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Fünftes Kapitel

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In das stille kleine Haus draussen vor der Stadt war Unruhe gekommen. Niemand ahnte, dass Unruhe da war, erstaunt hätte der Oberst gefragt: »Unruhe, wieso?« Frau Doktor nannte dieses, was gekommen war und sich verbreitete von der Mansarde oben bis hinunter zur Küche: fröhliches Leben.

In der Küche sang Maria Kaspers und klapperte mit den Herdringen. Sie war jetzt immer da. Frau Doktor war eines Tages ohnmächtig geworden; in der Küche beim Mittagkochen hatte sie plötzlich gesagt: »Mir ist gar nicht recht wohl,« hatte nach einem Stuhl gefasst und war umgefallen. Ein Glück war es, dass der Sohn bei ihr stand; er hatte sie auffangen wollen, aber sie war ihm doch niedergeglitten auf die Fliesen. Auf seinen Hilferuf kam der Oberst herbei. Sie trugen sie miteinander auf ihr Bett, und Hans-Helmut jagte schreckensbleich in die Stadt, um den Arzt zu holen.

Es ging nicht mehr, dass Frau Doktor so viel allein schaffte. Eine ständige Hilfe musste ins Haus, nicht bloss morgens zwei Stunden die alte Vettel, die Kaspers, wie Doktor Bär grob sagte. Wenn die Männer nun aus waren und so etwas wieder vorkam? Die Ohnmachtzustände konnten sich wiederholen. Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. Und dann sagte er dem Oberst draussen im Flur, wo sie allein waren, dass es mit dem Herzen von Frau Doktor Arndt nicht in Ordnung war. Eine Muskelerschlaffung, und das Herz war auch zu gross, eine Erweiterung. Oh, was war denn da zu tun?! Erschrocken sah ihn der andere an. »Ich schreibe etwas auf, ein Herzmittel, und dann vor allem Ruhe. Schonung in jeder Beziehung. Weder körperliche Anstrengungen noch seelische Erregungen.« —

Der Oberst war ins Städtchen gegangen, um nach einer Hilfe für den Haushalt zu suchen. Aber er hatte keine gefunden, keine Frau, kein Mädchen. Die brauchbaren waren alle vergeben, hatten ihre Stellen, und jetzt war keine Ziehzeit. In einer gewissen Verzweiflung ging er wieder heim, die Füsse taten ihm weh, stundenlang war er herumgelaufen auf dem holperigen Pflaster, war Treppen gestiegen, die so steil waren wie Hühnerleitern, hatte sich auf dunklen Höfen herumgetastet, von einer Stelle war er zur anderen geschickt worden. Bei der Kaspers war er zuerst vorgegangen: wusste sie vielleicht jemanden? Aber die war ungnädig: nein, sie wusste keinen. Die Stelle so weit draussen war ihr oft unbequem gewesen, sie hatte genug darüber geschimpft, aber gut war die doch gewesen, sehr gut, sie gönnte die keiner anderen.

Den langen Weg von der Stadt nach Haus ging der Oberst in Gedanken versunken. Neben seiner Strasse lief der Fluss. Der hatte ihn oft mit seinem sanften Gleiten beruhigen müssen, es können ja nicht alle Stunden nur angenehme sein in so langen Jahren. Aber heute sah er den Fluss nicht mehr, der Herbstabend nebelte bereits dunkel. Eine verteufelt unangenehme Situation! Wenn die gute Frau Doktor nun nicht mehr voran konnte, wenn es ihr unmöglich war, ohne Magd den Haushalt zu besorgen, und man keine Hilfe bekam — was dann?! Er sah sich schon wieder auf der Wanderschaft, sah sich unterschlüpfen in einem Hotel oder in irgendeiner Pension — wie unbehaglich, wie unpersönlich, ach, wie heimatlos! Ja, eine Heimat hatte er hier gefunden, hier war er nicht Mieter und nicht Junggesell, hier war er Hausherr und Vater. Durch ein Gefühl der Zugehörigkeit war er mit jenen verbunden, die in dem kleinen weissen Hause wohnten. Ein Schrecken, der einem Schmerz glich, überfiel ihn jäh: wenn er sich nun von denen trennen müsste?!

Atemlos kam er zu Hause an, er war stark zugeschritten, in einer plötzlichen Sehnsucht war er fast gerannt. Wie ein freundlicher Stern, ihn vertraut begrüssend, brannte das kleine Lämpchen im Hausflur. Bei seinem Eintritt öffnete sich die Stubentür, und der Frau Doktor noch recht blasses Gesicht lächelte ihn an. Mit jenem sanft-wehmütigen Lächeln, das wie stiller Mondschein auf abgeblühtem Garten war.

»Meine gnädige Frau!« Er war ganz bewegt. Er ergriff ihre Hand und küsste sie: »Gott sei Dank, dass Sie wieder so weit wohl sind! Aber nun Vorsicht! Sie dürfen sich gar nichts zumuten!«

Aber wie sollte das möglich sein? Sie sassen schon lange beisammen im Zimmer mit der blauen Tapete und überlegten. Hans-Helmut war voller Eifer, er hatte den Abendtisch gedeckt und wieder abgedeckt. Auch der Oberst liess es sich nicht nehmen, zu helfen, er trug die Teekanne und das Brot, aber geschickt war er nicht, aus der Kanne vergoss er, das Brot liess er fallen.

Mit einem nervösen Unbehagen sah die Frau den beiden zu. Zehnmal wollte sie aufspringen, aber das litten die nicht. »Sitzen bleiben!« kommandierte der Oberst, und der Sohn rief: »Mutter, aber du sollst doch nicht! Wir machen schon alles.« Müder gemacht von diesem Zusehen und angegriffener, als wenn sie alles selber getan hätte, lag die Frau im Sessel. Nein, so ging es nicht! So würde es niemals gehen! Ungeduldig gemacht durch die übertriebene Besorgnis, und verzagt über die eigene Schwäche begann Frau Doktor zu weinen.

Da klinkte aussen etwas an der noch nicht verschlossenen Haustür. Hans-Helmut lief in den Flur; der war ganz dunkel, aber durch die geöffnete Tür fiel von aussen der Dämmerschein der Nacht. Im Türrahmen stand eine Gestalt, umflossen von dem nächtlichen Licht. Maria Kaspers Stimme erfüllte den Flur mit ihrem lauten: »Guten Abend zusammen!«

Sie hatte es von der Mutter gehört, dass Frau Doktor krank geworden war und wegen einer Hilfe in Not. Ihr wäre es recht, hier den Haushalt zu schaffen, wenn Frau Doktor es wollte.

Ob die wollte! Mit einem Erlösungsseufzer hob die Frau das Gesicht aus dem Taschentuch, sie fiel dem Mädchen um den Hals, genau wie damals, als Maria ihr den Jungen aus dem Fluss gebracht hatte. »O Maria, du nimmst mir eine Last von der Seele!«

»Ach ja,« sagte der Oberst, »das wäre gut!« Sein eben noch so sorgenvolles Gesicht war gleich erhellt. »Kommen Sie zu uns, es soll gewiss Ihr Schade nicht sein. Sorgen Sie, dass Frau Doktor sich nicht mehr übernimmt.« Ja, die würde den Haushalt spielend schaffen, das sah er, die hatte Jugend und Kraft und guten Willen.

Das Licht der Hängelampe fiel hell auf Maria Kaspers. Da stand sie in ihrem sauberen Kattunkleid, eine weisse Schürze vor dem vollen Busen, aus den Ärmeln, die nur bis zum Ellbogen reichten, guckten die Arme heraus, drall und doch sehnig. Blühend waren ihre Wangen, eine schönes warmes Rot lag auf ihnen; an ihre Schläfen schmiegte sich das Haar in weichen Ringeln und war hinten aufgesteckt zu einem reichen Flechtennest.

Mit weitgeöffneten Augen stand Hans-Helmut; er sagte kein Wort.

Ruhig stellte Maria Kaspers ihre Bedingungen. Billig war sie nicht, das war natürlich, sie war arm und sie musste verdienen; aber der Oberst hätte ihr willig doppelt so viel zugesagt als sie verlangte, er war ja zu froh, dass sie kam. — —

Und nun war sie hier, als sei sie seit vielen Jahren Tag und Nacht im Hause gewesen. Ein Eingewöhnen war nicht nötig, man war sich ja schon vertraut. Das Mädchen hatte eine Art, die selbstsicher war, ohne dreist zu sein; anfänglich war die der Frau Doktor manchmal befremdend gewesen, nun war sie längst daran gewöhnt. Sie musste bei ihrer Schwäche so manchesmal die Hilfe der jungen Kraft in Anspruch nehmen, dass sie nicht mehr daran dachte, dass sie die Herrin war und jene die Dienerin. Willig liess sie Maria Kaspers bestimmen, sie wusste, die machte alles verständig und gut. Ach, wie wohl tat es auch, die beiden Männer so gut versorgt zu sehen! Der Oberst hatte nie mehr zerrissene Strümpfe, seine Stiefel waren stets spiegelblank, sein Rasierwasser bekam er immer warm und zu gleicher Minute, sein bester Bursche war nicht pünktlicher gewesen. Der Oberst sprach sich höchst anerkennend über Maria aus. Nur Hans-Helmut schwieg. Und die beiden waren doch, als er noch ein Kind war, so gut Freund miteinander gewesen! Die Mutter glaubte im Sohn einen leisen Widerstand zu spüren. War das etwa Eifersucht von ihm? Oh, von ihrer Liebe konnte ihm Maria niemals etwas nehmen, die Liebe, die gehörte ihm ganz allein, aber man musste doch gerecht sein und anerkennen, was anzuerkennen war. Wenn sie lobte: »Das hat Maria gut gekocht,« so sagte er: »Du hast es noch besser gekocht.« Wenn sie nach dem Essen auf dem Sofa gebettet lag, dem Mädchen, das ihr die Füsse sorglich einpackte und ihr das Kissen unter den Kopf schob, so bequem, wie es kein anderer zu machen verstand, mit dankbarem Lächeln zunickte, ging er aus dem Zimmer. Das bekümmerte die Mutter. War es nicht fast, als träte etwas zwischen sie und ihr Kind, als wäre Fremdes im Sohn, das sie nicht mehr kannte?! — —

Es war heute ein ganz stiller Nachmittag, stiller noch als sonst. Es schneite. Lautlos fielen grosse weisse Flocken und zerschmolzen im aufgetauten Erdreich. Maria war in den Ort gegangen zu ihrer Mutter, der Baron spaltete hinterm Haus Holz, das tat er seiner Gesundheit wegen, um nicht Fett anzusetzen; und auch der Ersparnis wegen. Er und die Maria kriegten die Klafter schon allein klein, man brauchte nicht Stundenlohn zu zahlen.

Hilde Arndt sass am Nähtisch, heute hatte sie einen guten Tag, sie konnte etwas schaffen, und das machte sie froh. Sie fühlte sich überhaupt in letzter Zeit kräftiger, das verdankte sie allein der Maria. Wie die für sie sorgte! Am liebsten sollte sie gar nichts anfassen. Und immer willig war Maria, es wurde ihr nie etwas zuviel. Wenn dieses Mädchen nicht ins Haus gekommen wäre, wo wäre sie dann jetzt wohl —?! Eine grosse Dankbarkeit erhob sich in der Seele der Frau, denn, ach, eine Weile möchte sie doch noch leben, so lange noch, bis Hans-Helmut sein Studium hinter sich hatte, bis er eine Stellung bekleiden konnte, in der er vorwärts kam im Leben. Dann wusste sie ihn geborgen. Denn der Baron würde ja auch nicht ewig leben, wenn er auch viel gesünder, viel kräftiger war als sie. Sie waren beide schon alte Leute. Und wenn sie nun doch schon eher fort müsste —?!

Die Tür öffnete sich leise, Hans-Helmut steckte den Kopf herein: »Bist du allein, Mutter?«

Sie war erfreut. Sonst sass er meist oben in seinem Stübchen; wenn auch kein Ofen dort war, er behauptete, niemals zu frieren. Jetzt schlang er den Arm um sie und legte seine Wange an die ihre. Er war als Kind sehr zärtlich gewesen, jetzt war eine Zärtlichkeit seltener bei ihm, sie hatte sich darüber beklagt, aber der Oberst sagte, das läge in den Jahren, im Werden zum Mann.

Die Mutter lächelte glücklich: wie lieb ihr Junge heut war!

»Wenn du allein bist, bleibe ich bei dir.« Er holte sich einen Stuhl heran, und über den kleinen Nähtisch weg sah sie nah in sein geliebtes Gesicht. Das dünkte sie abgespannt. Die reine Stirn war bleich und ernsthaft, die dunkle Haarwelle, die über sie hineinhing, liess sie noch bleicher erscheinen. »Du lernst zuviel, mein Sohn. Immer sitzt du oben über deinen Büchern.«

»Ich lerne nicht immer.«

»Was tust du denn?«

Er lächelte, ein zerstreutes, ein wenig abwesendes Lächeln, und zuckte die Achseln.

Da lächelte sie auch: ach ja, er träumte. Träumte, wie man nur träumt in der Jugend; man macht Pläne, kühne Zukunftspläne, man baut Schlösser, die bis in die Wolken reichen. Sie beugte sich über den Nähtisch und strich ihm mit ihrer kühlen Hand die dunkle Strähne aus der Stirn. »Nicht lang mehr, mein Sohn, und du gehst fort von uns!«

Der Gedanke daran machte sie bang erschauern, aber sie gab ihrer Stimme Festigkeit: »Nur noch ein Jahr Prima.«

»Gott sei Dank!« sagte er mit einem Aufatmen. So aus dem tiefsten Innern kam das heraus, dass es klang wie ein Erlösungsseufzer.

War er denn nicht gern auf der Schule? Er war doch so gut durch die Klassen gekommen? »Ich habe geglaubt, du gingest gern zur Schule,« sagte sie ganz kleinlaut.

Er lachte kurz auf: »Das schon. Aber, Mutter, ich möchte heraus.« Er hob die Achseln und dehnte sich: »Heraus aus der Schule, heraus aus dem Ort, heraus aus dem Haus!«

Aus dem Haus! Das durchfuhr sie wie ein Schmerz. Wie konnte er nur sagen: aus dem Haus? Dass er sich einmal heraussehnte, das begriff sie wohl, aber aus dem Haus — aus diesem Haus?! Ihre Augen blickten erschrocken.

Er sah das und sagte schnell: »Ich sage damit ja nichts gegen dieses Haus — oh, ich liebe es mit seinen kleinen Zimmern, mit seinem Gärtchen. Ich werde immer Sehnsucht danach haben — und nach dir, Mutter, nach dir hier an deinem Nähtisch — aber ich muss wo anders hin. Hier in diesem Haus bin ich doch immer nur der Knabe, das kleine Kind.«

»Mein Kind,« sagte sie leise und senkte den Kopf. Sie fühlte sich gekränkt. Aber sie überwand es; das war ja dumm von ihr, wie konnte sie es dem Sohn übelnehmen, dass die Freuden der Universität, die grössere Stadt, die goldene Freiheit ihn lockten? Und tapfer fing sie davon an und malte ihm das noch schöner aus, was ihr Mann ihr von seiner Studentenzeit erzählt hatte. Es war seine sorgloseste Zeit gewesen. Er war öfter einmal berauscht gewesen, berauscht von jungem Wein und junger Liebe, das hatte er ihr treulich gestanden. Ob Hans-Helmut auch berauscht sein würde? Berauscht, aber um Gotteswillen, nur nicht betrunken! »Du musst dich nie betrinken,« sagte sie eifrig. »Betrinken wie der alte Kaspers, das ist schrecklich. Er ist dann ein Tier, er lallt, er wankt, er liegt im Strassenschmutz. Wenn die Kaspers ihn aufhebt, will ihn nach Hause bringen, dann stösst er um sich und schlägt auf sie ein. Dass Maria darüber lachen kann, das begreife ich nicht. So etwas ist doch entsetzlich.«

»Ich werde mich nicht betrinken, Mutter.«

Nein, das glaubte sie auch nicht. Aber die Mädchen, wie würde es mit den Mädchen sein? Alle jungen Leute sollten doch irgend etwas mit einem Mädchen haben — ihr Hans-Helmut hatte keinen Vater mehr — sie hatte schon immer einmal mit ihm darüber sprechen wollen. Jetzt war vielleicht die rechte Stunde dazu. Zaghaft stammelte sie: »Du wirst dich vielleicht verlieben. Dein Vater war auch ein paarmal verliebt — oh, ich weiss es wohl, in Heidelberg, sie hiess Amalie Krauss — und in Bonn in ein Lieschen Lennertz. Verlieben, ja — aber du wirst nie etwas Unrechtes, Unreines tun, nicht wahr, mein Sohn? Es ängstigt mich. Augenblicke der Versuchung können kommen. Ich lebe hier so still, so weltfern, aber man weiss es doch, wie die Welt ist — versprich es mir, mein Kind, dass du rein bleibst, so rein, wie du jetzt vor mir sitzest, rein an Seele und Leib. Bleibe so, mein Sohn, bleibe so, damit ich ruhig sein kann, ruhig schlafen in den Nächten — und wenn ich vielleicht sterben müsste, dass ich ruhig sterben kann!«

Ihre Stimme war drängender geworden, die eigenen Worte hatten sie erregt, ein flackerndes Rot brannte auf ihren Wangen, ihre Augen hingen an den Lippen des Sohnes. Es wurde ihr so schwer, über so etwas mit ihm zu sprechen, aber sie musste ja. »Hans-Helmut, versprich es mir!« Sie hielt ihre Hand hin: »Gib mir die Hand darauf!«

Einen Augenblick zögerte er. Etwas in ihm wollte sich aufbäumen gegen dieses Versprechen: Unrechtes, Unreines?! Wünsche, Verlangen, Gedanken waren die schon unrecht, unrein —?! Und hastig, als wollte er sich vor sich selber schützen, legte er seine Hand in die Hand der Mutter: »Mutter, ja, ich verspreche es dir!«

Sie lächelte glücklich — wie weich sein Gesicht jetzt auf einmal war, so kinderrein.

Der einsame Mann

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