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II.

Techniken

KAPITEL 3

Einführung in die Techniken der Gestalttherapie

Die Gestalttherapie verfügt über zahlreiche Techniken, die ein breites Spektrum von Verhaltensweisen betreffen – verbale und nonverbale, strukturierte und unstrukturierte, introspektive und interpersonale, nach innen und nach außen gerichtete, symbolische und nicht-symbolische. Einige dieser Techniken sind nicht auf die Gestalttherapie beschränkt, und viele können als mehr oder weniger bewußte Variation von Techniken betrachtet werden, die in anderen Spielarten der Psychotherapie oder im spirituellen Bereich zu finden sind. Dennoch ist eine gestalttherapeutische Sitzung unverwechselbar, denn das Verfahren selbst bildet sozusagen eine neue und einzigartige Gestalt.

Die Einzigartigkeit der Gestalttherapie liegt weder in den einzelnen Techniken noch in der individuellen Haltung, sondern in dem Zwischenbereich, in dem die Haltung sich in methodischen Ansätzen ausdrückt und aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine neue Synthese hervorbringt.

Gestalttherapie auf der methodischen Ebene ist vor allem eine Synthese. Typisch für sie ist jene besondere Wendung, die traditionellen Ansätzen gegeben wird, der Standort und die Bedeutung, den jeder dieser Ansätze einnimmt, das organische Gespür, mit dem der Therapeut von einem Ansatz zum anderen übergeht und dabei seine Aufmerksamkeit mehr auf das Thema richtet als auf eine starre Formel.

Wenn die Praxis der Gestalttherapie eine Sammlung von Techniken ist, so ist dies genau der Grund, warum sie keine streng methodische Ausrichtung besitzt. Eine Synthese gibt es nur, wenn sich viele Teile um ein einigendes Zentrum kristallisieren können. Das Zentrum, das eine überraschende Vielfalt von Hilfsmitteln hervorbringt, ist in diesem Fall jener Bereich, der über die Techniken hinausführt und den wir weiter oben als den Bereich von Präsenz-Gewahrsein-Verantwortung bezeichnet haben.

Sein Leben lang hat Fritz Perls sein Repertoire mit allem angereichert, was seinem Ziel gedient hat, seine Patienten bewußter und verantwortlicher zu machen. Er übernahm, borgte, kombinierte Techniken und erfand ständig neue – nicht absichtlich, sondern mit jener Spontaneität, die allem Lebendigen eigen ist, wenn es assimilierend Neues erschafft.

Aus der freien Assoziation entwickelte er die Idee des Gewahrseinskontinuums, wobei er sein Interesse vom Inhalt auf die Form lenkte; von Reich übernahm er das Verständnis des Widerstands als eines motorischen Ablaufs und die Einschätzung der Bedeutung des Ausdrucks; von Karen Horneys „Tyrannei des ‚Sollte‘“ leitete er im Laufe der Zeit die Personifizierung des Topdog ab, vom Psychodrama das Ausleben von Konflikten; aus der Dianetik das wiederholte Durchleben traumatischer Episoden und die Technik der Satzwiederholung; aus dem Zen-Buddhismus die Regel, Intellektualisierung einzuschränken.

Wir neigen jedoch keineswegs dazu, Gestalttherapie als ein Gemisch von Ansätzen oder als einen rein eklektischen Weg zu betrachten. Genauso wie wir Bachsche Musik nicht als ein Gemisch vorangegangener italienischer, deutscher und französischer Stile sehen (was sie in gewisser Hinsicht ist) und eher von der Einzigartigkeit der entstehenden Synthese als von der Wahrnehmung ihrer Komponenten ergriffen sind, beeindruckt uns das neue Gebäude der Gestalttherapie mehr als die alten Bausteine.

Ich will in dem folgenden Kapitel zeigen, wie eine bestimmte Haltung – die Gegenwartsbezogenheit – einige Bausteine zu einem Teil des Gestalttherapie-Gebäudes zusammengefügt hat: Die Übung des „Gewahrseinskontinuums“. Der Keim war die Erfahrung, „präsent zu sein“; von Perls entdeckt, und zwar nicht in irgendeiner Form der Psychotherapie, sondern in seinem eigenen Gewahrsein (besonders in persönlichen Erfahrungen, auf die er sich mit dem Begriff Satori bezog). Perls legte diesen Keim, der in der Menschheitsgeschichte verschiedene Arten der Meditation hervorgebracht hatte, in den ihm vertrauten fruchtbaren Boden der freien Assoziation und fand heraus, daß jene Technik dem erleuchteten Auge eher als freie Dissoziation erschien, die am Wesentlichen vorbeiging. Das Wesentliche war in diesem Fall das Offensichtliche.

Ich habe die Zentrierung in der Gegenwart als Ideal (als Aspekt einer Lebensqualität) betrachtet, das der Therapeut dem Patienten als allgemeine Anweisung anbietet, und das er mit Hilfe einer spezifischen Technik zusammen mit dem Patienten einübt. Dasselbe kann von jedem Aspekt des dreifachen Ideals der Gestalttherapie – Präsenz-Gewahrsein-Verantwortung – gesagt werden.

Man kann praktisch jede Technik in der Gestalttherapie als eine spezielle Anwendung der allgemein gefaßten Anweisung: „Sei präsent!“ sehen. Diese Anweisung ist Ausdruck der Überzeugung und Erfahrung des Therapeuten, daß wirkliches Leben nur im Gewahrsein der Gegenwart möglich ist und daß das Licht des Gewahrseins alles ist, was wir brauchen, um aus unserer Verwirrung herauszukommen, die Beschränktheit dessen wahrzunehmen, was unsere Konflikte schafft, und die Phantasien zu zerstreuen, die unsere Ängste verursachen.

Ebenso können wir praktisch jede Technik der Gestalttherapie als eine besondere Konkretisierung der Anweisung: „Übernimm die Verantwortung für dein Handeln, erfahre dich selbst als den Handelnden, erfahre dich!“, betrachten. Dieses Rezept bringt die auf Erfahrung basierende Überzeugung des Therapeuten zum Ausdruck, daß wir nur dann sagen können, daß wir leben, wenn wir der sind, der wir sind. Erst wenn wir beginnen, wir selbst zu sein – oder anerkennen, was wir bereits sind – finden wir eine Erfüllung, die größer ist als die Befriedigung unserer jeweiligen Wunschvorstellungen.

Daß die Gestalttherapie darauf abzielt, das Gewahrsein, den Sinn für das Gegenwärtige und für Verantwortung zu wecken, bringt nichts anderes zum Ausdruck, als daß es um die Fähigkeit geht, zu erleben und Erfahrungen zu machen.

In einem gewissen Sinn „erfahren“ wir immer irgend etwas. Dennoch sind wir nur in kümmerlichem Kontakt mit unserem eigenen Erleben, nur halbwach gegenüber der Realität. In diesem Sinn können wir sagen, daß wir nicht wirklich etwas erfahren.

Aus der Sicht des Gestalttherapeuten wirkt das wahre Erleben von sich aus therapeutisch oder korrigierend. Ein wacher Moment – ein Moment der Berührung mit der Realität – und wir sehen die Phantome unserer Tagträume als das, was sie sind. Gleichzeitig ist es ein Augenblick, in dem wir uns im wirklichen Erfahren üben, in dem wir lernen, daß es nichts zu fürchten gibt und daß die Belohnung dafür, lebendig zu sein, größer ist als die Schmerzen oder Verluste, die wir in unserem Schlummer gern vermeiden würden.

Der Hunger nach Erfahrung gehört zum Leben. Häufig ist es jedoch der Wunsch nach immer neuen anderen Erfahrungen als jenen, die gerade aktuell sind. Die Sehnsucht nach mehr ersetzt das Bedürfnis nach Tiefe, die unseren natürlichen Umgang mit der Welt prägen könnte, wenn wir nicht so abgestumpft wären. Wir suchen intuitiv diese Tiefe und Fülle des Gewahrseins, die unser angeborenes Recht ist, und wenn wir sie nicht finden, suchen wir unsere Reize in der Umwelt: scharfes Essen, Bergsteigen, Autorennen, Konkurrenzkampf und den schönen Schein der Medienlandschaft.

Der Ansatz in der Gestalttherapie ist umgekehrt. Erfahrung wird zwar gesucht, aber nicht durch Reizüberflutung, sondern durch Sensibilisierung. Äußerliche Reize werden vom Gestalttherapeuten als eine Form der Unterstützung durch die Umwelt gesehen, die nicht notwendig ist für jemanden, der seine sinnlich erfahrbaren Reize von innen erhält.

Die Techniken der Gestalttherapie können auf zweierlei Weise dazu dienen, den Patienten in Kontakt mit seiner Erfahrung zu bringen. Ein Weg ist, Vermeidungsstrategien aufzugeben und aufzuhören, Erfahrungen zu überdecken. Der andere Weg besteht darin, unsere Energien durch gesteigerte Aufmerksamkeit und absichtliche Übertreibung auf den Inhalt unseres Gewahrseins zu lenken. Obwohl diese beiden Wege so eng ineinandergreifen, daß man sie als die linke und rechte Hand des Psychotherapeuten bezeichnen könnte, werde ich sie in getrennten Kapiteln behandeln.

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