Читать книгу Der einsame Mann - Clara Viebig - Страница 5
Drittes Kapitel
ОглавлениеEs war Frühling; ein feuchtwarmer Mai. Im Berggarten sang die Nachtigall alle Nacht, und eine andere antwortete unten aus den Uferbüschen; sie riefen und lockten. Sie sangen sich selber in den Schlaf, aber die Menschen wurden wach davon.
Der Oberst, der immer bei offenem Fenster schlief, musste das schliessen; aber vorerst stand er noch eine Weile und sah hinab auf die Rosenhecke und die Geissblattlaube, deren Duft fast greifbar zu ihm aufstieg. Wie mit Händen langte die Mainacht nach ihm und begann ihn zu streicheln. Vergebens strich er den borstigen Schnurrbart und versuchte ihn zu zwirbeln, der wurde nicht so martialisch wie sonst; die Brillantine fehlte, aber auch die Festigkeit der zwirbelnden Finger. Da konnte man noch so alt sein, eine solche Nacht macht weich und weckt Erinnerungen, die längst schliefen, und Gefühle, von denen man sonst nichts wusste und auch nichts wissen wollte. Es war doch schade, dass er sich nicht verheiratet hatte! Dann hätte er jetzt ein liebendes Weib neben sich, das ihren Arm in den seinen schob und, an ihn gelehnt, mit ihm hinunterblickte in den traumhaften Garten. Unten im Haus schlief ihm ein Sohn und oben in der silbergrau, mit bunten Blumen tapezierten Mansarde vielleicht eine Tochter, die von ihrem Bräutigam träumte. So grosse erwachsene Kinder könnte er längst schon haben, er hätte nur zu heiraten brauchen zur rechten Zeit. Zur rechten Zeit — war die Zeit denn ganz verpasst? »Ja,« sprach es in ihm, und dann wieder: »Aber du könntest doch noch — Anfang der Fünfzig, — noch ist es nicht zu spät, es hat mancher geheiratet, der noch älter war.« Aber wen heiraten, wen? Er kannte hier keine. Doch, unten die Frau Doktor! Im Alter würde sie zu ihm passen. Und da hätte er dann auch gleich den Sohn. Liebte er denn Hans-Helmut nicht schon wie einen solchen? Sicherlich; mehr vielleicht sogar. Denn an einen eigenen Sohn hat man das Recht des ruhigen Besitzes, der gehört einem eben, aber jener war nur entliehen, geborgt auf Zeit — vielleicht nur bis morgen. Den Knaben Hans-Helmut liebte er mit Ängstlichkeit, mit der ganzen Furcht, ihn bald wieder zu verlieren; liebte ihn wie etwas, das man sich widerrechtlich angeeignet hat, wie eine Kostbarkeit, von der man weiss, dass sie einem nicht gehört, dass man sie einmal wieder hergeben muss, und die man darum bewacht mit der ganzen Liebe eines Geizhalses zu seinem Gold. Aber die Frau Doktor heiraten — deswegen heiraten, damit Hans-Helmut ihm zu Recht gehörte?!
Der Mann seufzte tief auf und schloss unsanft das Fenster. Diese verdammten Nachtigallen mit ihrem ewigen Geschluchze! Er konnte wirklich nicht begreifen, warum man gerade den Nachtigallengesang so bewunderte, war nicht jedes andere Vogellied ebenso schön? Nun war das Fenster geschlossen, nun konnte er schlafen. Aber er legte sich doch noch nicht nieder. Er ging in sein Wohnzimmer, dessen Fenster hinaussah zum Fluss und zu den Weinbergen drüben. Am Fenster stand der Schreibtisch, er setzte sich, stützte den Arm auf die Platte, lehnte den Kopf in die Hand und sah so hinüber zu den in mattem Sternenlicht verschwimmenden Höhen.
Phantastisch sahen die sonst so friedlichen Berge aus. Ruhenden Ungetümen gleich lagerten sie, ihre Buckel reckend bis in den Himmel hinein, ihre Pranken tunkten tief hinab in den Fluss; der wusch ihnen die Füsse und schäumte da und dort empor zu ihren Lenden, unruhig gemacht durch geheime Wirbel. War das noch derselbe Fluss, der immer so sanft, so ruhig dahinglitt, sein blaues Band geduldig schlängelnd im schmalen Flussbett? Hatte die Frühlingsnacht auch ihn aufgeweckt, ihn breiter schwellen lassen und höher? Es war etwas Seltsames um diese Nacht, sie stöberte manches auf.
Dem Oberst kamen Gedanken an seine Leutnantszeit. In solchen Nächten pflegte man im Kasinogarten zu sitzen, eine Bowle zu brauen, die immer wieder aufgefüllt wurde, bis das erste Frührot durchs Dunkel der Büsche auf übernächtige Gesichter einen fahlen Schimmer warf und die Ordonnanzen kamen und die Windlichter verlöschten. Es waren in jenem Garten mächtige alte Kastanien, die ihre Zweige tief zur Erde senkten. Unter solch einer Kastanie, die wie ein Schirm gegen neugierige Blicke schützte, hatte er einmal bei einem Regimentsfest mit einer jungen Dame gestanden. Es war wohl auch Mai gewesen, Nachtigallen mochten auch gesungen haben, dessen erinnerte er sich nicht mehr — es war Abend. Lampions glimmten wie Glühwürmchen, fern wiegte Musik; er war verliebt, er hatte allerlei gestammelt, über das er jetzt noch rot werden könnte. Er hatte geglaubt, sie liebe ihn auch. Pah, so ein Hansnarr! Das reiche Mädchen hatte ihn nicht genommen. Leutnantsschicksal! Es war weiter nichts Weltbewegendes gewesen, und er hatte es auch bald verschmerzt, sich wieder einmal verliebt und noch einmal. Und auch das verschmerzt. Aber dass er heute, nach so vielen Jahren, an jene blonde junge Dame unter der Kastanie denken musste, das war doch seltsam! Er hatte seither nie mehr an sie gedacht. Sie war bildschön gewesen. Ganz deutlich sah er noch das feine, ein bisschen hochmütige Profil, den lockigen Haarknoten tief im Genick, die Perlenschnur um den Hals, der sich weich und weiss hob aus rosenfarbenem Kleid. Er sah das alles auf einmal wieder, und dann schob sich plötzlich der Kopf der Frau Doktor daneben, blass, verblüht. Sie hatte auch ein feines Profil, aber es war nicht hochmütig. Gesenkt, geduldig, auf magerem Hals. Unmutig zerrte der Mann an seinem Schnurrbart: warum kamen ihm denn nur so dumme Gedanken? Die Einsamkeit, der Hans-Helmut und diese blödsinnige Nacht waren an allem schuld.
Draussen rauschte der Fluss, sein Rauschen war seine Sprache, sein Lied. Die Sterne wandelten; wie Funken streuten sie ihr kleines Gelichter über’s Sammetgrau des nächtlichen Frühlingshimmels. Hier und da tauchte ein ganz grosser Stern auf, spähend lugte er dem ruhenden Ungetüm des höchsten Berges über den Rücken, sah hinab auf diese enge Welt mit dem begrenzten Horizont, auf das kleine weisse Haus, auf die drei Menschen, die darin wohnten. Er wandelte ruhig nach ewigen Gesetzen, und hier stand ein einsamer alternder Junggeselle, und auch nach ewigen Gesetzen kamen ihm sehnliche Gedanken an Weib und Kind und Familie. —
Auch Frau Doktor schlief nicht, auch sie störte das langanhaltende Schluchzen der Nachtigallen; das klang so laut in der feuchtdumpfen Stille, das beherrschte die ganze Nacht. Sie hatte sich halb aufgesetzt im Bett, den Kopf, der heiss geworden war vom ruhelosen Wenden auf dem Kissen, in die Hand gestützt. Über den mageren Arm floss ihr das Haar, sie flocht es abends noch immer in zwei Zöpfe, wie sie es schon als Mädchen getan hatte. Noch immer schönes blondes Haar, trotz allen Kummers noch immer kein graues Haar darin. So müde sie gewesen war am gestrigen Abend, wie zerschlagen an allen Gliedern, der Schlaf floh sie dennoch. Was — was hatte die Kaspers gestern gesagt?! Es hatte sie vor den Kopf getroffen wie ein Schlag, durch das Herz war ihr ein Stich gegangen.
Die, die könnte etwa glauben, sie hätte es auf ihren Mieter abgesehen?! »No, Frau Doktor, vielleicht verändern Sie sich doch noch mal?« Und hatte sie lauernd dabei angesehen: »Witfrau sein, dat is en schlechter Stand.« Und als gerade der Baron seinen Kopf in die Küche steckte: »Adieu, ich gehe jetzt fort, zu Tisch bin ich aber pünktlich hier,« hatte sie ihr zugeblinzelt und dann mit pfiffigem Insichhineinlachen wie zu sich selber, aber doch so, dass man es hören musste, gesagt: »Dat is en Herr! En bessern Mann kann sich keine wünschen!« War das alles auf sie gemünzt gewesen — —? Nein, es konnte nicht sein, sie hatte sich doch nichts zu schulden kommen lassen, hatte sich nie merken lassen, wie sehr sie den Mann schätzte, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand, dem sie es schuldete, dass ihr Leben jetzt ein wenig leichter, ein wenig sorgenfreier, ein wenig behüteter war. Und der ihren Hans-Helmut liebte mit einer Liebe, die — wie sollte man sie anders nennen? — die fast väterlich war.
Sie hatte der Kaspers nichts erwidert, getan, als ob sie gar nichts gemerkt hätte von den Anspielungen, aber es war etwas in sie hineingefahren, das wurde sie nicht wieder los: etwas Peinvolles, Aufgeschrecktes. Ja, diese Reden gingen auf sie! Oh, sie war unvorsichtig gewesen, sie hatte zu offen gezeigt, wie sehr sie ihn schätzte, wie er eigentlich ihren ganzen Tageslauf bestimmte, wie sie wartete, bis er kam, nichts unternahm, ohne seine Meinung zu hören, ihn bestimmen liess, wenn etwas zu bestimmen war. Sie musste sich wieder mehr zurückhalten, wieder mehr die Dame sein einem fremden Herrn gegenüber. Ach, diese schöne Zeit musste vorbei sein! Das Herz, das ihr manchmal zu schaffen machte seit dem jähen Tod ihres Mannes, hob wieder an mit seinem raschen, beängstigend raschen Schlag. Und plötzlich, ohne dass sie die zurückhalten konnte, stürzten ihr Tränen aus den Augen und liefen ihr herab über die schmalen Wangen.
»Mein Gott, mein Gott!« Sie schluchzte in sich hinein. Wie schrecklich war es doch, allein zu stehen in der Welt, schutzlos übler Nachrede ausgesetzt! Das taktlose Geschwätz der Frau schwoll ihr an zu einer Beleidigung, zu einem fürchterlichen Vorwurf, der sie nicht ganz unverdient traf. In der Einsamkeit der Nacht, in ihrer dunklen Stille, brauchte sie ja nicht zu heucheln, brauchte sich nicht abzuwenden, um das Rot zu verbergen, das ihr heute, gegenüber der Frau, siedend in das Gesicht gestiegen war. »Ach, Rudolf!« Sie sehnte sich plötzlich mehr denn je nach dem, der da draussen weit, auf dem Kirchhof jenseits der Stadt, lag, durch das alte Stadttor, durch die krummen Gassen und eine lange Strecke des Flusses von ihr getrennt. Wenn sie jetzt zu ihm könnte, zu ihm flüchten vor dem, was sie bedrängte! Was bedrängte sie denn? Sie machte es sich selber nicht klar. Wenn sie diesem Manne gut war, so war es ja nur, weil er so gut zu Hans-Helmut war. Nur darum?! Wirr und aufgescheucht flatterten in dem armen Kopf die Gedanken. Sie presste die Hand gegen das klopfende Herz und weinte, weinte.
Blasser noch als sonst und übernächtig stand Hilde Arndt in der Küche und strich die Semmeln für ihren Mieter. Auf dem Tablett mit dem bestickten Deckchen stand die kleine Kaffeekanne und das Milchtöpfchen. Das erste Frühstück schickte sie ihm immer hinauf. Hans-Helmut liess sich’s nie nehmen, ihm das zu bringen, er hätte das als Eingriff in seine Rechte betrachtet, er konnte wütend werden, wenn die Kaspers oder gar Maria ihm das Tablett aus der Hand nahmen. »Ich, ich!« Da kam er lieber zu spät in die Klasse und nahm einen Tadel auf sich. »Mach, mach,« drängte er die Mutter. Was trödelte sie denn heute so? Frau Doktor war zerstreut, sie schien nicht zu wissen, dass der Baron nur auf die eine Semmel Butter bekam, auf die andere selbsteingekochte Aprikosen aus dem Garten, die er besonders gern ass. »Mutter, was machst du denn nur?« Der Knabe sah sie vorwurfsvoll an, und dann rannte er hinauf mit seinem Tablett.
Es war heute kein heller Sonnentag, ein mildes Licht war am Himmel, feuchtes Wehen über dem Fluss, das Regen kündete. Die Fische sprangen hoch aus dem stehenden Wasserspiegel, man sah ihre emporgeschnellte silberne Kehrseite blitzen. Recht ein Tag zum Fischfang geeignet, und den wollten sie auch nutzen dafür. Frau Kaspers hatte Hans-Helmut eingeladen: der arme Junge hatte doch nie ein Pläsier. Nun wollte ihr Mann mit den Söhnen den Fluss herunterfischen zwischen den Kribben, da konnten die Kinder mitkommen; wenn’s ihnen zu langweilig wurde im Kahn, konnten sie auf der grünumbuschten Kribbe liegen oder baden, da, wo es seicht war.
Maria kam am Mittag noch einmal fragen, Frau Doktor hatte am Morgen mit der Antwort gezögert. Sie wusste nicht recht, sollte sie es erlauben? Ihres Jungen Herz hing daran. Er hatte ihr schon oft mit sehnsüchtigen Augen erzählt, was für herrliche Fische die Kaspers immer fingen. Der eine Kaspers, der grosse Hanni, hatte schon einmal einen Hecht geschossen, das war ein Kunststück. Und der Peter, der war noch geschickter, der stand vorn im Nachen — mucksmäuschenstill musste man sein — und wenn dann der gefrässige Fisch nach dem Köder mit dem fetten Regenwurm schnappte, dann spiesste er mit seiner zweizinkigen Wurfgabel den dummen Hecht auf.
»Ach, Mutter, ach, Iass mich doch!« Des Knaben Gesicht glühte, vor Aufregung hatte er schon nichts essen können.
»Sie brauchen kein Angst zu haben, Frau Doktor,« sagte Maria. »Ich pass schon gut auf ihn auf.« Sie nahm ihn ganz mütterlich bei der Hand: »Gelt, Hänschen?«
Frau Doktor glaubte wohl, dass Maria gut auf ihn passen würde, gross und stämmig stand sie da, ein verständiges, fast schon erwachsenes Mädchen. Aber doch zögerte die Mutter noch; an ein Inswasserfallen dachte sie nicht, der Gedanke kam ihr nicht, aber etwas anderes machte ihr die Sache unlieb, ein leises Bedenken: der alte Kaspers war ein Schiffer, Schiffer sind so roh, die Söhne waren es auch, wer weiss, was Hans-Helmut da aufschnappte an gewöhnlichen Redensarten. Sie zögerte. Das Mädchen stand immer noch, sah sie unverwandt an mit seinen blanken Augen, und der Knabe umschmeichelte sie. Er hatte sich an die Mutter gehängt, mit beiden Armen ihre Taille umfasst, sein hübsch es, meist ernsthaftes Gesicht war heute strahlend in der Erwartung einer grossen Freude: »Mutter, du erlaubst es doch? Du musst es erlauben!« Sie wusste sich keinen andern Rat: »Geh, frag mal den Herrn Baron!«
Mit einem Jubelschrei rannte der Knabe nach oben: oh, der würde sicher „ja“ sagen! Und schon kam er wieder mit ihm zurückgerannt.
Der Oberst hatte im Sessel seine Pfeife geraucht, war darüber eingenickt, wie immer nach Tisch, das eine Ohr hatte er sich ganz rot geschlafen; den Kragen hatte er abgeknöpft, die alte Litewka, die er im Hause trug, stand offen. Der Knabe zerrte ihn an der Hand mit sich: »Mutter, ich darf, er sagt ‚ja‘.« Da sagte die Frau Doktor denn auch: »Ja.«
Man hätte dem stillen Knaben gar nicht solchen Freudenausbruch zugetraut. Er hüpfte auf einem Bein und klatschte in die Hände: »Wir fangen Fische, wir fangen Fische, wir braten uns welche auf der Kribbe, die Maria und ich — ha, das wird fein!« Und dann nahm er im Ungestüm seiner Freude die Mutter um den Hals und fasste zugleich mit dem andern Arm den Freund um den Nacken, er hing sich an beide und brachte sie so mit den Köpfen dicht zusammen; nur sein Knabenhaupt war noch zwischen ihnen, sonst hätten sich ihre beiden Wangen berührt. Verlegen strebte die Mutter loszukommen, aber Hans-Helmut hielt fest, und seine Knabenstimme schrie durchdringend hell: »Ich hab’ euch lieb, ich hab’ euch beide so lieb!«
Die Kinder waren gegangen. Die Mutter sah ihnen von der Haustür aus nach. Sie hatte ihnen noch dringend eingeschärft: keine nassen Füsse, und dass Maria ja Obacht gab. An der Hand des Mädchens sah sie ihren Knaben davonstolzieren, er drehte sich nicht mehr nach der Mutter um, er war eilig vor Erwartung. Die Mutter lächelte: er war doch noch ein rechtes Kind; die neuen Stulpstiefel hatte er an und den neuen Strohhut, die waren heute wirklich nicht nötig, aber er hatte es nicht anders getan. Wie glücklich er war! Das tröstete sie über die Unruhe ihres Herzens. Denn unruhig war sie noch immer, seltsam beklommen. Ach, diese schlaflose, peinigende Nacht! Sie hatte die noch nicht abgeschüttelt. Und die weiche Müdigkeit des Tages, durch die heute so matte, wie einschläfernde Luft, auch nicht. Mit einem Seufzer trat sie ins Haus zurück — da stand noch der Oberst.
Einen Kragen hatte er noch immer nicht an, aber die Litewka hatte er zugeknöpft und hielt sich auch nicht mehr so lässig wie vorhin. Er war etwas echauffiert. »Sind sie nun fort? Er war nicht schlecht froh, unser Junge!«
Unser Junge — unser Junge, sagte er! Wie das klang! Er hatte es wohl schon hundertmal gesagt, aber ihr war, als hörte sie es heute zum erstenmal. Verschüchtert wich sie einen Schritt zurück. Was hatte er doch für einen seltsamen Unterton in der Stimme — wollte er etwa Besonderes sagen?
Der Oberst räusperte sich verlegen, nahm einen Ansatz zu sprechen und sagte dann doch nichts anderes, als mit besonderer Betonung: »Unser lieber Junge!«
Sie lächelte schwach.
Er trat ihr näher, fast war er ihr wieder so nah wie vorhin, als der Knabe ihre Köpfe zueinander beugte. Er neigte sich ganz dicht zu ihr, er holte tief Luft, er hielt ihr die Hand hin, seine breite, kräftige, gute Hand.
O Gott, was sollte das?! Um die Frau begann es sich zu drehen; ein peinvolles »Was tun?«, eine grosse Beklemmung, eine angstvolle Schüchternheit überfielen sie, ihr Herz begann wieder sein Jagen, ihre Hand fest an sich haltend in den Falten ihres Kleides wich sie zurück. Und sie sagte leise, stiess es hastig flüsternd hervor, einer jähen Eingebung folgend — und doch tat es ihr leid, als sie die eigenen gestammelten Worte hörte: »Unser Junge — wie lieb das klingt — er hat ja keinen Vater mehr, wird auch nie mehr einen haben — ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Güte gegen ihn, Herr Baron — ich bitte Sie, bleiben Sie sein Freund, Herr Baron!«