Читать книгу Der einsame Mann - Clara Viebig - Страница 6
Viertes Kapitel
ОглавлениеIn der stillen Bucht zwischen den Kribben waren die Schiffer vor Anker gegangen. So grün war es ringsum, dass die Gesichter bleich waren vor grünem Licht. Grün die Weinberge im hellen Maiengrün der ersten treibenden Reben, grün der Buchenwald, der sie oben bekrönte, grün die Obstbäume in den Seitentälern des Flusses — alles Blühen rot und weiss war schon von ihnen abgefallen — grün die Rasenstücke, die, saftig wie Matten, sich zwischen Fels und Wasser einschieben, und grün die beiden Landzungen, die, durch Mauerwerk gestützt, von Weidengebüsch eingefasst, den Lauf des Stromes teilen. Wenn der Fluss auch Wellen trieb und aufgerührt war vom Sturm, zwischen den Kribben war es immer still und die Flut glatt; hier spielten die Fische ihr Liebesspiel und setzten ihre Brut ab zur Laichzeit. Hier war für beschauliches Angeln der beste Platz.
Kaspers Hanni hatte Wasserstiefel an, in denen stieg er gleich aus dem Kahn, watete ein Stück weit ab, ins Wasser bis an den Bauch, blieb da stehen und warf seine Angel aus. Wenn das Glück gut war, fing er gleich ein paar junge Salme, die traten um diese Zeit hier in den Fluss ein. Peter, der zweite Bruder, machte es ihm nach, nur hatte er keine Wasserstiefel, er watete mit blossen Beinen, die Hosen aufgekrempt bis zum Bauch. Unbeweglich wie Steinbilder, als lebe kein Atem in ihnen, so standen die zwei, der eine links vom Nachen, der andere rechts, nur auf lautes Rufen noch zu erreichen. Auch Vater Kaspers fing an zu angeln, aber er scheute alles Nasse, das nicht durch die Gurgel floss. Er langte bald nach der Flasche, die er im Rucksack unter der Bank liegen hatte, stieg aus dem Nachen, schlenderte mit seiner Flasche vorn an die äusserste Spitze der Kribbe und streckte sich da lang ins Gras; die Weidenbüsche schlugen über ihm zusammen. Das nannte er fischen gehen.
Der Nachen wiegte leis hin und her, schaukelte sanft die morschen Planken, unten an seinem Kiel spielten silberbeschuppte Fischchen, flitzten geschwind hin und her und schnappten lautlos mit runden Mäulern. Kleine Blasen stiegen wie silberne Perlen zur Oberfläche und zergingen da.
Hans-Helmut vorn in der Spitze des Kahns hatte sich weit übergebeugt, das Strohhütchen sass ihm im Nacken; er hätte sie greifen mögen, die silbernen flitzenden Dinger.
Aber Maria sagte: »Die sind ja nix wert. Weissfischcher. Nix wie Schuppen und Gräten.« Sie sass am Steuer, hatte eine Weidengerte abgerissen, tippte damit ins Wasser und liess die Tropfen rinnen. Sie langweilte sich, Hans-Helmut war ihr zu stumm; der glaubte wohl, er müsste stumm sein wie die Fische, wenn man die fangen wollte. Wenn einer anbeissen wollte, biss der auch so an. Aber schön war es hier, wunderschön wohlig, sie liebte es, im Nachen zu sitzen, sich wiegen zu lassen. Aber ein anderer müsste dabei sein, kein so dummer Jung’. »Hänschen, komm her!«
Vorsichtig gehend, dass der Kahn nicht schwankte, und mit den ausgestreckten Armen balancierend, kam er zu ihr.
Sie drückte ihn vor sich in die Knie. »Du bist wie’n klein Mädche, ich will dich frisieren.« Mit den Fingern scheitelte sie ihm das üppige Haar, das seidenweich lang hing und wohl gepflegt war von der Mutter. Sie wollte ihm zwei Zöpfchen flechten, aber das litt er nicht: nein, er war kein Mädchen! Aber er musste es leiden, dass sie von der mit schmalen grünen Blättchen besetzten Weidengerte ein geschicktes Gebinde wand und ihm das auf’s Haar setzte. Wunderschön, wie ein Dichterjüngling unter griechischem Lorbeer sah das Knabenhaupt aus unter dem fremdartigen Kranz. Er war ihr selber so wohlgefällig, dass sie ihn küsste. Das hatte sie noch niemals getan, ihn nur wohl einmal freundschaftlich verstohlen gepufft.
Es durchfuhr ihn ein Schreck. Noch nie hatte ihn ein Mädchen geküsst, gar niemand, nur seine Mutter. Selbst der Oberst gab ihm keinen Kuss, der legte nur die Hand auf sein Haar oder streichelte ihm die Wange. Aber dieser Kuss, der war seltsam! Hans-Helmut spürte ihn. Verwirrt sprang er auf, dass der Kahn sich tief auf die Seite legte, ein Schwall Wasser schwuppte herein und lief auf seine Füsse. »Das sollst du nicht,« sagte er zornig, riss auch den Kranz herunter, warf ihn ins Wasser und stülpte sich seinen Strohhut auf. »Ich bin kein kleines Kind!«
Sie lachte: »Och, du bist dumm!« Und dann fing sie an zu singen:
»Hänschen klein, ganz allein
ging wohl in den Wald hinein.
Rock und Hut stand ihm gut —«
»Lass das dumme Lied!« Er war ingrimmig und verbiss sich die Tränen. Wieviel schöner hatte er sich das heute gedacht! Er hatte geglaubt, sie würden Fische fangen, viele, viele hundert Fische, bis an den Rand war der Nachen voll von ihnen; auf die Bänke musste man klettern, die Füsse hochziehen, dass man nicht hineintrat in das Gezappel. Von einem Fischzug Petri hatte er geträumt — ‚und die Fischer fingen so viele Fische, dass ihre Netze zerrissen‘ — nun war es so ganz anders. Seine Augen glitten suchend umher. Augen eines Kindes, das einsam aufwächst in einem Haus abseits, ohne Gleichaltrige, immer zwischen älteren Leuten — Augen altklug, ohne klug zu sein.
Maria fing an, ihre Bluse auszuziehen, ihren Kleiderrock liess sie fallen. Nun stand sie im kurzen Unterröckchen, die Arme nackt; auch ihre Schuhe streifte sie ab und die Strümpfe. »So. Jetzt bad ich. Da hinter dem Weidenbusch, da lass ich mein’ Unterrock und mein Hemd.« Sie zeigte nach einem Gebüsch, das nicht fern lag. »Du darfst aber nit hinkucken, du!« Sie drohte ihm lachend.
Warum drohte sie ihm? Es fiel ihm ja gar nicht ein, hinzusehen. Der Knabe blickte verwundert.
»Ach ihr!« Sie tunkte den Fuss über dem Kahnrand ins Wasser und schleuderte ihm mit der Fussspitze einen ganzen Sprühregen ins Gesicht. »Euch ist ja nit zu trauen, euch Jungens!« Sie lachte wieder. Und dann war sie mit einem gewandten Sprung aus dem Nachen und dann hinter dem Weidenbusch.
Unwillkürlich folgten ihr seine Blicke, ihr Lachen zog ihn. Jetzt streckte sich ein nackter Arm über den Weidenbusch, ein Hemd flatterte daran wie eine Flagge: »Hänschen klein, ganz allein!« Und dann winkte der Arm mit der Flagge, winkte, winkte. Gleich darauf ein Gelächter und Platschen ins Wasser. Ah, jetzt war sie hineingesprungen!
Ob sie nun wohl schwamm wie die Nixe im Wasser? Es zwang ihn förmlich vom Sitz auf, er reckte den Hals: konnte er sie so sehen? Oh, er sollte ja nicht hinsehen, sollte nicht — aber sie hatte doch gewinkt — hatte sie ihm denn nicht gewinkt?
Langsam setzte sich Hans-Helmut nieder, widerwillig, er fühlte eine seltsame Neugier. So gern, ach, so gern hätte er einmal hinter den Busch gesehen, nur einen Augenblick! Aber zugleich war eine Scheu in ihm, die ihn zwang, sein errötendes Gesicht wegzuwenden ganz nach der andern Richtung, dahin, wo der Hanni mit seinen Wasserstiefeln unbeweglich bis an den Bauch im Fluss stand. Er starrte nach jenem und rührte sich nicht, starrte, aber ohne den Hanni zu sehen. Er sah eigentlich gar nichts. Seine starre Pupille bewegte sich nicht, bis das Auge das nicht länger ertrug und sich mit Tränen füllte. Alles, der Himmel, das Wasser, Ufer und Berge, alles Grün, verschwamm in einem grauen wolkigen Nebel. Er war wie blind geworden, er sah nur innerlich. Und innerlich sah er die Nixe.
Ein Plätschern schreckte ihn auf, er fuhr zusammen. Zwei Hände fassten plötzlich über den Kahnrand. Er stiess einen Schrei des Entsetzens aus — jetzt, jetzt sah er sie wirklich! Ihr Haar schwamm lang hinter ihr drein, ihr feuchtes Gesicht lachte ihn an, ihre weissen Schultern hoben sich höher aus dem Wasser empor, er sah ihre Brust, ihre Arme langten neckend nach ihm — da verlor er das Gleichgewicht. Vornüber, über die Schwimmende weg, stürzte er in das Wasser.
Wie eine sich schaukelnde Blume trieb sein Strohhütchen langsam dahin; von Hans-Helmut selber war nichts zu sehen.
Konnte der dumme Junge denn nicht schwimmen? Wie ein Fisch, blitzschnell, tauchte Maria unter — nichts. Sie tauchte wieder, tiefer, sehr tief — da hatte sie ihn.
Noch war er nicht ohne Besinnung, aber er rührte sich nicht, um sich selber zu helfen. Mit Kraft hob sie ihn empor, sie schob ihn über den Kahnrand.
Da lag er nun auf dem Boden des Nachens, leichenblass, die Augen weit aufgerissen. Sie kniete bei ihm: »Hans-Helmut! Hänschen!« Sie rüttelte ihn.
Das Wasser — die Nixe — das nackte Mädchen — er stiess einen tiefen Seufzer aus — das war zuviel. Ohnmächtig schloss er die Augen.
* * *
Wenn Maria ihn damals nicht gerettet hätte, wäre er sicher ertrunken. Ein Gefühl unauslöschlicher Dankbarkeit lebte seither in der Mutter.
Der Oberst konnte nicht recht begreifen: warum war der Junge denn nicht geschwommen? Er konnte doch schwimmen, er brauchte doch nicht gleich unterzugehen wie eine bleierne Ente. Wenn man in Gefahr ist, regt man seine Kräfte. Hans-Helmut hatte sie nicht geregt. Es war das erstemal, dass er den Knaben anfuhr: »Warum hast du denn nicht gleich zu schwimmen angefangen, warum nicht?«
Keine Antwort.
»Dass man ins Wasser fällt, das kann einem schon mal passieren, man taucht aber wieder auf, und man macht ganz von selber die Schwimmbewegungen. Zudem war es ja dicht beim Kahn, du brauchtest nur die Hand auszustrecken. Dummer Junge, warum tatest du das denn nicht?«
»Ich weiss nicht.« Das war alles, was der Knabe erwiderte.
»Er muss einen Krampf bekommen haben, oder er war gleich ohnmächtig,« schluchzte die Mutter.
Die Kaspers hatten ihn ihr, blass wie eine Leiche, nach Haus gebracht. In den tropfnassen Kleidern schlotterte er neben dem Alten her. Die Söhne waren nicht mitgekommen, die liessen sich nicht beim Fischen stören, aber Maria war voraufgelaufen. Das Hütchen des Knaben hatten sie auch aufgefischt, das schlenkerte sie nun hin und her beim Laufen, damit es trocknen sollte, und winkte mit ihm schon von weitem. Wie eine Ahnung kommenden Unheils hatte es Frau Doktor ergriffen: die Maria schon wieder da?! Um Gottes willen, sie waren ja erst eine Stunde fort, warum kam die gerannt?!
Das atemlose Mädchen stotterte und stockte, dazwischen schluckte es wohl einmal auf, dass es halb wie Weinen, halb wie Lachen klang. Zu Atem gekommen, erzählte sie dann flüssig: über Bord war er gefallen, als er nach den Fischen unten im Wasser geguckt, sich zu tief übergebeugt hatte, der Kahn war kipplich. Gleich war sie ihm nachgesprungen, bei den Haaren hatte sie ihn zu fassen gekriegt, aber er hatte schon ordentlich Wasser geschluckt, die neuen Schaftstiefel waren schuld, die waren gleich voll von Wasser, die hatten ihn niedergezogen. Nein, sie war nicht schuld, sie hatte getan, was sie konnte.
Ja, das hatte sie auch, oh, wie sollte sie es ihr je genug danken! Mit Tränen fiel die Mutter Maria Kaspers um den Hals und küsste sie.
Man hatte Hans-Helmut zu Bett gebracht. An seinem Bett sassen dann die Mutter und der Oberst, sie sprachen liebreich zu ihm und beruhigend, aber er hörte sie nicht. Er sah sie auch nicht. Den bleichen Kopf hin und her drehend, die Augen übergross offen, sah er nur die Nixe. Er sah sie im Sonnenlicht, er sah sie im Mondlicht, er sah sie auch hier, hier in der Stube — da, da war sie! Er hatte einen Schrei ausgestossen, dass die beiden an seinem Bett zusammenfuhren.
Nun waren viele Monate seitdem vergangen. Der Sommer war gewesen und der Winter auch. Jetzt war es wiederum Sommer. In den Nächten, in denen die Mutter fest schlief, einen Schlaf der Erschöpfung, denn die Hausarbeit wurde ihr jetzt oft so seltsam schwer, stand der Knabe auf. In dem Nachtkittel, der ihm zu kurz geworden war — was ihm voriges Jahr noch bis an die Knöchel gereicht hatte, reichte ihm jetzt nur bis ans Knie — schlich er nebenan ins Wohnzimmer. Hier, hier war er allein. Er stand mit nackten Füssen auf den Dielen, die waren nicht kalt, und doch fühlte er sie kühl an den Sohlen, und das tat ihm wohl. Seltsame Schauer durchrannen ihn. Er starrte auf die Lichter, die der Mond mit bleichen Fingern durch das Fenster legte, auf die Dielen, auf den Teppich vorm Sofa, auf die Tischdecke, und die das Fensterkreuz abmalten, dass es wie hingeworfen mitten in der Stube lag. War nicht ein Plätschern in der Nacht, ein geheimnisvolles Rauschen?
Er schlich ans Fenster: da war der Fluss. Wenn er doch einem Menschen erzählen könnte, was er dazumal gesehen hatte! Oh, das würde so gut tun. Sollte er’s der Mutter erzählen? Nein. Dem Baron? Auch nein. Die waren ja beide so alt, die verstanden das gar nicht. Er schämte sich auch zu sehr. Früher, als er noch so klein war, dass ihm dieser Nachtkittel schleppte, schämte er sich nie. Aber jetzt! Ein Zittern überfiel ihn, er kroch erschauernd in sich zusammen. Wenn er es ihnen erzählen würde, dann liessen sie sicher die Maria nicht mehr ins Haus kommen — nein, und das wollte er nicht. Und die hatte ihm doch auch das Leben gerettet. Und wenn er einmal mit der Maria selber darüber spräche? Sehr verständig wäre sie und klug, sagte die Mutter. Nein, mit der nicht, gerade mit der nicht. Sie sprach ja auch mit ihm niemals darüber; die hatte es ganz vergessen, dachte gar nicht mehr daran. Ja, er musste das, was er fühlte, ganz in sich selber verschliessen, keiner durfte es ahnen. Es war eine Schande, dass er die Nixe nicht vergessen konnte, und dass er sie immer noch sah, nackt aus dem Wasser steigen und mit Händen nach ihm langen, dass es ihn so überkam, dass er stürzte, ihr, nur ihr entgegen. Sollte, konnte, durfte er das jemandem sagen? Er presste die Lippen zusammen, wie damals, als man ihm gesagt hatte: »Erzähle, wie es kam!« Nein, er erzählte nichts, er würde es nie erzählen, immer schweigen davon. Aber er war ein schlechter Junge, dass er Gedanken nicht loswerden konnte, die sich daran knüpften. Sie waren alle hässlich. Waren sie denn wirklich hässlich? Waren sie nicht wie die Rosen draussen an der Hecke, die einem die Hände zerrissen mit ihren vielen Dornen, und die doch so schön waren und dufteten? Er stampfte mit den nackten Füssen auf: fort mit den Gedanken! Er wollte sie nicht haben. Oh, wieviel glücklicher war er früher gewesen! Wenn dann die Mutter sich im Bett umdrehte und die Kissen raschelten, dann hatte er sich immer so geborgen gefühlt, ihm war behaglich wie dem jungen Vogel im Nest; jetzt störte ihn selbst ihr Atmen. Oh, allein sein, allein!
Er seufzte tief, wie einer, der körperliche Qual leidet, Schweiss trat ihm auf die Stirn. Und dann warf er sich plötzlich auf die Knie, mitten hinein in das Mondlicht, das wie eine weisse Lache am Fussboden schwamm, und streckte die Arme empor und fing an zu beten. Alle Abend betete die Mutter mit ihm, sie hatte es getan von seinem ersten Lallen an, und sie tat es noch immer. Wie kindisch hatte er’s doch gesprochen, wie ohne Gedanken: »Führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Übel!« In der Schule der Religionslehrer sagte: »Von dem Bösen —« nein, von dem »Übel«, das war richtiger, »erlöse uns von dem Übel«. Es war eine Krankheit, eine schwere Krankheit, vererbt durch Jahrtausende, von allem Anbeginn an, als nur erst Adam und Eva da waren und sonst niemand.
»Erlöse mich von dem Übel!« Hans-Helmuts Knabenhaupt war zurückgeworfen, sein Leib bäumte sich in einer Qual, deren Schrecknisse so gross waren, dass sie fast Beseligungen wurden. Und doch waren sie schrecklich. Er stöhnte laut.
»Hans-Helmut!«
Im Nebenzimmer rührte sich’s. Das war die Stimme der Mutter: »Wo bist du?« Es klang ängstlich. Die Frau war erwacht. Aufgeschreckt durch Unbestimmtes, tastete sie nach dem Bett neben sich: leer. War dem Knaben nicht wohl? Sie rief laut seinen Namen.
Das brachte ihn zu sich. Zitternd wie ein feiger Verbrecher stand er für Augenblicke. Dann stürzte er ins Schlafzimmer zurück, zog sich die Decke bis an die Stirn und wühlte sich, von Frost geschüttelt, tief ein in die Kissen. Er log etwas, was die Mutter beruhigte. Er hatte nicht schlafen können, es war so drückend eng in dem kleinen Zimmer, nebenan hatte er das Fenster geöffnet, die Nacht war schön, vom Fluss kam Kühlung — ah, Luft, Luft! Die hatte ihm wohlgetan.
Hans-Helmut hatte recht, es war auch zu eng in dem kleinen Zimmer. Frau Doktor kam nicht der Gedanke, dass es nur für Mutter und Sohn zu eng war; sie hatte vergessen, dass es für sie und ihren Mann nicht eng gewesen war. Nun sollte Hans-Helmut sein eigenes Zimmer bekommen. Der Oberst unterstützte sie darin. Er hatte es längst nicht richtig gefunden, dass sie den Knaben noch bei sich behielt wie ein kleines Kind. Nun wollte er gern sein Wohnzimmer hergeben, oder es war vielleicht ebenso gut, er selber richtete sich dort das Schlafzimmer ein, und Hans-Helmut bezog sein Stübchen nach dem Garten. Das Haus war klein, man musste sich einschachteln. Von der Mansarde oben, an die Hans-Helmut mit einem gewissen Verlangen dachte, denn dort war man so ganz allein, so schön weit weg, riet er ab. Wie lange noch, und man musste eine ständige Dienerin ins Haus nehmen? Der Oberst sah es, wie schwer Frau Doktor die Arbeit fiel, sie würde die nicht lange mehr ohne Hilfe leisten können.
Es war ein seltsamer Abend für die Frau, als sie zum erstenmal ganz allein schlief. Seit ihrem Hochzeitsabend hatte sie das nicht mehr getan. Erst ihr lebender Gatte, dann ihr toter Gatte — bis sie ihn in den Sarg legten, war er neben ihr geblieben — dann das Kind. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach dem anderen Bett, fort war es, leer der Platz, wo es gestanden hatte ganz leer. So gross das Zimmer, viel zu gross für einen einzelnen Menschen. Keine geliebten Atemzüge mehr, so sehr sie auch lauschte. Alles totenstill. Einsam war sie, ganz schreckensvoll einsam. Ihr wurde weh ums Herz. Nun fühlte sie noch einmal den Verlust ihres Mannes, glaubte den fast stärker noch als damals zu fühlen, nun, da sie den Knaben hatte hergeben müssen, ihr liebes, ihr kleines Kind. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen.
Als sie Hans-Helmut am Morgen wieder sah, kam er ihr viel grösser vor, viel erwachsener, sie mass ihn mit ganz erstaunten Augen. Hatte sie denn gar nicht bemerkt, wie aufgeschossen er war? Seine mageren Arme streckten sich lang aus den Ärmeln, der Hals war auch lang, sehnig und hager hob er sich aus dem Blusenausschnitt.
Der Baron fing ihren musternden Blick auf. »Ja, ja,« sagte er gutmütig, »aus Kindern werden Leute. Er wird nicht mehr lange im Matrosenanzug gehen können. Der steht den jungen Leuten dann auf einmal nicht mehr.«
Wie recht er hatte! Ach ja, er hatte eigentlich immer recht. Wenn sie schon eher auf ihn gehört, sich in Gedanken darauf vorbereitet hätte, wäre ihr vielleicht dieser Abschied — denn ein Abschied war es — jetzt nicht so schwer aufs Herz gefallen. Ob sie unter ihres Mannes Kleidern vielleicht etwas herausfand, das sie für Hans-Helmut zurechtmachen lassen konnte? Er konnte wirklich nicht mehr in dem kurzhosigen blauen Matrosenanzug gehen, in dem er früher so hübsch ausgesehen hatte mit seinem weissen weichen Nacken und den drallen Kinderbeinen. Langsam stieg Frau Doktor hinauf in die Mansarde, wo sie in einer grossen Truhe die Kleidungsstücke ihres verstorbenen Mannes aufbewahrte. Einmal in jedem Frühjahr wurde an die gerührt, die Kleider wurden geklopft, gebürstet, mit neuem Mottenpulver bestreut; nun musste sie ausser der Zeit darin stöbern.
Stück für Stück nahm sie heraus und hängte es über Stühle. Fast schüchtern fasste sie die Sachen an, mit schonenden, sorgsamen Fingern. Dass nur ja nichts daran kam! Unmöglich konnte sie hier an seinem guten Anzug, den er Sonntags getragen hatte und immer, wenn er mit ihr ausging, etwas schneiden und ändern lassen! Der Anzug war dunkelgrau mit einem stricknadeldünnen kleinen weissen Streifen — nein, an den wurde noch nicht gerührt. Später konnte ihn Hans-Helmut unverändert tragen, genau wie er war. Diese kurze grünliche Joppe hier, die war vielleicht für den Knaben möglich. Auch die Hose dazu. Oh, wieviel glückliche Stunden hatte ihr Mann in diesem Anzug verlebt! Viele, viele Stunden war er in dem neben ihr hergewandert, durch die Berge, durch die Wälder, durch die ganze schöne Gegend ringsum, durch die Natur, die er so liebte. Damals konnte sie ja noch gut wandern; er hatte immer gesagt: »Meine Frau ist gar nicht müde zu kriegen.« Ja, damals, damals! Sie stiess einen Seufzer aus. Und dann atmete sie gierig, sie spürte ihn förmlich, den Geruch der Glückseligkeit, der von diesem Anzug aufstieg. Den Kampherduft roch sie nicht mehr, nur freie Luft des höchsten Berges, auf den sie damals gestiegen waren, auf dessen Gipfel sie sassen, dicht nebeneinander im grünen Gras, Ausblick hielten über weite Höhen, auf deren Scheitel Dörfer sich sonnten mit bunten Feldern rundum. Sahen hinab in Täler voll Buchen und Tannen, ein Wildbach durch schlängelte sie mit weissblinkendem Band, sahen weiter hinaus, ganz weit in selige blaue Fernen, wo am Fluss das Heim ihnen stand, wo sie ihr Glück gegründet hatten so felsenfest. Und diese Joppe sollte Hans-Helmut nun tragen?! Nur um weniges wohl brauchte sie enger gemacht zu werden, ihrem Mann war sie knapp gewesen und er war nicht gross gewesen und noch jünglingsschlank. Mit beiden Händen fasste die Witwe die Joppe, hielt sie sich vors Gesicht und weinte hinein.
Dann kramte sie weiter; da war noch allerlei. Sein schwarzer Anzug, der feierliche, den er angehabt hatte zur Trauung, der war nicht dabei, in dem war er getragen worden zur letzten Feier. Doch da war ja noch das Samtjacket! Sie hatte es ihm geschenkt zur letzten Weihnacht, er fand es so schön, ein Samtjacket in der Sprechstunde; er hatte es kaum mehr getragen. Ob sie das wohl dem Baron anbieten durfte? Er trug immer dieselbe alte verschlissene Litewka. Für sich selber mochte er nicht gern etwas ausgeben. Wenn sie vorwurfsvoll sagte: »Aber Herr Baron, Ihre Hemden, Ihre Strümpfe! Sie müssten wohl bald daran denken, einiges zu erneuern,« pflegte er etwas unwirsch zu werden: »Sind für mich lange gut.« Sie ahnte, dass er sparte — sparte für Hans-Helmut. Hatte er doch erst neulich gesagt: »Das wird viel Geld kosten, wenn der Junge zur Universität kommt. Aber wir werden’s bis dahin schon beisammen haben — nicht wahr, Hans-Hänschen?« Er pflegte immer Hans-Hänschen zu sagen, wenn er guter Laune war. Er hatte dabei dem Knaben den Arm um die Schultern gelegt und ihn an sich gezogen. O Gott, wie gut war dieser Mann! Und Hilde Arndt weinte wieder in einer seltsamen Erschütterung, von der sie nicht wusste, ob sie dem Toten galt oder dem Lebenden. — — —
Als Hans-Helmut zum erstenmal in seines Vaters Anzug ging, kam er sich plötzlich um vieles älter vor. Dass es den kleinen Jungen auf der Strasse Spass machte, den Kreisel zu schlagen, solch ein kindisches Spiel! Aber als ihm so ein Kreisel, ein buntes Ding mit einem blanken Messingnagel darin, vor den Füssen tanzte, dann umfiel, und ein kleiner Knirps sich mit ungeschickten Peitschenhieben bemühte, ihn zu neuem Tanzen anzutreiben, hätte er am liebsten dem Kind die Peitsche aus der Hand genommen und gezeigt: so macht man’s. —
»Jesses, wat wächst der Jung!« sagte die Kaspers. Sie kam noch immer ins Haus, aber sie war unlustig zur Arbeit. Ihr Gesicht, das einstmals recht hübsch gewesen sein mochte, war auseinandergelaufen wie ein mit zuviel Hefe gebackener Kuchenfladen. Das Doppelkinn hing ihr auf die Brust und die Brust auf den Bauch. Nachbarinnen, die ihr nicht wohlgesinnt waren, behaupteten, sie leiste ihrem Mann im Trinken Gesellschaft. Der war öfter betrunken als nüchtern. Hanni und Peter machten auch nicht viel Freude, sie waren ihrer Wege gegangen, liessen die Eltern im Stich. Von ihrem Mann und den Söhnen erzählte mit vielen Seufzern und lauter Stimme die Kaspers täglich der Frau Doktor in der Küche. Ja, wenn die Maria nicht wäre, dann liesse auch sie alles im Stich, sie ginge in die Mosel, da wo die am tiefsten war. Man hatte sich sein ganzes Leben geplagt und hatte nun doch nichts als Verdruss. Aber um der Maria willen musste sie ja leben bleiben, an der würde sie noch viel Freude haben.
Ja, das würde sie auch! Frau Doktor sagte das nicht nur so hin zum Trost, sie war vollkommen davon überzeugt.
Man musste Maria Kaspers waschen sehen, dann wusste man, dass sie etwas leisten konnte. Ein Holzbrettchen unter den Knien, hochgeschürzt, die Arme bis zur Schulter nackt, kniete sie am Flussrand und bearbeitete die Wäsche mit Bürste und Holzschlegel; bürstete, klopfte, schrappte, schlug zu mit so viel Kraft und Fleiss, dass sie kaum Seife brauchte, die Wäsche wurde blütenweiss. Es war oft recht kühl; vom kalten Flusswasser durchnässt bis auf die Knochen wurden die Wäscherinnen, aber wenn die anderen auch mit den Zähnen klapperten, der jungen Kaspers war es warm. Sie war gesund, und immer war sie guter Dinge.
»Meine Tochter hat’n Hümör, den is nit zu bezahle,« sagte die Alte. »Und wat die für Anträg’ hat! Von mehr als einem, der viel Geld hat!« Näheres über die Anträge erzählte sie nicht. Aber Frau Doktor glaubte es gern. Die Maria war eine hübsche Person und dabei von soviel Tüchtigkeit. Sie hatte ein grosses Wohlgefallen an Maria Kaspers. Das war ihr schon von damals geblieben, als das Mädchen Hans-Helmut aus dem Wasser gezogen hatte. »Mit eigener Lebensgefahr,« wie die alte Kaspers nie verfehlte hinzuzusetzen.
Als Hans-Helmut heute aus der Schule kam, sah er Maria Kaspers. Er hatte sie lange nicht gesehen. Die letzten Häuser des Städtchens lagen hinter ihm, das freie Ufer begann, und da auf dem Holzsteg, der schmal und luftig weit auf den Wasserspiegel hinausragte, kniete sie und spülte Wäsche. Andere Frauen waren nicht bei ihr. Aber ein junger Mann stand auf dem Steg. Die Hände in den Hosentaschen, den Hut im Genick stand er und sah auf sie nieder. Er lachte, und sie lachte auch. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, aber Hans-Helmut kannte ihr Lachen am Klang. Was sprachen die? Er horchte hin, aber er verstand nichts. Sie flüsterten.
Der Knabe schlich näher, hinter einem Baum blieb er stehen. Nun hob sie den Kopf, jetzt sah er ihr Gesicht, es lachte über und über, und plötzlich — der junge Mann beugte sich gerade zu ihr — schlug sie mit einem Stück ihrer nassen Wäsche nach ihm. Das schien ihn aber weiter nicht zu bekümmern, mit einer Hand fing er den nassen Lappen auf und hielt ihn fest, die andere legte er ihr ins Genick, bückte sich wieder zu ihr nieder und — weiter sah Hans-Helmut nichts.
Er rannte fort. Wie ein eifersüchtiger Stich war’s ihm durchs Herz gefahren. Oh, diese Dreistigkeit! Der Freche! Dass er doch ein Mann wäre und den da züchtigen könnte für seine Zudringlichkeit! Aber sah Maria es auch als Zudringlichkeit an und war böse darüber?
Die Mutter sah heute unter der Sekundanermütze ein blasses Gesicht. Und essen mochte der Junge heute auch nicht. Am Abend ging er früh schlafen. Ja, er war müde, das war keine Lüge, und die Müdigkeit kam von seiner Traurigkeit. Als er jetzt am Fenster stand und sich hinabbeugte in den dunklen kleinen Garten, aus dem der Duft der Geissblattlaube stark, fast beklemmend stark aufstieg, ballte er die Fäuste. Oh, die Maria! Überhaupt die Mädchen! Sie waren alle nichts wert. Vom ersten besten liessen sie sich abküssen. Die Schulkameraden prahlten damit, wie viele Mädchen sie schon geküsst hätten, und sie hatten auch noch mehr erzählt, aber er hatte nie darauf hingehört, er hatte ihnen ja nicht geglaubt. Aber nun musste er’s doch wohl glauben. Oh, es ging eigentlich gar nicht schön zu in der Welt!
Nicht schön —?! Wie ein Lachen ging es plötzlich durch die Nacht. Oh, doch schön! Eine starke Duftwelle stieg zu Hans-Helmut auf, schwere Luft umfing ihn heiss, sein Kopf glühte; er befühlte sich die Stirn, sie schmerzte. Schön wohl, aber nicht rein. Gar nicht rein. Und es müsste alles doch eigentlich rein sein im Leben, so rein wie in diesem kleinen Haus, in diesen Stuben, in denen seine Mutter still aus und ein ging und mit sachten Händen räumte, dass alles immer wohlgeordnet war. Man musste eine Scheu haben, in dieses Haus, in diese Stuben etwas hineinzutragen, das nicht wohlgeordnet, das nicht sauber war. Seine liebe Mutter! Manchmal war es ihm, als müsste er sich auf ihre Hand beugen und die küssen wie in heiliger Scheu. Nein, er wollte ihr auch niemals Kummer machen, nie etwas tun, das nicht hineinpasste in ihre Stuben. Der Oberst dachte gewiss genau so wie er, wenn der mit der Mutter sprach, dann dämpfte er immer die Stimme, sprach ganz mild, nicht so knarrig wie gewöhnlich. Alles Hässliche blieb draussen. Und so würde es immer sein, musste so immer sein und bleiben! Der Knabe sprach es zu sich selber wie mit einem Schwur. Seine arme Mutter! Der Mann, den sie so lieb gehabt hatte, der war ihr so bald genommen worden, aber der Sohn, der durfte ihr nicht genommen werden, durch nichts — nein, durch nichts!
Abwehrend scheuchte Hans-Helmut mit der Hand hinein in die schwersüsse Luft des duftgeschwängerten Gartens. Fort mit den Gedanken, die sich nicht gehörten! Er wollte rein sein und rein bleiben; er musste es bleiben. Aber war es nicht schwer? Ja, so schwer! Mit einem Seufzer rang der Knabe die Hände ineinander, und dann begann er im Zimmer auf und ab zu wandern, getrieben von etwas, das ihn nicht rasten und ruhen liess.
Eine Unke rief am Berg, die sass da unter einem Stein und liess ihre Glöckchenstimme erklingen. Hans-Helmut zählte den Unkenruf; immer »Unk« und wieder »Unk«, aber auch diese Eintönigkeit stillte nicht seine Erregung. Die Stunden vergingen. Es mochte nach Mitternacht sein.
Da öffnete sich leise die Tür des Zimmers, der Oberst streckte vorsichtig seinen Kopf herein. Er hatte etwas gehört, etwas Unbestimmtes, das ihn aufgeschreckt hatte aus erstem Schlaf. Er hatte sich aufgesetzt und gelauscht: horch, immer Tappen, verstohlene Tritte!
»Wer da?« Seine erhobene Hand hielt eine Pistole. Mit einem Laut der Verwunderung und einem Lachen liess er sie jetzt sinken: »Junge, du?«
Wie ein ertappter Verbrecher stand der Knabe. Mit bleichem Gesicht, die Augen weit aufgerissen, starrte er den Eintretenden an.
Der Oberst zog leise die Tür hinter sich ins Schloss. »Was hast du, mein Junge?«
Hans-Helmut stand noch immer erschrocken. Was sollte er sagen, damit er das nicht verriet, das, was er nicht aussprechen konnte, was ihm selber unerklärlich war und was doch da war, flatternd wie eine Fledermaus aus dunklen Ecken. »Ich konnte nicht schlafen,« stiess er tonlos heraus. Er stand da, angezogen noch wie am Tag, nichts aufgeknöpft, nichts von sich getan, das Bett wohl aufgeschlagen, aber das Kissen ganz glatt, man sah es, er hatte noch nicht darin gelegen. Er fühlte, das Auge des Mannes ruhte forschend auf ihm. Er versuchte ein Stottern. Da legte sich eine Hand fest auf seine Schulter.
»Lass nur, mein Sohn, lass!« Es war dem Oberst plötzlich, als sähen seine eben noch verschlafenen Augen ganz hell, als würde vor ihnen ein Vorhang weggezogen; sie sahen jetzt, was sie bisher noch nicht gesehen hatten: der da wurde jetzt gross. Jetzt kamen die Stunden, die jeder durchmachen muss, wenn die Kinderschuhe zu eng geworden sind, wenn das Blut sich regt, wenn im jungen Baum der Saft anfängt zu steigen. Ihm lag jene Zeit schon so weit, aber er erinnerte sich ihrer heute, jetzt, auf einmal. Er wusste wieder, wie so einem Jungen zumut ist, der noch nicht weiss: wohin, weswegen?!
»Du kannst nicht schlafen,« sagte er — seine Stimme knarrte nicht, sie war mild — »ich auch nicht. Komm, Hans-Hänschen« — er klopfte dem verwirrt Dastehenden auf die Schulter — »wir sitzen noch ein bisschen zusammen. Ich erzähle dir von mir was, du erzählst mir von dir was. Das bringt uns dann beide zur Ruh.« Den Widerstrebenden und doch gern Folgenden zog er neben sich.
Da sassen sie nun beide auf dem Bettrand, der Alte und der Junge. Und der Oberst redete von Gott weiss was, von eigentlich ganz belanglosen Dingen: von Ausroden im Garten, von der Rosenhecke, die sich zu breit machte, von der Geissblattlaube, die gestutzt werden musste, und dass überhaupt mal mit der Schere ordentlich dreingefahren werden musste. »Es kann doch nicht alles so aus Rand und Band geraten im Garten — — und man kann auch sich zuviel Gedanken machen,« sagte er dann plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Ach, dass er so ungeschickt war! Er hätte jetzt so vieles sagen, dieser jungen aufgeschreckten Seele so manches leichter machen können, die Stunde war gekommen; aber das Sprechen war nicht seine Sache. In einer gewissen verlegenen Hast wiederholte er nur immer wieder: »Ja nicht zuviel denken, nicht zuviel denken, das Grübeln ist für gar nichts, für gar nichts. Ich habe auch mal gegrübelt, glaube ich — früher — ich habe mir sogar mal eine Kugel durch den Kopf schiessen wollen wegen einer jungen blonden Dame, der ich unter der Kastanie beim Regimentsfest meine Liebe gestanden hatte, meine heisse Liebe, und die mich doch nicht wollte. Es geht alles vorüber, Hans-Hänschen. Es geht alles vorüber!«
»Nein, es geht nicht alles vorüber!« Der junge Mensch schrie plötzlich auf, warf seinen Kopf dem erschrockenen Mann an die Brust und umfasste ihn mit beiden Armen. »Es geht nicht alles vorüber — ich habe Angst!«