Читать книгу Finisterre - Claus Karst - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеZwei Stunden später wurde Pascal aus seinem Halbschlaf gerissen. Es wird Zeit, dass ich mir endlich einen neuen Wecker kaufe, ermahnte er sich. Seit mehr als einem Jahr vergaß er, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Seiner gebärdete sich zu schrill, um jemanden sanft vom Schlaf in den Wachzustand zu rufen.
Pascal stemmte sich hoch, unwillig und zerschlagen. Kopfschmerzen hatten sich bei ihm eingenistet, wahrscheinlich wegen des Witterungsumschwungs. Er ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Es regnete, die Sichtweite betrug nur wenige Meter. Die Kühe hatten auf der Weide einen Kreis gebildet, um sich gegenseitig vor dem Regen zu schützen. Kluge Tiere, dachte Pascal. In so einer lebensfeindlichen Umgebung muss man eng zusammenrücken, wenn man überleben will.
Er duschte sich kurz mit kaltem Wasser ab, schluckte zwei Tabletten gegen seine Kopfschmerzen, zog sich an, nahm seinen regendichten Anorak und stieg die Treppe hinunter zum Empfang. Keine Menschenseele ließ sich blicken, auch die Gaststube war leer. Pascal setzte sich in einen Sessel, angelte nach einer Illustrierten aus dem Ständer und wartete auf Sophie.
Obwohl sie verabredet waren, erschien Sophie nicht.
Sie wird wohl eingeschlafen sein, vermutete Pascal und gestand ihr ein paar Stunden Ruhe zu, damit sie ihr inneres Gleichgewicht zurückgewinnen konnte.
Als sie nach einer halben Stunde noch immer nicht gekommen war, ging er nach draußen in den niederschmetternden Regen, stieg in sein Auto und fuhr talwärts, um sich von den angekündigten Bauarbeiten an der Straße ein Bild zu machen auf der Suche nach einer Möglichkeit, ins Tal hinunterzufahren. Die Witterungsverhältnisse zwangen ihn, mit größter Aufmerksamkeit zu fahren. Den Scheibenwischern gelang es kaum, ihm freie Sicht zu verschaffen.
Nach etwa fünf Kilometern versperrten tatsächlich Bauschilder die Weiterfahrt. Er hielt an, stieg trotz des prasselnden Regens aus und stapfte durch den knöcheltiefen Schlamm, der vom Hang auf die Straße gespült worden war. Hinter der nächsten Serpentine fand er den Fahrweg über die gesamte Breite aufgerissen, wobei nicht auszumachen war, wozu diese Maßnahme dienen sollte. Die Baustelle war verlassen, was bei dem Wetter verständlich war.
Er verzichtete aufs Weitergehen, zumal ihm ohnehin niemand eine Auskunft über den Stand der Arbeiten hätte erteilen können. Zu allem Überfluss rutschte er auch noch aus, fiel in den Matsch und verschmutzte sich und seine Kleidung von Kopf bis Fuß. Es bestand nicht mehr der geringste Zweifel: Er saß auf der Hochebene fest und konnte nicht einmal telefonieren. Es wurde Zeit, einen Weg ausfindig zu machen, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen – und zwar unverzüglich.
Aber wie? Notfalls blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen.
Nur wohin? Wo fing in dieser gottverlassenen Gegend wieder geregeltes Leben an? Wo waren Behörden zu finden, die sich der fragwürdigen Ereignisse annahmen , die dort oben im Dorf vor sich gingen?
Er stiefelte wieder zurück zu seinem Wagen und stieg ein. Beim Wenden auf dem schmalen Weg geriet er vom befestigten Untergrund ab und blieb stecken. Selbst sein Allradgetriebe versagte den Dienst. Mist! Jetzt ließ ihn auch noch sein Auto im Stich! Laut fluchend versuchte Pascal, es freizubekommen, doch ohne fremde Hilfe war ein solches Unterfangen sinnlos.
Gift und Galle speiend, begab er sich zu Fuß auf den Rückweg. Der Regen prasselte so stark, dass er kaum etwas durch seine Brille erkennen konnte. Irgendwie kam es ihm vor, als ob feindselige Schemen ihn am Rande des Weges begleiteten. Er glaubte gar, Stimmen zu vernehmen, die ihn verhöhnten, ihn auslachten. In der Ferne hörte er Hunde jaulen, oder konnten das sogar Wölfe sein?
Plötzlich vermeinte er, einen Schatten vor ihm eilig die Straße überqueren zu sehen.
„Hallo, ist da jemand?“, rief er in den Regen und horchte. Er erhielt keine Antwort, trat aber in diesem Moment auf etwas Weiches. Er bückte sich um nachzusehen. Auf der Straße lag ein blutiges, behaartes Bündel: ein toter Hund.
Er erinnerte sich, auf der Hinfahrt ein dumpfes Geräusch vernommen zu haben, ohne ihm jedoch Beachtung beigemessen zu haben. Hatte er vielleicht das Tier überfahren, das bei dem Regen nicht zu sehen gewesen war? Die tödlichen Verletzungen des Hundes schienen jedenfalls noch ziemlich frisch zu sein und auf einen Unfall hinzudeuten.
Die Umgebung war so unwirklich, so unheimlich, dass er sich nicht für die Angst schämte, die ihm inzwischen sogar vorgaukelte, in Lebensgefahr zu schweben. Was war hier los? Eine Frage, auf die er gerne zumindest die Andeutung einer Antwort gefunden hätte, um sich ihr stellen zu können.
Lieber heute als morgen wollte er weg von hier, aber nicht ohne Leonie. Er war zwar verärgert darüber, dass sie ihnen dieses Dilemma eingebrockt hatte, doch eine Abreise ohne sie überstieg seine Vorstellungskraft. Nur allzu gerne hätte er den Grund gewusst, der sie hierher getrieben hatte, jetzt erst recht – in ein Dorf, das scheinbar nicht einmal einen Namen trug. Auch der schien in Vergessenheit geraten zu sein. Nirgendwo hatte er bisher einen Hinweis auf den Ortsnamen entdeckt. Irgendetwas, irgendjemand musste Leonie in diese urzeitliche Bergwelt angelockt haben, die ein Eigenleben führte, das keinen normalen Gesetzmäßigkeiten unterlag.
Endlich erreichte er das Hotel wieder, bis auf die Haut durchnässt, zudem total verdreckt. Noch immer hoffte er auf ein Wunder, hoffte mit ganzem Herzen, Leonie wieder in seine Arme schließen zu können. Doch einmal mehr wurde er bitter enttäuscht.
Nüchtern betrachtet, hatte er nichts anderes erwartet, aber die Sorge um seine Frau wuchs mit jeder Stunde. Wie sollte sich seine verträumte Leonie dort draußen bei so einem Unwetter selbst helfen? Womöglich lag sie mit gebrochenem Bein am Rande eines Abhangs, während er hier mit Sophie durch ein Geisterdorf streifte, sich von einem verlogenen Bürgermeister Unsinn erzählen ließ, mit mysteriösen alten Frauen sprach, die sich in Luft auflösten, oder ärmliche Gestalten befragte, denen die Angst vor etwas Unbekanntem die Sprache raubte. Ganz zu schweigen davon, dass er sich der lüsternen Avancen einer zügellosen Hausangestellten erwehren musste.
Ihm dröhnte der Kopf. Er wusste nicht mehr, was er von alldem halten sollte. Sein Hirn verweigerte ihm die Gefolgschaft, hinderte ihn, klare Gedanken zu fassen. Mit jeder Faser seines Körpers spürte er die unsichtbare Bedrohung, gegen die er nicht ankämpfen konnte, da sie sich nicht greifen ließ.
Natürlich konnte Leonies Verschwinden eine natürliche, wenngleich entsetzliche Erklärung wie einen Unfall haben, aber irgendetwas sagte ihm, dass dem nicht so war.
Als er den Berghof betrat, verdreckt und nass, wie er war, lief ihm Ines über den Weg. Dieses Mal war sie züchtig bekleidet mit Rock und weißer Bluse, die sogar sittsam zugeknöpft war.
„Ines, mir ist etwas Dummes passiert“, wandte er sich verlegen an sie.
„Ach ja?“ Grinsend musterte sie ihn von oben bis unten. „Das ist kaum zu übersehen. Haben Sie voll bekleidet eine Fangopackung bekommen?“
„Ich erinnere mich schwach, dass Sie mir angeboten hatten, für mich da zu sein, meine Wünsche im Rahmen Ihrer Möglichkeiten zu erfüllen.“
„Nun ja“, schäkerte sie, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen, „dann lassen Sie mal hören, ob Ihr Wunsch in den Rahmen meiner Möglichkeiten gehört.“
„Mein Wagen steckt im Schlamm am Beginn der Baustelle, wo die Straße abgesperrt ist. Er muss herausgezogen werden.“
„Sofort? Sollen wir beide das jetzt in Angriff nehmen? Sie sind ja schon zweckmäßig dafür gekleidet, wie ich sehe. Aber ich hatte eher gedacht, ich sollte Sie vielleicht ein wenig … baden?“
Bei diesen Worten zeigte sie wieder ihren betörenden Augenaufschlag, dem vermutlich kein Mann lange standhalten konnte. Ihn allerdings berührte er in dieser Situation peinlich und ließ ihn erröten.
„Ich denke, Sie finden sicher eine Möglichkeit, dass jemand mir den Wagen wieder flottmacht. Es muss ja nicht sofort sein bei diesem Wetter. Mir persönlich reicht es für heute, wie Sie sich denken können.“
„Schade“, sagte sie, „wirklich schade. Ich wäre gerne einmal mit Ihnen im Schlamm …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, fügte dann aber ernster hinzu: „Machen Sie sich keine Sorgen und geben Sie mir den Schlüssel. Morgen steht er wieder vor dem Hotel.“ Sie zögerte einen Moment. „Und legen Sie Ihre dreckigen Sachen ins Bad, ich kümmere mich darum.“
Pascal wurde zwar das Gefühl nicht los, als könne er ihr nicht trauen, aber sie war die Einzige, die ihm Hilfe beschaffen konnte, nur das zählte im Moment.
„Vielen Dank im Voraus“, sagte er kurz angebunden. „Sollten Kosten entstehen, werde ich selbstverständlich dafür aufkommen.“
„Wo wollten Sie denn hin, bei diesem Wetter, falls ich das fragen darf?“ Neugierig hatte Ines den Kopf schief gelegt und sah ihn aufmerksam an.
Pascal antwortete nicht sofort. Er überlegte, dass es vielleicht nicht schaden könne, ein wenig Druck auszuüben, denn er war überzeugt, dass sich alles, was er äußerte, im Dorf bei den interessierten Stellen schnell verbreitete.
Daher sagte er: „Ich wollte ins Tal, in die nächstgelegene Stadt, um dort bei den Behörden vorstellig zu werden.“
„So, so“, entgegnete Ines und ließ ihn stehen. Von der Türschwelle zur Gaststube rief sie ihm zu: „Morgen früh steht der Wagen vor der Tür, Monsieur. Versprochen.“
Sophie schien noch immer auf ihrem Zimmer zu sein. Also stieg auch er nach oben, um sich erst einmal trockene Kleidung anziehen. Es fehlte noch, dass er sich eine Erkältung zuzog, die ihn bei seiner Suche behinderte.
Von Sophie fand er unter der Zimmertür eine Nachricht vor. Sie bat ihn, sich zu melden, sobald er zurück sei. Zu ihrem Bedauern hätte sie den Termin verschlafen. Nachdem sie aufgewacht war, hätte sie nach ihm Ausschau gehalten und festgestellt, dass er augenscheinlich mit dem Wagen davonfahren wäre. Sie mache sich Sorgen.
Pascal stieg unter die Dusche und ließ sich von dem warmen Wasserstrahl eine Zeit lang berieseln, bis er das Gefühl gewann, dass sein Körper sich wieder auf normale Temperatur erwärmt hatte. Er trocknete sich ab, zog eine bequeme Hose und einen Pullover an.
Draußen regnete es immer noch in Strömen. Ein leichtes Hungergefühl machte ihn darauf aufmerksam, dass er den ganzen Tag so gut wie noch nichts gegessen hatte. Er verließ sein Zimmer und klopfte nebenan an Sophies Tür.
„Wer ist da?“, hörte er ihre Stimme.
„Ich bin’s, Pascal.“
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Sophie öffnete die Tür einen Spalt, überzeugte sich, dass er es war, der davor stand, ließ ihn eintreten. Er sah sich flüchtig um. Das Zimmer war aufgeräumt. Über einem Stuhl hing das Wollkleid, das sie morgens getragen hatte, auf dem Bett lag ihr zusammengefalteter Schlafanzug.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie. Ihre Augen konnten Furcht und Anspannung kaum verbergen. Der kurze Schlaf hatte beides nicht verscheuchen können.
Pascal berichtete, was er in der Zwischenzeit unternommen hatte, hielt aber seine Befürchtungen zurück, völlig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Sophie spürte, dass er ihr etwas vorenthielt. Sie begann zu weinen.
Er nahm sie in den Arm und fragte: „Haben Sie nicht auch ein wenig Hunger? Darf ich Sie einladen?“
Sophie schniefte, entschuldigte sich dafür und nahm dankbar die Einladung an. Zusammen gingen sie hinunter in die Stube, in der sich inzwischen trotz des schlechten Wetters ein paar Gäste eingefunden hatten. Offensichtlich allesamt Männer aus dem Dorf.
Pascal und Sophie nahmen an einem freien Tisch Platz und bestellten bei einem jungen Mann, den sie noch nicht kannten, eine Vesperplatte für zwei Personen nebst einer Flasche Landwein.
„Bis das Essen kommt, können wir die Gäste befragen“, schlug Pascal vor und ging mit den Fotos von Leonie und Yves von Tisch zu Tisch: „Haben Sie diese Personen irgendwo gesehen?“
Alle Befragten reagierten wenig zugänglich, geradezu abweisend. Einige schauten sich nicht einmal die vorgelegten Fotos an. Beobachtet hatte angeblich niemand etwas. Ein jeder wies darauf hin, falls überhaupt eine Antwort außer einem Schulterzucken erteilt wurde, dass er anderes zu tun hätte, als hinter Touristen her zu spionieren. Ein alter Mann mit einem braun gebrannten Gesicht, dessen Haut von tiefen Furchen durchzogen war, nuschelte: „Wir haben keine Zeit, auf Touristen achtzugeben. Wir müssen auf unseren kargen Feldern mehr als hart arbeiten, um ein dürftiges Dasein fristen zu können.“
„Sind Sie nicht vom Bürgermeister aufgefordert worden, nach den Vermissten Ausschau zu halten bei ihrer mehr als harten Arbeit?“, hakte Pascal direkt nach.
„Ach, der Bürgermeister …“, lautete die hintergründige Antwort des Mannes, der sich daraufhin feindselig von ihm abwandte und den Rest des Satzes verschluckte.
Es war nicht zu übersehen, dass niemand ihnen helfen würde. Im Gegenteil, sie schienen etwas verbergen zu wollen, das wurde für Pascal immer offensichtlicher. Aber was? Wo war jemand anzutreffen, der bereit war, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, ihnen dienliche Hinweise zu geben?
In diesem Moment brachte ihnen der junge Mann das Essen auf einem hölzernen Brett. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Fotos in Pascals Hand und schüttelte wortlos den Kopf. In seinen Augen flackerte aber für einen Wimpernschlag lang etwas wie Angst auf, was Pascal alarmierte. Die Panik im Blick des Jungen war zwar nur kurz, aber unübersehbar gewesen. Die Art, wie er schnell den Tisch verließ, erinnerte Pascal an Flucht.
„Den knöpfe ich mir gleich noch einmal unter vier Augen vor“, murmelte er. „Haben Sie mitbekommen, wie seine Augen flatterten?“, fragte er Sophie.
Sie nickte.
„Wir müssen das Schweigen der Dörfler brechen.“ Pascal beugte sich zu ihr hinüber, seine leise Stimme klang eindringlich. „Wir müssen undichte Stellen ausfindig machen, mehr Druck ausüben. Es kann doch nicht angehen, dass es niemanden hier geben soll, der willens ist, zu reden. Ich kann mir keine Gemeinschaft vorstellen, die nicht wenigstens ein schwaches Glied in ihrer Kette aufweist. Vielleicht ist diese Alte ein solches Glied.“
Er griff nach der Weinflasche und schenkte ihnen ein. Von der Vesperplatte nahm er sich eine Scheibe Brot und belegte sie mit deftiger Wurst. Es half alles nichts, er musste etwas essen.
„Ich hoffe nur, dass man uns nicht mit Gewalt an unseren Nachforschungen hindern wird“, sagte er, als er den Mund wieder frei hatte. „Inzwischen halte ich nichts mehr für unmöglich in dieser gottverlassenen Welt, die offensichtlich nur nach eigenen Gesetzen lebt.“
Pascal schüttelte den Kopf. Er ballte die Hände zu Fäusten, musste verhindern, dass Sophie mitbekam, wie sehr seine Sorgen inzwischen angewachsen waren.
Draußen brach die Nacht an, Leonie war alleine in den Bergen – oder vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hielt etwas sie mit Gewalt zurück, da war er sich inzwischen absolut sicher. „Heute können wir nicht mehr viel unternehmen, denke ich. Es beginnt schon zu dunkeln. Vielleicht finden sich die beiden ja doch noch wieder ein. Wir sollten positiv denken, die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn nicht, werden wir morgen in die Berge fahren und nach ihnen suchen, falls mein Wagen bis dann wieder verfügbar ist. Ich gehe davon aus, dass sie von dem schlechten Wetter überrascht worden sind. Leonie zumindest.“
Sie leerten nach ihrem Essen eine weitere Flasche Wein und warteten auf neue Gäste, um sie zu befragen. Die wenigen Neuankömmlinge antworteten jedoch ebenso unbestimmt wie alle Befragten zuvor.
„So kommen wir nicht weiter“, erkannte Pascal schließlich verärgert. „Lassen Sie uns nach oben gehen, ich kann dieses Volk nicht mehr sehen. Ich muss hier raus, sonst vergesse ich noch meine gute Kinderstube.“
Sophie hatte nur sehr wenig gegessen, was er verstehen konnte. Es hatte gut geschmeckt, aber die Sorge um ihre Lebenspartner hatte auch ihn nur das Nötigste zu sich nehmen lassen. Er ließ ihren Verzehr auf das Konto seines Zimmers schreiben, gab bewusst kein Trinkgeld, womit er gewöhnlich recht großzügig war. Sie verließen die Gaststube.
Es regnete noch immer. Sie verwarfen ihr ursprüngliches Vorhaben, sich noch ein wenig im Dorf umzuschauen. Als sie am Empfang vorbeikamen, trat Bruckner gerade aus der Bürotür.
Pascal blieb stehen und sprach ihn an: „Herr Bruckner, uns ist heute im Dorf eine alte Frau begegnet, mit der wir uns unterhalten haben. Eine Frage ist indes noch offen geblieben. Daher wüssten wir gerne, wo sie wohnt. Können Sie uns vielleicht sagen, wer sie ist, wenn ich sie Ihnen beschreibe?“
„Hm“, brummte der Wirt, unfreundlich wie immer. „Ich kann es versuchen.“
Pascal beschrieb das Aussehen der Alten.
Eine Weile herrschte Schweigen, während der Wirt den Eindruck erweckte, nachzudenken. Schließlich räusperte er sich ausgiebig und mutmaßte: „Ihrer Beschreibung nach zu urteilen, kann es sich nur um die alte Zigeunerin Romana, die Kräuterhexe, handeln, aber ich …“
„Aber?“, hakten Sophie und Pascal wie aus einem Munde nach.
„Ich dachte …“
„Sie dachten …?“
„Ich dachte, sie lebt nicht mehr. Seit Ewigkeiten habe ich sie, und das können Sie mir glauben, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mich interessieren andere Leute nicht. Eine Zeit lang galt sie, so wurde jedenfalls hier im Tal verbreitet, als die älteste Frau der Welt. Man sprach davon, sie sei mindestens 150 Jahre alt, wenn nicht noch älter, was natürlich purer Unsinn ist. Sie selbst konnte keine Auskunft darüber geben, denn sie hatte schon längst vergessen, wann sie geboren worden war, behauptete sie zumindest. Immer wieder tauchte sie auf und verschwand ebenso plötzlich wieder. Wo sie wohnte, wusste niemand so genau. Allerdings hatte sie sich eine Weile in der verkommenen Kate hinter dem Berghof einquartiert. Wenn Sie mehr über sie erfahren wollen, sollten Sie Ines fragen.“
„Ines? Was hat Ines mit der Alten zu schaffen?“
„Ines ist ihre Tochter!“
„Das kann doch wohl kaum stimmen!“, stutzte Sophie. „Selbst wenn die Alte nur halb so alt ist, wie sie aussieht, kann Ines nicht ihre Tochter sein. Dann wäre sie in der Lage, alle Regeln der Natur außer Kraft zu setzen!“
„Glauben Sie doch, was Sie wollen!“, grantelte Bruckner und wandte sich grußlos von ihnen ab.
„Glauben Sie ihm?“, fragte Sophie. Ihre Verwirrung war nicht zu übersehen.
„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Sophie, wir befinden uns hier in einem Mikrokosmos, wie er sich nur in der vollkommenen Isolation hinter diesen hohen Bergmauern ausbilden konnte, eine Welt, die Fremden jeglichen Zugang verwehrt“, erklärte Pascal. „Vielleicht ist diese Romana doch nicht so alt, wie sie uns vorgekommen ist. Vielleicht ist Ines auch nur eine Ziehtochter von ihr. Gesetzt den Fall, sie hat wirklich etwas mit ihr zu tun, so besteht zumindest die vage Aussicht, mehr zu erfahren. Das will ich zumindest hoffen. Ines erweckt den Eindruck, über alles gut informiert zu sein. Und ich wette, dass sie bei dem Spiel, das hier abläuft, mitspielt.“
Sophie hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie nickte. „Wenn ich mir diese unverschämte Person genauer betrachte, hat sie unbestreitbar etwas an sich, das an Zigeuner erinnert, was ich übrigens jetzt bitte völlig wertfrei gedeutet haben möchte. Ich spreche nur von ihrem Aussehen und sage das ohne jedes Vorurteil. Im Gegenteil, ich liebe deren Musik über alles. Doch nehmen Sie sich vor Ines in Acht, Pascal! Sie ist gefährlich! Sie gehört zu den Frauen, denen ein Mann schneller verfällt, als er sich vorstellen kann, glauben Sie mir. Ich habe meine Erfahrungen.“
Sophie starrte gedankenverloren aus einem der Fenster in die dunkle Nacht und schien keine Antwort von ihm zu erwarten. Also schwieg Pascal ebenfalls. Als sie schließlich fragte: „Erinnert sie Sie nicht auch an die Carmen in der Oper von Bizet?“, gewann er das unbestimmte Gefühl, dass bei Sophies Warnungen vor den Verführungskünsten von Ines nicht nur Fürsorge, sondern auch eine gehörige Portion Eifersucht mit im Spiel sein könnte.
An der Rezeption lief ihnen der junge Kellner über den Weg, der sie bedient hatte. Pascal knöpfte ihn sich ohne jedes Geplänkel vor, packte ihn bei den Schultern und drückte ihn mit Gewalt gegen die Wand.
„Was wollten Sie uns nicht sagen?“, fuhr er ihn an und drückte fester.
„Ich kann Ihnen nichts sagen, ich weiß nichts“, jammerte der junge Mann und wich Pascals Blick aus.
„Pascal, bitte“, mischte Sophie sich ein und zog ihn weg.
„Wir sprechen uns noch!“, drohte Pascal. „Dann werde ich weniger freundlich sein, das dürfen Sie mir glauben!“
Sie ließen den erschrockenen Angestellten stehen und gingen hoch auf ihre Zimmer, Pascal mit geschwollener Zornesader auf der Stirn.
„Der Junge ist nicht unser Problem, Pascal, das sind andere hier. Ich hoffe, heute Nacht endlich wieder ein paar Stunden Schlaf zu finden, denn ich bin körperlich restlos am Ende. Um nachzuhelfen, werde ich zwei Schlaftabletten nehmen, jetzt, da ich weiß, dass ein Schutzengel im Zimmer nebenan wohnt.“
Mit einem Lächeln umarmte sie ihn, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und öffnete ihre Tür.
„Ich halte meine Tür unverschlossen, Sophie, für alle Fälle“, versprach Pascal.
Ihm war es recht, dass Sophie früh schlafen ging. So konnte er sich ungestört noch ein wenig im Haus umsehen, vielleicht sogar Ines finden und sie in ein Gespräch verwickeln, ohne Sophies Missbilligung hervorzurufen.
Er ging auf sein Zimmer und stutzte. Seine Kleidung lag bereits, wie er überrascht feststellte, ordentlich zusammengefaltet und sauber auf seinem Bett. Pascal ließ sich in einen Sessel fallen, wo die Bilder seines nächtlichen Albtraums sofort wieder auflebten. Was hatte das alles zu bedeuten? Wofür standen die Uniformierten und die furchteinflößenden Hahnenköpfe? Waren Träume vielleicht doch in der Lage, Botschaften zu übermitteln? Leonie hätte eine solche Frage sofort bejaht, er aber hatte sich nie mit derartigen Gedanken anfreunden können. Vielleicht wurde es Zeit, dass er versuchte, sich in sie etwas mehr hineinzudenken. Er fühlte sich hilflos wie noch nie zuvor in seinem Leben. Beruflich stand er seinen Mann, wusste Rat in jeder Situation. Was aber hier geschah, ließ ihn völlig machtlos erscheinen und zeigte ihm Grenzen auf, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben zu überwinden hatte. Fragen über Fragen türmten sich wie Gebirge vor ihm auf, deren Antworten im Dunkeln lagen.
Er stand auf, ging unruhig im Zimmer auf und ab und schaute aus dem Fenster in die Nacht.
Es regnete noch immer, jedoch weniger stark als am Nachmittag. Ob ich’s noch einmal bei der Gendarmerie versuche?, überlegte er, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Er setzte sich und goss sich ein Glas von dem Wein ein, den er mit aufs Zimmer genommen hatte.
Was kann ich nur tun? Diese Frage machte ihm zu schaffen, ließ ihn nicht mehr los. Doch die häufig gepriesene göttliche Erleuchtung wollte sich nicht einstellen, wahrscheinlich als Strafe für seine mangelnde Frömmigkeit. Leonie war dort draußen alleine in der Nacht. Oder auch nicht. Ganz sicher aber steckte sie in einer Notlage, das spürte er mit aller Macht. Hatte seine Frau vielleicht doch recht? Gab es wirklich diese verrückten Dinge, die sie mit ihren Freunden diskutierte, wenn sie sich in ihren absurden, versponnenen Zirkeln trafen? Gab es etwas zwischen Himmel und Erde, das Leonie immer schon gesehen hatte, das er nun zu erahnen begann? War er vielleicht so entsetzlich voller Unruhe, weil seine Frau dort draußen verzweifelt in Gedanken nach ihm rief?
Pascal tigerte die halbe Nacht vor seinem Fenster auf und ab und versuchte zu begreifen, was hier vorging.
Als er sich schließlich irgendwann erschöpft aufs Bett sinken ließ, fielen ihm die Augen zu. Er konnte es nicht verhindern. Seine wirren Träume ließen keinen Schlaf zu, jedenfalls keinen, der ihm gewöhnlich vergönnt war.