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Kapitel 4

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Schweißgebadet fuhr Pascal am nächsten Morgen aus dem Schlaf hoch.

Ein feindseliger Albtraum war in die Tiefen seines Unterbewusstseins gedrungen. Uniformierte mit Hahnenköpfen, bis an die Zähne bewaffnet, hatten ihn heimgesucht und ihm zugesetzt, ihm, dem glühenden Pazifisten, dem jede Uniform zuwider war. Noch völlig im Bann der nächtlichen Schimären, reckte er sich, versuchte, die Bilder abzuschütteln und sich zu orientieren. Er tappte nach seiner Brille, ohne die er sich nur schlecht zurechtfand, besonders morgens, wenn sich sein Blutdruck noch im Standby-Modus der Nacht befand, erst hochgefahren werden musste. Seine verschleierten Augen zeigten ihm an, dass er sich in einem Hotelzimmer befand.

Nur langsam kehrten seine Erinnerungen zurück: der Opernabend, die schreckliche Fahrt hinauf in dieses Hochland am Ende der Welt, die bedrückende Bergwelt ringsum, der gestrige Abend, den er in Rotwein hatte ertränken wollen, die stürmische, leidenschaftliche Nacht.

War es wirklich so gewesen oder hatte er all das nur geträumt? Allmählich lichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Verdammt, was hatte Leonie sich nur dabei gedacht, ein Hotel in diesem gottverlassenen Kaff zu buchen? Er nahm sich vor, sie zu überreden, ein anderes Ziel anzusteuern, das ihm mehr zusagen würde. Das Thema ließ sich vielleicht beim Frühstück besprechen.

Auf den ersten Blick bestand das Dorf, so hatte er bei der Ankunft und dem Spaziergang festgestellt, aus nicht einmal fünfzig Gebäuden, die zum Teil auf den Hängen wie Farbkleckse verteilt waren. Immerhin befanden sich darunter ein Kaufladen, der alle wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens feilbot, eine Kirche mitsamt einem Friedhof und eine Gendarmeriestation. Von Kultur keine Spur. Das Hotel passte indes kaum zu den vergleichsweise ärmlichen Gebäuden des Ortes. Es erweckte den Eindruck biederer Wohlhabenheit.

Wann waren sie zu Hause losgefahren? Sollte das wirklich erst vorgestern gewesen sein? Unterwegs hatte Leonie sich hinter die Mauer einer Migräne zurückgezogen. Warum? Hatten ihre mystischen Extreme wieder von ihr Besitz genommen? Mit dieser, er nannte sie, Sucht hatte er sich noch nie anfreunden können, sie jedoch aus Liebe zu ihr geduldet. Manchmal war sie ziemlich überspannt, wenngleich ihre Auftritte, wie gestern Nacht, ihn immer wieder zu fesseln vermochten. Pascal war eher von bodenständiger Natur, ein Stiergeborener, Leonie eine Träumerin. Ihre Traumwelt hielt sie in der Regel verschlossen, selbst ihm gegenüber. Gestern hatte sie eine der seltenen Ausnahmen gemacht, ihm die Tür ein Stückchen weit geöffnet in die Welt, in die sie immer wieder abtauchte.

Sei vernünftig!, mahnte er sich. Es war wunderbar in der vergangenen Nacht. Gib jetzt Ruhe und mach nicht alles kaputt mit deinem ewigen kritischen Hinterfragen! Schlaftrunken tastete er mit seiner Hand hinüber in das Bett zu seiner Rechten und griff unter die Decke. Zu seiner Überraschung fand er keine Bettwärme vor. So sehr seine Hand auch suchte, sie stieß nur auf weiches Daunenbettzeug. Von Leonie keine Spur.

Verwirrt reckte er sich ausgiebig. Seine steifen Gelenke knackten hörbar. Schließlich quälte er sich aus dem Bett. Er ging zum Fenster und öffnete es weit, um der frischen Morgenluft Einlass zu gewähren – ins Zimmer und in seine Lungen. Hinter der gegenüberliegenden Bergkette stieg eine fahle Morgensonne empor und verbreitete ein trübes Licht, das dennoch in seinen Augen schmerzte. Wie viel Wein hatte er getrunken?

Verschwommen erblickte er auf einer nahen Weide eine Herde Kühe, die wiederkäuend vor sich hin dösten. Einige schauten neugierig zu ihm empor, als sei er ein exotisches Wesen, dessen Anwesenheit ihren langweiligen Alltag bereicherte. Schienen sie den Anblick von Touristen etwa gar nicht gewohnt zu sein? Pascal schüttelte sich. Er wandte sich um, sah die Tür zum Bad angelehnt und rief fragend: „Leonie?“

Keine Antwort. Noch einmal rief er, dieses Mal etwas lauter. Erneut keine Antwort. Er schlurfte zum Bad hinüber und stieß die Tür auf. Nichts von Leonie zu sehen! Als er verwundert im Begriff war, das Bad zu verlassen, fiel ihm eine offensichtlich hastig geschriebene Notiz in der Handschrift seiner Frau ins Auge:

Ich konnte nicht mehr schlafen und mache einen Morgenspaziergang, um den Sonnenaufgang in den Bergen zu bewundern. Bis später, mein Prinz. Tut mir leid wegen gestern Abend, ich meine unseren Streit. Unsere Versöhnung hat mir aber sehr gefallen. Du warst klasse! Den Wein solltest Du von nun an immer dabei trinken. Kuss, L.

„Unser Urlaub fängt ja gut an!“, brummte Pascal. „Schon das erste gemeinsame Frühstück fällt aus, denn warten werde ich nicht. Mein Magen verlangt nach seinem Recht.“

Er bemerkte, dass Leonies sündhaft teures Seidennegligé, das sie in verführerischer Absicht erstanden hatte, um seine Begierde zu wecken, auf dem Rand der Badewanne lag. Ihr Jogginganzug fehlte dagegen.

Pascal nahm ein ausgiebiges Duschbad, putzte sich die Zähne, rasierte sich, zog Jeans an, streifte einen leichten Pullover über und stieg die Treppe hinunter. Er versuchte, Leonie per Handy zu erreichen, erhielt jedoch keine Netzverbindung. Kann wohl vorkommen, erahnte er die schwierige Empfangssituation im Gebirge.

Hinter der Theke des Empfangs saß, in Papieren blätternd, der Wirt, den ein kleines Holzschild als Lorenz Bruckner auswies. Aus trüben Augen blickte er Pascal entgegen, als er die Treppe herunterkam.

„Guten Morgen“, grüßte Pascal höflich.

„Grüß Gott“, erwiderte der Wirt knurrend. Er hatte offensichtlich eine lange Nacht hinter sich, von der eine unangenehme Alkoholfahne verblieben war.

„Haben Sie zufällig meine Frau gesehen?“

„Nein, ich bin gerade erst gekommen“, brummte Bruckner. Er machte nicht den Eindruck, den Wünschen seiner Gäste das geringste Interesse entgegenzubringen.

Wie Pascal erst jetzt bemerkte, zog dieses vierschrötige Mannsbild ein Bein nach, als Bruckner sich von seinem Stuhl erhob, um in einem Regal etwas zu suchen.

Pascal schaute sich um, entdeckte ein hölzernes Türschild mit der Aufschrift Frühstücksraum und betrat ihn in der Erwartung, hier vielleicht auf andere Hotelgäste zu treffen. Zu seiner Überraschung saß lediglich eine einzelne Person an einem der zehn Tische. Eine Frau mit dunklen Haaren, die bis hinunter auf ihren Rücken fielen, etwas jünger als er. Sie trug ein schlichtes graues Wollkleid, das nicht so recht in das bergländische Ambiente passte.

Pascal setzte sich an den Nebentisch und wünschte einen guten Morgen. Erst in diesem Moment nahm er das völlig verweinte Gesicht der Frau wahr, aus dem ihn schattendunkel geränderte Augen anblickten. Seine Neugier erwachte.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er und fügte hinzu: „Oh, darf ich mich erst einmal vorstellen? Pascal Lambert. Ich bin gestern aus Westdeutschland angekommen. Sind wir etwa die einzigen Gäste hier? Merkwürdig. Wie findet ein Tourist dieses Nest überhaupt? Meine Frau hat uns hierher gelotst, aber ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat.“

Pascal erschrak über seinen Redeschwall. Während er noch sprach, stieß die Frau einen Schluchzer aus, ein Zittern durchlief ihren Körper. Er reichte ihr ein Taschentuch, das noch unbenutzt in seiner Hosentasche steckte. Dankbar nahm sie es mit dem Versuch eines gequälten Lächelns entgegen.

„Merci“, schluchzte sie. „Moi, je suis … Pardon. Ich heiße Sophie Dumont. Ich bin aus Belgien, genauer gesagt aus Wallonien. Sie wissen, dass uns in Belgien unsere Herkunft wichtig ist, obwohl ich persönlich tolerant damit umgehe.“

In diesem Moment erschien durch die Tür am anderen Ende des Frühstücksraums eine weibliche Bedienung in einem Dirndlkleid mit einem unübersehbaren Dekolleté, aus dem ihre Brustansätze hervorquollen. Sie kam auf Pascals Tisch zu, beugte sich zu ihm hinunter und vergönnte ihm, offensichtlich nicht ohne Absicht, einen Blick auf ihre Rundungen. In einer anderen Situation wäre ihm schwindelig geworden. Keck fragte sie nach seinen Wünschen.

Pascal erkundigte sich, ob sie seine Frau gesehen hätte, was sie verneinte. Er bestellte erst einmal ein Kännchen Kaffee und ein Croissant.

Sophie Dumont hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt, zog unüberhörbar ihre Nase hoch und überraschte ihn mit der Frage: „Ihre Frau ist nicht da? Sie wissen nicht, wo sie ist?“

„Sie hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass sie den Sonnenaufgang in den Bergen beobachten wollte. Warum fragen Sie?“

„Vor drei Tagen ist mein Verlobter Yves frühmorgens aufgebrochen, um den Sonnenaufgang in der Bergwelt zu fotografieren. Er war es, der hier Urlaub machen wollte, in unberührter Natur. Sie müssen wissen, er ist von Beruf Landschaftsfotograf. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht. Niemand im Dorf will ihn gesehen haben. Am Abend zuvor hatte er mir erzählt, etwas Merkwürdiges entdeckt zu haben, aber irgendwie sind wir vom Thema abgekommen, sodass ich nicht erfahren habe, welcher Art diese Entdeckung gewesen sein könnte. Ich war schon bei der Gendarmerie. Angeblich wird nach ihm gesucht, wovon ich allerdings bisher nichts bemerkt habe und was ich auch inzwischen bezweifle. Gleich habe ich einen Termin beim Bürgermeister. Ich will mich beschweren, weil immer noch keine Anhaltspunkte vorliegen und mich das mehr als ungute Gefühl beschleicht, dass die Suche nach ihm ziemlich lasch gehandhabt wird. Der Wirt hier behauptet mit einem eigenartigen Nachdruck zwar das Gegenteil, fast so, als würde er dafür bezahlt. Diesem Herrn traue ich eh nicht über den Weg. Er sieht so … dämonisch, so verschlagen aus.“

Sie hielt inne.

Pascal schaute sie bestürzt an. „Glauben Sie, dass Ihrem Verlobten etwas zugestoßen sein könnte oder dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht?“

„Ich weiß es nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Die Menschen hier benehmen sich allesamt recht eigenartig. Sicherlich haben sie es nicht leicht in dieser Abgeschiedenheit. Wenn sie sich miteinander unterhalten, sprechen sie einen kaum verständlichen Dialekt. Sie lassen niemanden an sich heran. Ich gehe davon aus, nein, ich bin fest davon überzeugt, dass sie seit Menschengedenken der Inzucht frönen, wofür ich einige Anzeichen entdeckt habe.“

Sie legte eine kleine Pause ein, damit ihre Schilderung bei Pascal sacken konnte, bevor sie fortfuhr: „Wir sind gegenwärtig die einzigen Touristen hier im Berghof. Dennoch knarren nachts ständig die Dielenbretter, als ob ein Schwarm von Geistern sein Unwesen treibt. Aus der Gaststube sind auch immer Stimmen zu vernehmen, manchmal sogar Musik. Ich wollte schon einmal hinuntergehen und nachsehen, was da los ist, traute mich jedoch nicht, jedenfalls nicht allein. Wissen Sie, obwohl der Berghof Panoramablick heißt, nennen ihn die Menschen hier Höllenpforte, weil hier früher eine schwefelhaltige Quelle gewesen sein soll, die auch heute noch gelegentlich einen ekligen Gestank verbreitet, habe ich mir sagen lassen. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Hölle nicht weit sein kann, dass dieses Dorf tatsächlich zum Vorhof gehört.“

„Woher wissen Sie das alles?“

„Nun, ich versuche seit dem Verschwinden meines Verlobten natürlich, Informationen zu sammeln, was hier schwierig genug ist. Dass die Hölle in der Nähe zu sein scheint, sagt vielleicht mehr aus, als ich mir im Moment ausmalen möchte. Aber ich durchlebe sie gerade, das können Sie mir glauben. Wenn doch nur ein Menschen zu finden ist, mit dem ich offen reden könnte! Selbst der Pfarrer kommt mir nicht als Diener Gottes vor, jedenfalls nicht des Gottes, den unsere Kultur verehrt. Unter diesen Umständen habe ich zu ihm ebenso wenig Vertrauen wie zu allen anderen Menschen, denen ich bislang hier begegnet bin. Ich halte den Gedanken nicht für abwegig, dass die Anwohner dieses Dorfes den Teufel anbeten.“

Sie stockte. Offensichtlich hatte Pascal sich nicht so gut unter Kontrolle, wie er hoffte. Seinem Gesicht war die Skepsis anzusehen. Die Belgierin fuhr schließlich mit der Frage fort: „Welches Zimmer hat man Ihnen gegeben?“

„Wir sind in der 4.“

„Ich, das heißt wir sind daneben in 3. Die beiden Räume sollen die schönsten sein. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so völlig verlassen hier.“

Sophie schwieg, als sie bemerkte, dass die Bedienung mit dem Kaffee hereinkam.

„Ich bin übrigens die Ines, Monsieur“, stellte sie sich Pascal vor, beugte sich erneut langsam vor ihm hinunter und setzte vorsichtig das bestellte Frühstück ab. „Wann immer ich Ihnen zu Diensten sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Mir wurde die Aufgabe übertragen, mich um die Wünsche unserer Gäste zu kümmern und sie nach Möglichkeit zu erfüllen.“

Mit diesem Versprechen verschwand sie, aufreizend mit den Hüften kreisend, in Richtung Küche.

„Unverschämte Person!“, missbilligte Sophie Dumont entrüstet den Auftritt. „An Yves, meinen Verlobten, hat sie sich auch mehrmals so herangemacht, wie auch an die Besucher der Gaststube abends, die aber wahrscheinlich gerade ihretwegen kommen. Frauen gegenüber verhält sie sich nicht so ungeniert. Sie ist auch für die Zimmer zuständig. Ich habe selbst gesehen, wie sie sich, nur mit einem kurzen Kittel bekleidet, bückte und …“

„Bückte und …?“ Pascal zog die Augenbrauen hoch.

„Ach, lassen wir das.“ Sophie schüttelte den Kopf. „Darf ich eine Bitte an Sie richten? Falls Ihre Frau nicht gleich wieder auftaucht, würden Sie dann die Freundlichkeit besitzen, mich zum Bürgermeister zu begleiten? Ich denke, ein Gesprächszeuge könnte von Nutzen sein. Jedenfalls fühle ich mich dann bedeutend sicherer.“

„Mit Vergnügen, Frau Dumont, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen erweisen kann, obwohl wir von einem Vergnügen nicht unbedingt sprechen können, wie mir scheint.“ Pascal holte tief Luft. „Natürlich bin ich gerne bereit, Ihnen meine Begleitung anzubieten. Entschuldigen Sie mich, bitte, nur einen Moment. Ich werde kurz auf mein Zimmer gehen, um meiner Frau eine Nachricht zu hinterlassen, falls sie in der Zwischenzeit heimkehrt, was ich doch sehr hoffen will.“

„Machen Sie das, Herr Lambert. Ich warte draußen auf Sie.“

Gemeinsam verließen sie den Frühstücksraum. Sie bemerkten Ines’ Grinsen nicht, mit dem sie die beiden bedachte, auch nicht das gespenstische Funkeln in den Triefaugen des Wirts, als sie an der Rezeption vorbeigingen.

Pascal eilte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Im Zimmer schrieb er Leonie auf dem Notizblock eine Nachricht, in der er ihr mitteilte, er sei mit einem Gast beim Bürgermeister zur Klärung einer recht undurchsichtigen Angelegenheit. Schnellstmöglich käme er jedoch zurück. Sie möge inzwischen schon frühstücken.

Auf dem Gang kam ihm Ines entgegen, mit einem Eimer in der linken und einem Putztuch in der rechten Hand. Jetzt war sie mit einem Kittel bekleidet, dessen obere Knöpfe nicht geschlossen waren. Es bestand kein Zweifel, dass sie sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst war und verstand, die Reize ihres Körpers mit weiblicher List zur Geltung zu bringen.

Als er sich an ihr vorbeizuschlängeln versuchte, machte sie kaum Platz, sondern legte es offensichtlich geradezu auf eine Körperberührung an. Pascal fühlte sich irritiert, als er sich an ihr vorbeidrückte. Er entschuldigte sich, obwohl er keinen Grund dafür geliefert hatte. Ines funkelte ihn mit spielender Zunge zwischen ihren Lippen an, ohne auf seine Entschuldigung einzugehen.

Verlegen stürzte Pascal die Treppe hinunter. Er benötigte dringend frische Luft.

Finisterre

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