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NACH LITAUEN

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Der Gefangenentransport hält zischend und Dampf ablassend. Einfahrt in den Provinzbahnhof der östlichen Grenzstadt Tauroggen im Grenzgebiet zu Litauen. Durch die Schlitze in den Bretterwänden erkennen die Gefangenen Schwestern vom Roten Kreuz, die Versorgungskarren mit belegten Broten, Wasser und Tee über die Bahnsteige schieben, um Soldaten und Wachpersonal zu versorgen.

Einer fleht: „Schwester! Schwester! Bitte haben Sie ein wenig Wasser für uns?“

Schwester: „Es gibt für Euch kein Wasser!“

Und ab schiebt sie mit ihrem Erfrischungswägelchen. Die Augen Franz‘ treffen den Blick des Bittenden, der ungläubig seinen Kopf schüttelt. Das Pfeifen der Lokomotive durchbricht die Stille. Im Pfiff der Dampflokomotive setzen sich die schwarzen Räder wieder in Bewegung. Aus der Ferne, aus den Trichtern der Lautsprecher ertönt Musik in Marschmanier, etwa der „Badenweiler“. Und weiter geht die Fahrt Richtung Osten, Litauen. Aus Tag wird Nacht und Nebel verschluckt die baumelnde Schlusslaterne des Zuges. Im Waggon die dicht gedrängten Menschen, sie können weder liegen noch sitzen, sondern kauern oder stehen in den unmöglichsten Stellungen. Kein Wasser, eine Gluthitze, keine Luft, manche versuchen, mit Taschenmessern die Luftklappen ein wenig zu verbiegen und zu öffnen. Ein Gefangener stirbt an einem Erstickungsanfall. Andere an Herzanfällen. Das Gewimmer und das Surren von Gebeten werden schlimmer. Als der Zug dampfend und schwitzend in Gubinau einfährt, hört man aus den Waggons nur flehentliche Stimmen, die um Luft bitten.

Ein deutscher Offizier: „Ihr habt das, was ihr verdient!“

Rot-Kreuz-Schwestern werden wie schon vor Stunden angebettelt. Stimmen aus dem Waggon ertönen: „Bitte gebt uns Wasser!“

Wieder stehen Franz und der Gefangene am Sichtschlitz. Der Gefangene bittet mit seinen Fingern durch die Lamellen: „Bitte! Gebt mir nur ein wenig Wasser. Wenigstens für die Kinder. Die sind halb tot vor Durst.“

Schwester: „Ausgeschlossen!“

Der Gefangene sieht einen deutschen Polizisten am Gleis stehen und bittet ihn: „Herr Schutzmann, schauen Sie hier, bitte helfen Sie uns! Nur ein wenig Wasser, die Schwestern wollen uns nichts geben.“

Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, als eine Pistolenkugel des angesprochenen Polizisten vor ihm in die Ladewand knallt, um ihm den Mund zu stopfen. Der Zug dampft unter Pfeifen und Zischen aus dem Bahnhof heraus, und immer schneller donnert er über die Gleise, vorbei an ewigen Ebenen, dampfenden Mooren und schneebedeckten Weiten. An Ortsschildern wie: Priez Englau, Eytkau und Ragniff. Endlich kommt der Transport um 17 Uhr am darauffolgenden Tag am Bestimmungsort im winterlichen Kaunen an. Kein richtiger Bahnhof ist Ziel des Zuges, nein, in freiem Gelände markieren einige Bahngleise mit Rampen den Halt des Zuges. An der Rampe in Kaunen Schreie, unheimliches Bellen. Der Waggon wird aufgerissen und SS-Leute drängen mit ihren Schäferhunden die Menschen heraus und über allem schneidende, hysterische Laute durch deutsche Befehle und Hundegebell. Mit Gewehrkolbenschlägen, Bajonettstößen, Stockhieben und Hundebissen will man der Menschenmenge Herr werden. Diejenigen, die fallen und nicht mehr aufstehen können, werden von den Hunden zerrissen. Die Toten, die Sterbenden und alle diejenigen, die nicht mehr gehen können, werden auf einen Haufen geworfen. Gepäck und Pakete übereinandergestapelt. Über die letzten Menschen hinweg werden die Waggons bereits ausgespritzt mit eiskaltem Wasser. Manche der Kinder, die ein wenig Wasser abhaben wollen, werden sofort erschossen. Ein SS-Mann wirft ein Kind an den Füßen in die Luft, während ein anderer auf diese lebende Zielscheibe schießt: Als es wieder klatschend auf dem Steinboden aufkommt, ist es bereits tot. Etwas weiter reißt ein SS-Mann ein Baby aus den Armen seiner Mutter und zerreißt es in Stücke, indem er es an einem Bein zerrt und auf dem anderen mit seinem Fuß steht.

Ein Offizier schreit zur Begrüßung: „Alle müssen sich ausziehen!“

Ein anderer Offizier trennt die Frauen, Kinder, Greise und Männer an der Rampe. Er hat einen Zollstock und misst die kleinen Kinder durch. Die meisten stempelt er auf Brust oder Schenkel. Die Gefangenen ziehen unter Stockschlägen und Hundebissen nackt und einzeln an dem SS-Offizier vorbei. Mit einem Zeichen des Fingers gibt er die von ihnen einzuschlagende Richtung an. Nach links die Männer zwischen 15 und 45 Jahren und natürlich die jungen Frauen, das heißt die arbeitsfähigen und hübschen Menschen, nach rechts der ganze Rest des Transportes. Frauen und Kinder, Greise, Kranke, die Unnützen, die Unverwertbaren. Franz sieht nach kurzer Zeit, wie der Offizier bewertet, und macht sich größer und pumpt seinen Brustkorb auf. Glück gehabt! Links weg.

Vom Bahnhof zum eigentlichen Lager (etwa 5 Kilometer) werden die Selektierten unter Kolbenschlägen und Hundebissen zum Laufschritt getrieben. Der ganze Weg muss barfuß im Schnee und Schmutz zurückgelegt werden. Mit Faustschlägen auf den Kopf, in den Rücken und mit Fußtritten befehlen die SS-Männer zu laufen. Manche Menschen sind schon starr vor Schrecken und ihre Beine versagen ihren Dienst. Die, die umfallen, werden mit Kolbenschlägen niedergemacht oder erschossen. Und über allem das Heulen dieser verrückten Hunde.

Hinter der Kolonne folgen die Sammellastwagen, auf denen die Toten aufgehäuft werden. Niedere Dienstgrade oder Freiwillige werfen sie hoch wie verbogene alte Eisenstangen.

NAKAM ODER DER 91. TAG

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