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Die größten Ereignisse, das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.

Friedrich Nietzsche

Die Stille

Der Kobold Ramazan war gerne allein. Er lebte am Wasser, in einer winzig kleinen Sandburg am Fluss. Ramazan liebte es, am Strand zu sitzen, auf die sanften Wellen des Wassers zu schauen. Er liebte es, mit kleinen Kieselsteinchen die Wasseroberfläche zu bewerfen und Ringe entstehen zu lassen. Ramazan liebte die Weite und die Stille, wenn er allein mit sich war. (1)

Somit unterschied er sich gewaltig von allen anderen Kobolden, denn Kobolde waren tummelige springende laute kleine Wesen, die gerne Krach und im Übrigen auch Ärger machten. Das meinten sie nicht böse, aber ihrer Natur nach besaßen sie so viel Energie, dass sie manches Mal nicht wussten, wohin mit dieser Kraft. Aus Spaß trieben sie dann ihren Schabernack – mit anderen Elfen, Geistern oder auch Tieren und Menschen. (2)

Ramazans Bekannte und Freunde wohnten ebenfalls in Sandburgen am Wasser; sie waren aber praktisch nie zu Hause. So sprangen sie den lieben langen Tag umher, durch Wald und Ebenen, übers Tal, hinauf und hinab. Ramazan konnte sie aus weiter Ferne hören, denn sie redeten alle auf einmal und lachten viel. Alle Kobolde waren Naturgeister und trieben sich deshalb auch am liebsten draußen herum. Spielen, necken, erschrecken, sich stupsen und schubsen – dies zählte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. (3)

Eines Morgens entschied Ramazan, sich auf die Wanderung zu machen. In all den stillen Stunden, die er am Wasser verbrachte, war ihm in den Sinn gekommen, dass er Lust hatte, Neues zu sehen, andere Orte kennen zu lernen und Unbekanntes zu erforschen. (4) Außerdem war es ihm am Fluss in seiner Sandburg nicht mehr ruhig genug.

Ramazan wanderte sieben Tage und sieben Nächte. Unterwegs ernährte er sich von allem, was er an Essbarem zwischen seine Finger bekam. Auch seine Geschwister, die Elfen, halfen ihm auf seinen Wegen. Sie mochten diesen kleinen Kerl, der so anders war als all die anderen. Sie beobachteten ihn schon seit langer Zeit, weil er sanft, still und ruhig seiner Eigenart frönte – ohne jedes Aufheben. So wachten sie über ihn in der dunklen Waldesnacht und ließen ihn am Tage die Sträucher finden, deren Beeren er essen konnte. (5)

Am siebten Tag sah Ramazan in weiter Ferne ein Haus. Es schien sehr alt zu sein und aus dem Schornstein rauchte es Wolken. Eine alte Frau saß davor. Ramazan hatte noch nie ein Haus oder einen Menschen gesehen! Er war ganz aufgeregt und eilte sich, den Hügel hinab zu kullern, um noch schneller beim Haus zu sein. In seinen Augen war die Frau sehr groß, viel größer als er selbst. Ramazan reichte ihr gerade bis zum Schuh. Und er verstand sofort, dass sie ihn nicht sehen konnte. Also schlüpfte er durch das Schlüsselloch ins Innere des Hauses.

Welch eine Ruhe! Ein alter Mann saß am Feuer und hielt etwas in der Hand, in dem er blätterte. Ganz versunken war er mit diesem Gegenstand. Eine tiefe Gelassenheit ging von ihm aus. (6) Und überhaupt hatte alles in diesem Haus seinen Platz: das Feuer im Kamin, der Topf auf dem Herd, das kleine Licht über dem Esstisch … Ramazan wünschte sich nur eines: „Geist in diesem Hause zu sein! Hier leben zu dürfen und sich in das zu versinken, was der alte Mann da in seinen Händen hielt!“

So wurde aus dem Kobold Ramazan, dem Naturgeist, ein Hausgeist. (7) Und weil er als Geist sehr schnell lernen konnte, dauerte es nicht lange und er hatte seinen Lieblingsplatz gefunden: im Schneidersitz auf der Hand des alten Mannes sitzend. Seitdem lesen sie, versunken in Gedanken, ein Buch zu zweit.

Fabelhafte Welten

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