der wie der einer schönen Frau war. Zum Küssen.

»Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Baron,« flüsterte die Frau, »dass ich jetzt nicht allein hier sitze. Es ist doch wohl nur ein Schnupfenfieber, nicht wahr? Mein Mann wurde so rasch dahingerafft; ehe ich begriff, was eigentlich war, war er gestorben. Ich bin so ängstlich geworden. Sie werden meine Besorgnis gewiss übertrieben finden? Aber ich habe ja weiter nichts auf der Welt als den Jungen.«

Nein, er fand ihre Besorgnis gar nicht übertrieben. Wenn es ihr recht war, ging er nachher gleich zum Arzt, von vier bis fünf hatte der Sprechstunde. Wenn er um diese Zeit dort war, traf er ihn sicher an und konnte ihn womöglich gleich mit herausbringen.

Ein dankbarer Blick aus tränengefüllten Augen traf ihn. Frau Doktor wagte es, ihm über den Tisch weg die Hand zu reichen, für einen kurzen Augenblick hielt er ihre dünnen und doch so verarbeiteten Finger mit einem festen Druck. »Nur keine Angst, wir wollen unsern Jungen schon bald wieder gesund kriegen!« Unsern Jungen — er sagte das mit Herzlichkeit, und er fühlte diese auch wirklich, fühlte plötzlich, wie er schon an dem Knaben hing, der ihn eigentlich gar nichts anging, und der doch nur das war, was ihn hier festhielt.

»Es wäre besser, ich brächte ihn zu Bett,« flüsterte die Mutter. »Aber ich möchte ihn nicht gern aufwecken.« Sie war ziemlich hilflos.

»Das wollen wir schon machen!« Behutsam, als wäre sie zerbrechlich, nahm der Mann die leichte Last auf. In schweren hohen Reiterstiefeln und doch versuchend auf Zehen zu schweben, trug er den Knaben hinter der Mutter her. Der war halb erwacht, für ein paar Augenblicke fühlte der Mann eine heisse fiebernde Stirn sich an seine Wange schmiegen, dann sank das Köpfchen wieder auf seine Schulter zurück.

Frau Doktor hatte die Tür zum Nebenzimmer geöffnet. Ein kleiner, recht karger Raum. Da standen noch die beiden Ehebetten, wie früher dicht nebeneinander, die Frau schlug die Decke von dem einen Bett zurück. Hier im Bett des Vaters lag jetzt des Knaben Nachtkittel.

Während die Mutter den Schlaftrunkenen entkleidete, kehrte der Mann sich dem Fenster zu. Draussen dunkelte es bereits, die Fähre, die von drüben her über den Fluss glitt, hatte ein einsames Licht am Bug, das schwebte heran wie ein langsam sich nahender und doch zögernder Stern. Für den Junggesellen war etwas Fremdes in diesem engen ehelichen Schlafgemach, er fühlte eine gewisse Scheu, sich hier umzusehen; als weile noch der Tote hier mit seinem kalten Hauch, so wehte es ihn kühl an. Würde für den Jungen nicht besser ein eigenes freundliches Kinderzimmer taugen? Freilich, es mochte der Witwe einsam sein, sie wollte das einzige, was sie noch besass, dicht neben sich behalten, so lange das nur eben anging. Unbestimmt fühlte der Mann: so war es nicht ganz das richtige, aber er, unbeweibt und kinderlos, hatte wohl nicht das richtige Verständnis. Ihn fröstelte. Leise ging er ins Wohnzimmer zurück.

Dann sassen sie hier noch eine lange Weile, die Tür nach dem Nebenzimmer blieb halb angelehnt. Sacht tickte der Regulator an der blauen Tapete, der Kanarienvogel im Bauer kraspelte und versuchte leise sein Lied, das wie von weither kam, wie im Traum gesungen. Hier im Wohnzimmer, wo der Schulranzen des Knaben am Boden lag, so wie er ihn abgestreift hatte, wo das aufgeschlagene Märchenbuch, die blaue Matrosenmütze, und dort auf einem Stuhl der Baukasten mit den durcheinander geworfenen Steinen, ihn so ganz herzauberten, fühlte der Oberst sich behaglicher. Bis er zum Arzt ging, lauschten sie mitsammen auf die ruhiger und ruhiger werdenden Atemzüge nebenan. Und dazwischen sprach Frau Doktor in abgerissenen Sätzen von ihrem Mann. Oh, er war so gut, so tüchtig — ihre Familie war erst sehr dagegen gewesen, sie aber hatte ihn doch geheiratet; kennengelernt hatte sie ihn, als sie mit ihrer leidenden Mutter an einem Badeort hier in der Nähe zum Kuraufenthalt gewesen war. Glückselige Zeiten — ach, wenn man damals gedacht hätte, dass so rasch, so rasch alles zu Ende sein würde! Nun war die Mutter schon lange tot und ihr Mann tot.

Die Frau hatte mehr gesprochen in dieser einen Stunde, als je in der ganzen Zeit, in der ihr Mieter sie kannte. Ein ganz und gar nicht aussergewöhnliches, ein ganz alltägliches Frauenschicksal, aber darum nicht minder betrübendes, entrollte sich vor ihm. Er hätte nie gedacht, dass ihn solche Geschichte interessieren könnte — aber die arme Frau! Er fühlte ein grosses Mitleid. Gott sei Dank, dass sie noch den Knaben hatte — und diesen Knaben! Er sah ihn plötzlich mit den Augen der Mutter: ein schöner, begabter und lieber guter Junge.

»Ich mache mir oft Gedanken, ob ich ihn auch richtig erziehe,« flüsterte die Frau, »ich halte ihn vielleicht etwas zu sehr von der Aussenwelt zurück. Aber seine Schulkameraden gefallen mir so wenig, sie sind so grob, so derb, und sie wissen schon so viel von der Welt. Er ist noch ganz Kind.«

»Gott erhalte ihn so,« sprach der Oberst. Er war ein frommer Mann, es war ihm keine Redensart, wenn er das sagte. — —

Hans-Helmut war längst gesund, es war wirklich nur ein Schnupfenfieber gewesen. Doktor Bär, der vielbeschäftigte Mann, vor dessen Tür immer irgendein Bauernwagen hielt, der ihn hinaufholen wollte in eines der Dörfer oben, war ärgerlich, dass man ihn deshalb den weiten Weg herausgejagt hatte. Der Oberst bekam das bei Gelegenheit von ihm zu hören, der Doktor nahm kein Blatt vor den Mund. Dass die Mutter gleich aus der Fassung geriet, war eher begreiflich, aber dass der Baron, ein alter Militär, so ängstlich war, das verstand er nicht. Er war eben ein Bauerndoktor.

Im Städtchen sprach man über Frau Doktor Arndt und ihren Mieter. Im Kaffeekränzchen der Frau Apotheker wurde ganz ernstlich gewettet, ob die beiden wohl ein Paar werden würden oder nicht. Die einen sagten: er denkt gar nicht daran — andere: Alter schützt vor Torheit nicht. Eine Torheit wäre es, wenn der Baron, ein immerhin noch so stattlicher Fünfziger mit einer guten Pension und einigem Vermögen, sich diese ältliche, müde, blasse Frau an den Hals hängen würde. Es gab in der Stadt unter den Honoratioren Jungfrauen vorgerückteren Stadiums, mindestens zehn, und sogar unter den jüngeren Damen welche, die Frau Baronin zu werden nicht ausgeschlagen hätten.

Der Oberst hatte keine Ahnung, zu welchen Gesprächen er und seine Hauswirtin Anlass gaben. Er kam jetzt auch viel seltener mit seinen Bekannten zusammen, da er nicht mehr am Mittagsstammtisch teilnahm. Er ass jetzt zu Hause. Das war nicht billiger, aber es war bequemer, und es schmeckte besser. Und vor allen Dingen bekam der Junge nun bessere und kräftigere Kost. Die Augen glänzten ihm, wenn es recht was Feines gab. Da lohnte es dem Oberst schon, an den Markttagen selber in die Stadt hineinzugehen und einzukaufen.

Auf dem kleinen Platz vor dem Rathaus, das hoch gegiebelt und altertümlich auf das abschüssige Pflaster herunter sieht, boten zweimal in der Woche die Bauern von draussen ihre Waren feil. Der Herr Baron guckte in jede Hotte und in jeden Korb; wo eine Bauersfrau ein an den vier Zipfeln zusammengebundenes Tuch hatte, das sie ganz besonders hütete, liess er sich’s aufbinden. Die beste Butter, die frischesten Eier, das fetteste Huhn, das erste junge Gemüse im Frühjahr brachte er heim. Für sich selber hätte er es nie gekauft — als Junggeselle hatte er ja auch keinen zu Hause gehabt, für den es ihm lohnte —, nun aber fielen ihm auf einmal allerlei Gerichte ein, die bei seiner Mutter gekocht worden waren; wie eine schöne Erinnerung kam ihm ein Geschmack auf die Zunge von diesem und jenem. Die Frau Doktor gab sich viele Mühe, sie tat ihr Bestes, aber ganz so wie seine Mutter brachte sie die Gerichte doch nicht fertig. Und nun guckte er nicht nur den Bauern in die Körbe und liess sich beim Metzger das beste Stück Fleisch vorlegen, nun sah er zu Hause wohl auch in der Küche nach. Ein Soldat muss sich in alle Verhältnisse finden, und er war jetzt auf einmal ein Hausherr, der abends den Küchenzettel mit bestimmte für den kommenden Tag.

War das ein Herr! Einen solchen Mieter möchte wohl jeder haben! Die Frau, die seit zwei Jahren täglich kam, die Stiefel des Herrn Baron putzte und seine Kleider reinigte, wunderte sich: um alles kümmerte sich der Herr. Und gar nicht knauserig war er; wenn es wo nicht langte, sprang er ein. Ob er am Ende ein Verhältnis mit der Frau Doktor hatte? Na, so eine! Und tat doch immer so, als ob für sie das Leben und was das vergnüglich macht, gar nicht mehr da sei, lief alle Sonntag auf den Kirchhof zum Grab ihres Mannes und schien nur noch für ihren Jungen Sinn zu haben. Das sollte man wahrhaftig von der nicht denken. Aber dass es zwischen ihr und dem Herrn Baron nicht recht sauber war, das musste doch wohl so sein.

In der Seele dieser Frau, die so grobfädig war und so bereit, den Schmutz aufzunehmen wie der Scheuerlappen, mit dem sie jeden Morgen die Fliesen des Hausflurs wischte, konnte keine Ahnung sein von dem, was hier, fein und zart wie ein hauchdünnes Spinnweb, sich webte, und das zergeht, wenn man es anfasst mit der Hand. Frau Kaspers war sonst gerade keine üble Frau, sie hatte ein leidliches Wesen. Ihr Mann hatte einen Schleppkahn, mit dem treidelte er die Moselstrecke auf und ab, Bausteine, Holz, Kartoffeln, Obst, alles beförderte er so von Ort zu Ort; seine grossen Jungen halfen ihm dabei. Die Kaspers hätte es gar nicht nötig gehabt, so aufs Verdienen zu sehen, aber eine Aufwartung macht nicht viel Mühe und es fällt ausser dem Stundenlohn noch allerlei dabei ab. Und ihr Mann trank zu gern, da liess sich nicht sparen, und für ihre Maria, das einzige Mädchen, wollte sie doch gern eine Aussteuer zusammenschrapen.

Die Fünfzehnjährige kam manchmal und vertrat die Mutter; dann war der Hausflur immer viel sauberer gewischt und die Stiefel des Herrn Barons waren so blank geputzt, dass man sich hätte darin spiegeln können. Wenn das junge Ding im Flechtenkranz mit Besen und Scheuerbürste flink hantierte und mit dem Eimer klapperte, sang sie dabei. Frau Doktor war das nicht angenehm, in der Stille des Hauses war es plötzlich so laut, aber eine Rücksicht hielt sie zurück: man konnte der Fleissigen doch unmöglich den Mund verbieten. Selbst wenn das Mädchen den Gassenhauer pfiff, den der Orgeldreher mit dem Stelzfuss Sonntags an der Fähre zum Überdruss orgelte, sagte sie nichts. Warum dem harmlosen Kind die zutrauliche Unbefangenheit nehmen?

Maria Kaspers hatte eine Art, die so frei und unbefangen war, dass sie oft ganz sonderbar anmutete — war die dreist? — nein, hier war die ganze Natürlichkeit und unbefangene Sicherheit des Kindes aus dem Volk. Auch der Oberst sah mit Wohlwollen auf Maria Kaspers. Als sie ihn einmal so freundlich anlachte, dass alle ihre weissen Zähne blitzten und ihre Augen lustig tanzten, klopfte er sie auf die Wange, die fest und rund war wie ein gesunder Apfel: die wurde mal eine Tüchtige, der war die Arbeit ja Lust! Zum ersten Male fand er Frau Doktor weltfremd und geradezu altjüngferlich, als er zu bemerken glaubte, dass sie es nicht gern sah, wenn Maria Kaspers sich viel mit Hans-Helmut befasste. Sie rief ihn jedesmal zu sich herein in die Stube. Das konnte dem Jungen doch nichts schaden, wenn er mit dem Mädchen schwatzte! Die war zudem schon vor ein paar Jahren gefirmelt, eine grosse, verständige Person. Diese Kluft der Jahre und die noch weit grössere Kluft des Standes schalteten ja von vornherein schon ein zu grosses Vertrautwerden aus.

Der einsame Mann

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